Aufruf an Living-History-Szene
Die Debatte nach einem Eklat bei einer Ausstellungseröffnung in Paderborn zieht weitere Kreise. Angharad Beyer und Andreas Sturm von “Rete Amicorum” initiierten im Juli 2008 die “Aachener Erklärung” von Akteuren der Living-History-Szene. Mit dieser Erklärung distanzieren sich die Unterzeichner von einem Missbrauch “lebendiger Geschichtsdarstellung”. Bis heute haben rund 30 Akteure und Gruppen die Erklärung unterzeichnet, darunter Darsteller verschiedener Epochen wie Antike, Frühmittelalter sowie Hoch- und Spätmittelalter. “Das Ziel der Aachener Erklärung ist es, die Living History für diese Gefahren zu sensibilisieren und ihre Glaubwürdigkeit gegenüber der Gesellschaft zu stärken”, heißt es unter anderem in der Erklärung.
Hintergrund: Im April zeigte ein Darsteller, der mit der bekannten Reenactment-Gruppe Ulfhednar im Rahmen einer merwoingerzeitlichen Ausstellung in Paderborn auftrat, einen SS-Slogan als Tätowierung – öffentlich vor Publikum. Der Vorfall mündete in heftige Diskussionen um mögliche nationalistische Tendenzen innerhalb der Living-History-Szene (chronico berichtete). “Bald kam deshalb in uns der Wunsch auf, ein deutliches Zeichen zu setzen für die Integrität der Mehrheit der deutschen Geschichtsdarsteller, damit Living History als Ganzes nicht durch Einzelne diskreditiert würde”, sagten die Initiatoren. Living History wird unter anderem in Museen immer häufiger eingesetzt. Wer die “Aachener Erklärung” unterzeichne, bekenne sich zu Darstellungen, die frei von religiösen oder weltanschaulichen Einflüssen vor allem bei öffentlichen Auftritten sind. Unterzeichner können sowohl den Link zur Aachener Erklärung als auch ein Logo auf ihre Webseite setzen.
Den Begriff “Living History” wollen die Initiatoren stellvertretend für verwandte Begriffe wie Lebendige Geschichte, Heritage Interpretation / Historische Interpretationen, Archäotechnik und Reenactment verstanden wissen. Der Aufruf richtet sich an Darsteller aller Epochen.
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28 Kommentar(e) zum Thema
1.
13. Jul 2008 | 18:38 UhrSteve Lenz
Aachen hat also eine Erklärung mehr…
Ist das der Ablaßbrief 2.0? Man unterschreibt und ist somit fortan frei von jeder Schuld?
Blinder Aktionismus. Schade um den Webspace.
2.
15. Jul 2008 | 11:27 UhrJens Börner
Was soll das bringen? Hat denselben Effekt wie eine Lichterkette, und als Nebeneffekt kann sich plötzlich jeder Unterzeichner “Living History” auf die Fahne schreiben. So wird ein Begriff auch verwaschen. Wer der Unterzeichner kann denn bitte wirklich von sich behaupten, nach dem verlinkten Papier zur wissenschaftlichen Praxis zu arbeiten, wer hat es überhaupt gelesen? “Ich bin gegen Rechts” ist eine modernes, typisch deutsches Reflexäusserung, um sich möglichst schnell aus der Schusslinie zu nehmen. Nur damit wird man der Problematik nicht gerecht, und diese hat auch nichts mit links oder rechts zu tun, sondern mit mangelnder Qualität und Kontrolle.
Eine “Aachener Erklärung” für den Wunsch nach einem-ebenfalls in der Diskussion stehenden- Kontrollsiegel in Zusammenarbeit mit der Fachwelt wäre sinnvoller.
3.
15. Jul 2008 | 15:35 UhrTobias Gabrys
Erstmal eine Entschuldigung in Richtung der Betreiber:
es ist kein Forum und doch wird hier gleich wieder fleißig diskutiert, ich belaße es aber bei einer Antwort auf die Kommentare.
1.Jens Börner: Ist dir bewußt, dass du mit dieser Herabwürdigung der Friedensbewegung in Dtl. wie auch allen anderen Bewegungen die Lichterketten als Symbol benutzten gerade eine schallende Ohrfeige verpaßt hast? Ich bitte dringend die Definitionen von Lichterketten, Botschaft und Symbol zu lesen, denn weder die Lichterketten noch die Aachener Erklärung werden korrekt aufgefasst.
Unter dieser Kritik wären Mahnmale, Denkmäler, Grabsteine usw. ebenfalls vollkommen unnütz, außer vielleicht für die Kunst oder die Archäologen kommender Zeiten.
2.Was denn nun, „Blinder Aktionismus“ oder „Lichterkette“ (also symbolische Botschaft)?
