Zufrieden blickt Gaby Bischop über das flache Münsterland auf das schnurgerade dunkelgrüne Band, das an ihrer Heimatstadt Raesfeld vorbeizieht. Es ist mit frisch eingesätem Rotklee bewachsen und wird auf beiden Seiten von kleinen Holzpfählen gesäumt. Eine Wiese also? Aber was für eine! Es ist die Wiese, unter der Deutschlands erste große Stromtrasse vergraben wurde – als erste, die nicht in luftiger Höhe als Freileitung gespannt wurde. Dafür hatte seit 2007 die Bürgerinitiative "Pro Erdkabel NRW" gekämpft, deren Sprecherin Bischop ist. "Es hat sich gelohnt", sagt sie.

Ein halbes Dutzend neuer Höchstspannungstrassen mit einer Gesamtlänge von knapp 3.000 Kilometern soll künftig Strom aus norddeutschen Windparks in süddeutsche Industrieregionen leiten. Für die Energiewende ist dieser Netzausbau unverzichtbar, die konkrete Umsetzung jedoch hochumstritten. Vor allem in Bayern hatten sich Bürgerinitiativen und dann auch die Landesregierung gegen die neue Trassen starkgemacht. Der Streit mündete im Juli in einen Kompromiss der Parteivorsitzenden von CDU, SPD und CSU. Anfang Oktober hat ihn die Bundesregierung bestätigt: Erdkabel sollen Vorrang vor Freileitungen bekommen. Noch im Herbst soll das Gesetz werden und umgehend in Kraft treten.

In der Nähe von Wohnhäusern soll der Bau von Freileitungen sogar verboten werden. "Die Mehrkosten sind gerechtfertigt, da die Maßnahme zu mehr Akzeptanz und zu einem schnelleren Ausbau führt", hieß es im Koalitionskompromiss. Die ersten Erfahrungen lassen allerdings daran zweifeln, dass diese Gleichung so einfach aufgeht.

"Zunächst waren wir sehr froh, dass wir ein Erdkabel bekommen", erinnert sich Raesfelds Bürgermeister Andreas Grotendorst. Doch dann erlebte sein Ort allerhand Überraschungen. Die erste war eine Großbaustelle. Auf über drei Kilometern Länge markierte der Netzbetreiber Amprion eine 42 Meter breite Trasse, in der Mitte eine Straße für schweres Gerät, rechts und links davon die zwei Meter tiefen Gräben für die zwölf oberschenkeldicken Kabel, jedes insgesamt 150 Tonnen schwer. "Man hatte das Gefühl, es wird eine Autobahn rund um Raesfeld gebaut", sagt der Bürgermeister – Lärm, Staub und Schwerlastverkehr inklusive.

Dieser Artikel stammt aus der ZEIT Nr. 42 vom 15.10.2015.

Eineinhalb Jahre dauerten die Erdarbeiten. Dabei lagen kaum Hindernisse auf der Trasse. Nur eine Bundesstraße, zwei Öl- und eine Gasleitung mussten gequert werden. "Es zeigte sich aber, dass wir hier häufig wechselnde Böden haben, und die gehen auch noch fließend ineinander über", sagt Bauleiter Ludger Jungnitz, "von kiesig-sandigen über lehmhaltige bis zu Tonböden." Die mussten separat ausgehoben, zwischengelagert und am Ende in umgekehrter Reihenfolge zurück in die Gruben geschafft werden. So hatte man es den Bauern versprochen, vier Jahre nach Abschluss der Arbeiten sollen sie auf der Trasse wieder Getreide anbauen können.

Ob das klappt, wird sich auf den zehn Versuchsfeldern zeigen, die Amprion über und neben den Erdkabeln angelegt hat. Dort soll auch untersucht werden, ob die Kabel, die sich unter voller Last auf über 50 Grad erwärmen, zu einer Austrocknung des Bodens führen. In Bürgerversammlungen wurde schon gewitzelt, dass in Raesfeld künftig Zitronen wachsen könnten. "Der ökologische Eingriff ist jedenfalls nicht zu unterschätzen", sagt Bürgermeister Grotendorst, der selber auf einem Bauernhof aufgewachsen ist.

Bäume darf es auf der Trasse nicht mehr geben. Ihre Wurzeln könnten die Kabel beschädigen, und Wartungsarbeiten würden zusätzlich erschwert. "Wir wollen auch nach vielen Jahren nicht die Diskussion führen, ob da ein schützenswerter Baum in einem Störungsfall hinderlich ist", sagt Amprion-Projektleiter Jungnitz. Unter der Erde ist ein Leitungsschaden sowieso schon schwieriger aufzuspüren und zu beheben als bei einer Freileitung, eine Reparatur könnte Wochen statt Stunden dauern. Könnte. Denn ob es wirklich so ist, weiß noch keiner. Jungnitz sagt: "Wir müssen jetzt erst einmal Betriebserfahrungen sammeln."