Verallgemeinerung ist Faulheit

Von Matthias Nöther

Es gehört schon einiges dazu, um als Dirigent Bruckners Achte Sinfonie, diese in so vielen Bedeutungen des Wortes „schwere“ Musik, mit einem solch leichten, freundlichen Wink einzuleiten: Das kann Tollkühnheit oder Frivolität sein. Bei dem alten Herbert Blomstedt, bei den Berliner Philharmonikern für diese Sinfonie als einzigen Programmpunkt als Gast geladen, ist es einfach Erfahrung. Blomstedt dirigiert Bruckner seit über fünfzig Jahren, und er dürfte dort, wo er die Musik startet, auch bereits jede Nuance dessen vorhören, was folgen wird – und alles einfließen lassen: die Dämonie des ins Land schreitenden „deutschen Michel“ im Scherzo, die langen Themen des Adagios, getragen auf nur wenigen Tönen, die Marmorklippen des Finales.

Der leichte Wink könnte auch der Auftakt zu einer Mozart-Sinfonie sein, und dieser klassizistische Gestus ist es auch, den die Berliner Philharmoniker über die Dauer dieser anderthalb Stunden trotz all des schweren Blechs inklusive der vier Wagner-Tuben, des triumphal-spätromantischen Beckenschlags im dritten Satz und der ellenlangen, dunkel dräuenden Coda des Finales, ungerührt beibehalten werden. Klassizität bedeutet, das Inhalt und Form nicht getrennt werden sollen. Die Form ist musikalisch, und der Inhalt lässt sich nicht aus Musik in Gedanken oder Literatur rückübersetzen, er bleibt Musik. Bruckner wurde in der Geschichte tendenziell anders dirigiert: die Gedanken flogen über das konkret musikalisch „Stoffliche“ hinaus, wölbten sich zu Behauptungen des Göttlichen, auch zu Allmachtsfantasien. Zumal aus der Geschichte dieses Orchesters in der alten wie der neuen Berliner Philharmonie, kennen wir Bruckner anders: welterklärend, weltdeutend, Welt raunend.

Blomstedt ist keiner, der überwältigen will oder sich überwältigen lässt. Er gibt seine Winke, die Philharmoniker spielen auch bei ihm die leisen Stellen nicht leiser als sonst und die lauten eben laut. Doch diese Kraft erschlägt das Publikum nicht, die Macht bäumt sich nicht erhaben auf. Es gilt, auch im Forte keine umfassende, verallgemeinernde Geste zu vollführen, denn das geht gegen die Konzentration des eigentlichen Musizierens. Unter Blomstedt bleibt das Orchester bei der Sache selbst: Gerade in den Forteblöcken spielt sich im Inneren des Brucknerschen Orchestersapparats eine ganze Menge ab. Man meint in den Tuttis des ersten Satzes Schattierungen zu hören, ja alle Bläser irgendwie auch einzeln noch identifizieren zu können. Die werden, wohl wegen etlicher Januar-Infekte, an prominenten Stellen meisterlich vertreten: Das Solo-Horn spielt souverän, aber nicht solistisch auftrumpfend Jörg Brückner von den Münchner Philharmonikern, an die Solo-Oboe ist der philharmonische Englisch-Hornist Dominik Wollenweber vorgerückt.

Bruckner ist in der Achten der Philharmoniker und Blomstedts nicht ein einsamer kleiner Mann, der verstohlen weltumspannende Heilsbotschaften an die Türen seines Publikums nagelt, sondern ein leichter Riese mit einem großen Hang zu direkter Kommunikation. Wer ihn so hört, könnte ihn glatt für einen Künstler unserer Zeit halten.

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