Aktionismus (übrigens ist das adjektiv blind dabei eine unnütze Übersteigerung, Aktionsimus ist per se „ohne Ziel“ und „ohne Konzept“) widerspricht dem Aufwand und dem Sinn einer Lichterkette völlig, denn diese haben ein Konzept und ein Ziel, wenn dieses wie gesagt auch nur das einer Botschaft ist, also keine greifbare Folge.
3.Weder ist die Aachener Erklärung ein staatliches Siegel im Sinne eines „Persilscheines“ noch möchte sie es sein noch formuliert sie es irgendwo. Diese Unterstellung ist nichts anderes als das.
4.Nirgendwo in der Aachener Erklärung findet sich eine Klausel „mit der Unterzeichnung dieser Erklärung wird der Unterzeichner zum Living History Darsteller“ noch wird dies impliziert.
5.Den Begriff Living History aufzuweichen wäre gleichzusetzen mit der Formulierung „Reenactment aufweichen“. Die Begriffe sind m.W. nicht geschützt und unterliegen keiner Prüfung. Gleiches gilt für „Mensch“ oder „Mitbürger“.
6.Die Erklärung richtet sich ausdrücklich nicht nur aber auch gegen rechts und ist kein Reflex der explizit rechten Thematik der jüngsten Vorfälle, sondern der Vorgänge im allgemeinen, wie man unter Hintergründe nachlesen kann.
7.Die Qualitätskontrolle ist in der Tat ein effektives Mittel das es auch in meinen Augen zu fördern gilt. Da es hier aber um wirkliche Resultate geht, um handfestes, muß hier Sorgfalt walten gelassen werden. Darum wird hier noch wenigstens einiges an Zeit vergehen, bevor etwas installiert werden kann.
Mit dem eingangs gebrachten Beispiel: Hätte man nicht die Lichterketten auf Bürgerinitiative gebildet wäre nach den Anschlägen auf Asylanten in den 90ern das Bild der Deutschen im Ausland durchaus noch um einiges schwerer beschädigt worden. Darum finde ich den Vergleich mit einer Lichterkette sehr passend oder besser noch schmeichelhaft, die Herabwürdigung dieser allerdings eine Frechheit.
So harte Kritik / teilweise persönliche Angriffe wie sie nicht nur hier sondern in einigen öffentlichen Bereichen an einer so guten Sache, einem so friedlichen und sinnvollen Unternehmen geliefert wird kann ich nicht nachvollziehen. Es gab sinnvolle Einwände, die sich um Mißverständnisse in der Formulierung beliefen, aber dergleichen…
Zudem schadet es weiter dem Bild des Darstellers, wenn er ließt, dass jemand die Werte der BRD und der Bildung nicht unterzeichnet, weil er die Initiatoren nicht mag oder einen ohnehin oft schwammig gebrauchten Begriff “aufgeweicht” sieht bzw. den Sinn von Lichterketten nicht versteht.
4.
15. Jul 2008 | 16:12 UhrJens Börner
Hallo Tobias,
Ja, dessen bin ich mir bewusst. Ich halte weder von dem einen noch dem anderen was, weil weder das eine noch das andere nachweisslich etwas bringt, ausser immensen Kerzenverbrauch…
Und nein, von Mahnmalen sprach ich nicht, ich bitte sorgsam zu lesen, und nichts hineinzuinterpretieren. Ein Mahnmal erinnert an Opfer, an Verfehlungen, an Menschen. Das mit dieser geschichte in Verbindung zu bringen, ist doch deutlich überzogen.
Zu Punkt 3:
De fakto gibt es keine Erkennbare Prüfung, ob hinter der “Unterzeichnung” mehr als nur eine bloße Absichtserklärung steckt. Insofern birgt es sehr wohl das Risiko eines “Persilscheines”. Von einem staatlichen Siegel war nie die Rede.
Was deinen Punkte 4 udn 5 angeht, beziehe ich mich direkt auf ein Zitat aus dem Artikel “Den Begriff “Living History” wollen die Initiatoren stellvertretend für verwandte Begriffe wie Lebendige Geschichte, Heritage Interpretation / Historische Interpretationen, Archäotechnik und Reenactment verstanden wissen”.
Das ist sehr allumfassend, und letztenendes erklärt jemand, der eine Erklärung der “Living History” Gruppen unterzeichnet damit, eine solche zu sein.
Dass der Begriff nicht geschützt ist, das ist vielleicht eben genau das Problem, hier verweise ich auf die Ursprünge der Geschichte, dass Dinge falsch interpretiert und angewandt wurden, und auf die aktuelle Diskussion zum “Gütesiegel”.
Zu 6: Das stimmt nicht. Die Erklärung ist direkte Antwort auf aktuelle Ereignisse. Was auch jeder der Teilnehmer der Paderborner Veranstaltung wissen dürfte.
zu 7:
Das ist wohl eine Glaubensfrage. Dass Du es eine Frechheit nennst, ist deine Meinung. Ich behalte mir meine genauso vor.
Gegen den letzten Absatz verwehre ich mich aber vehement und weise deutlich daraufhin, dass diese Art der Reaktion exakt die Gefahr ist, die von so etwas ausgeht: “bist du nicht für uns, bist du gegen uns”.
Eine etewas differenzierte Sichtweise täte Dir seht gut, und vielen weiteren auch, wenn sie sich mit der Sache befassen.
5.
15. Jul 2008 | 16:52 UhrTobias Gabrys
„Entgegen meiner Absichtserklärung sehe ich mich gezwungen doch zu Antworten. Sollte der Wunsch bestehen dies Fortzusetzen gibt es sicherlich geeignetere Plätze:
Ja, dessen bin ich mir bewusst. Ich halte weder von dem einen noch dem anderen was, weil weder das eine noch das andere nachweisslich etwas bringt, ausser immensen Kerzenverbrauch…
Und nein, von Mahnmalen sprach ich nicht, ich bitte sorgsam zu lesen, und nichts hineinzuinterpretieren. Ein Mahnmal erinnert an Opfer, an Verfehlungen, an Menschen. Das mit dieser geschichte in Verbindung zu bringen, ist doch deutlich überzogen.“
Über diese beiden Absätze würde ich noch einmal nachdenken.
Wenn jemand ein Mahnmal zur Erinnerung an die Opfer des Holocaust aufstellt oder jemand sich mit tausenden Anderen die Zeit und die Anreise nimmt um Still ein, zugegeben temporär eingeschränktes Zeichen zu setzen gegen die Mörder an Asylanten, so ist darin für mich absolut kein Unterschied, was auch der Grund für den bei mir zu findenden Absatz ist. Beides sind Zeichen und Mahnungen, Symbole und Botschaften eben. Das eine ist nur Material, das andere Handelnd.
„Zu Punkt 3:
De fakto gibt es keine Erkennbare Prüfung, ob hinter der “Unterzeichnung” mehr als nur eine bloße Absichtserklärung steckt. Insofern birgt es sehr wohl das Risiko eines “Persilscheines”. Von einem staatlichen Siegel war nie die Rede.“
Das es keine Überprüfung gibt wurde bereits klar herausgestellt. Aber wie gesagt gibt es keinen Passus der einen „Persilschein“, außer bei den per se Dekonstruierenden impliziert. Es bleibt also eine Unterstellung in Richtung der betroffenen Personen.
Zur Living History: nochmal: ich habe nirgendwo in der Erklärung, neben dem Begriff Living History selbst, einen Abschnitt gefunden, der aussagt, dass Unterzeichner mit ihrer Unterschrift in irgendeine Riege aufgenommen werden. Jeder kann dort unterschreiben, auch solche die mit Darstellung, unter welchem Begriff auch immer, nichts zu tun haben, aber die in der Erklärung genannten Werte als Bestandteil der Living History vertreten und vertreten sehen wollen.
Die Erklärung, das wiederum steht darin, will letztlich nur ein Zeichen setzen, welches die Botschaft aussendet: Darsteller wenden sich gegen den Transport von persönlicher Ideologie. Alles andere ist, um es mit deinen Worten zu sagen, hineininterpretiert.
Das man die Initiatoren mehr oder wenigr nötigt jedes einzelne Wort zu definieren oder gegen eigene Definitionen zu verteidigen bringt allerdings in der Tat keinen Fortschritt, weder symbolisch noch sonstwie.
Zu 6. Wo wir bei Interpretationen sind: Ich schrieb „sie richtet sich nicht den explizit Rechten Hintergrund“. Zur Erläuterung: es ist keine Kampagne gegen „nur“ rechtes Gesinnungsgut, wie es sich in der Diskussion um Ulfhednar darstelt. Ich schrieb weiter: „sondern der Vorgänge allgemein“. Es ist also eine Reaktion auf den Transport von Ideologie (wie auch immer sie bei Ulfhednar nun aussieht) und der darauffolgenden Behandlung in den Medien, Foren und Veranstaltungen. Auch dies ist dem Text zu entnehmen.
Dies und nichts anderes steht dort und dies und nichts anderes ist zutreffend. Nirgendwo in der Erklärung und der Erläuterung sehe ich einen Verweis auf eine rein rechte Thematik.
Das Qualitätskontrolle nicht von jetzt auf gleich installiert werden kann ist eine Glaubensfrage?
Momentan gibt es starke Befürchtungen darüber, wer kontrolliert wen, und da soll eine schnelle Lösung die Lösung aller Probleme sein?
Oder meinst du, dass Lichterketten als ein Reflex unserer Gesellschaft als eine Hochschätzung der demokratisch-freieheitlichen Grundordnung und der humantären Werte zu sehen sind und unserem Ansehen im Ausland im Kontext der Ereignisse zumindest ein Pflaster reichte?