Obwohl es nieselt, lehnt Jürgen Blin, 73, mit Sonnenbrille an seinem Geländewagen vor seinem Haus in Hamburgs Südosten. Sein Händedruck ist kräftig, er geht voraus, zeigt Garten und Haus, vom Fitnessraum bis zum marmorgefliesten Badezimmer. Geschenkt hat ihm das Leben nichts, alles ist erarbeitet, erboxt, erlitten. Europameister im Schwergewicht ist er gewesen, gegen Muhammad Ali kämpfte und verlor er 1971, K. o. in der siebten Runde. Na und? Gegen Ali! Wer kann das von sich sagen?

DIE ZEIT: Herr Blin, Sie haben 180.000 Mark für den Boxkampf gegen Muhammad Ali bekommen. Leicht verdientes Geld?

Jürgen Blin: Was heißt leicht verdientes Geld? Gegen Ali zu boxen war schwer, aber andere Kämpfe waren schwerer. Die Europameisterschaft 1970 gegen den Spanier Urtain in der Stierkampfarena in Barcelona. Oder die vier Kämpfe gegen Gerhard Zech, zwei Meter groß, 110 Kilo schwer. Das waren Brocken.

ZEIT: Wie war Ali?

Blin: Er war nicht so brutal. Ali war kein Schläger, er war ein Boxer. Der konnte präzise schlagen. Ali wusste, dass er mich schlägt. Er hat vorm Kampf getönt: Hi-ha-ho, den Blin hau’ ich k. o. Im Grunde konnte ich mich nicht mit ihm messen. Ich war der Neuzugang, er war stärker.

ZEIT: Hatten Sie Angst?

Blin: Ich war immer der Meinung, dass ich jeden Kampf gewinne. Bei Ali wusste ich: Diesen Kampf verlierst du. Ich war nicht so schlagstark, nicht so groß, ich hatte nicht das Gewicht, war nicht so gut. Wie sollte ich den schlagen? Aber es gab viel Geld, das war natürlich auch eine Motivation.

ZEIT: Schmerzt es weniger, wenn man weiß, jeder Schlag ist 1000 Mark wert?

Blin: Der Schmerz ist derselbe.

Dieser Artikel stammt aus der ZEIT Nr. 42 vom 6.10.2016.

ZEIT: Wie ist es, in einen Kampf reinzugehen, wenn man weiß, dass man verliert?

Blin: Ich war immer hundertprozentig austrainiert, habe nie gedacht, das gibt Schmerzen, sondern war immer bereit, bis zum Ende zu gehen. Ob der andere besser war, war nicht entscheidend.

ZEIT: Hat Ihr Trainer jemals das Handtuch für Sie geworfen?

Blin: Nee, nie. Das gab es gar nicht. Du musst da mit aller Gewalt durch, egal, was passiert. Wäre ich ausgestiegen, hätten die gesagt: Was ist mit dem los? So ein Weichei beschäftigen wir nicht mehr. Es geht um Geld.

ZEIT: Haben Sie immer für Geld geboxt? Oder gab es noch eine andere Motivation?

Blin: Teils, teils. Ein bisschen Sport war dabei, aber hauptsächlich ging es um das Geld. Ich war bitterarm. Ich wollte unbedingt raus aus dem Dreck. Ich kam vom Lande, war verstört, ein Geprügelter.

ZEIT: Haben Sie als Kind gehungert?

Blin: Nein, wir lebten auf Bauernhöfen, Milch gab es immer. Trotzdem waren wir in jeder Beziehung arm. Mein Vater war Alkoholiker, zu Weihnachten hat er mir einmal einen Ziegelstein überreicht und gesagt: Hier, das ist dein Spielzeugauto. Ich hätte fast geheult. Ich kann heute noch darüber heulen, wenn ich darüber nachdenke. Stellen Sie sich das mal vor! Der Alte war immer besoffen, an Weihnachten sowieso. Ich habe damals keinen Satz rausgekriegt. Das war nur Druck. Wenn er zu betrunken war, musste ich morgens früh in den Stall, Kühe melken. In der Schule wurde ich veräppelt, die Kinder waren grausam zu mir. "Du stinkst nach Kuhscheiße" und so Sachen. Das war ’ne schlimme Zeit. Wenn du immer was in den Nacken kriegst, bekommst du kein Selbstvertrauen.

ZEIT: Wie sind Sie da rausgekommen?

Blin: Mit 14 hatte ich die Hauptschule hinter mir, bin zur See gefahren, Monrovia, Kanada, Norwegen. Zurück in Hamburg, habe ich einen Fleischer aus Norderstedt kennengelernt, das war Glückssache. Er sagte: Lern doch bei mir, dann haste einen Beruf, kannst bei mir wohnen. Das war meine Rettung. Gegenüber der Fleischerei war der Boxverein. Da habe ich zum ersten Mal Selbstvertrauen bekommen, habe gemerkt: Mensch, du kannst ja doch was. Schon damals habe ich gewusst, dass ich Profi werden und Geld verdienen will. Da hätte mich keiner aufhalten können.

"Ich musste alles mit Fleiß erreichen"

ZEIT: Wie haben Sie sich belohnt, als die erste Gage vom Boxen kam?

Blin: Meinen Sie, ich habe groß gefeiert nach Meisterschaften? Nein. Wenn ich freitags oder samstags geboxt habe, ging es montags wieder zur Arbeit. Große Partys gab es früher nicht. Ich war immer solide, habe noch nie ein Glas Bier getrunken. Ich habe immer Häuser gebaut, versucht, was anzuschaffen. In Trittau habe ich mein erstes Haus gebaut, in Schwarzenbek drei weitere.

ZEIT: An Ihrem Kinn ist eine Narbe zu sehen.

Blin: Den Cut habe ich mir im Kampf gegen Norbert Grupe geholt, der nannte sich "Wilhelm von Homburg". Der konnte hauen, das sag ich dir. Den habe ich 1968 in Köln geboxt. Der hat sich gut verkauft! Wenn der geboxt hat, waren die Hallen voll. Warum? Weil er polarisiert hat. Ich halte viel von ihm, aber der hat es übertrieben: Drogen, dieser Kram. Trotzdem ein mutiger Boxer.

ZEIT: Was halten Sie von Klitschko?

Blin: Er verkauft sich gut. Er hat die richtige Größe, das richtige Gewicht. Ich hingegen musste immer kämpfen. Ich war zu leicht als Schwergewichtler, hatte nur 85 Kilo. Ich habe es einfach nicht so hoch gebracht. Man hat nicht alles, was willst du machen.

ZEIT: Haben Sie sich damals auch vermarktet?

Blin: Ich war zu schüchtern, musste alles mit Fleiß erreichen. Aber die Leute wollen Boxer sehen, die auf den Putz hauen. Norbert Grupe hat vorm Kampf gesagt: "Die Halle ist brechend voll wegen mir" – und dann noch mal 10.000 Mark mehr verlangt. So was hätte ich mir nie erlaubt.

ZEIT: Ist es Ihnen schwergefallen, mit dem Boxen aufzuhören?

Blin: Ich hatte meinen Titel verloren, dann habe ich noch ein, zwei Kämpfe gemacht. Danach war Schluss. Für den letzten Kampf in Denver, Colorado, gab es noch mal 20.000 Mark, kostenloser Flug. Da habe ich Ron Lyle geboxt, Dritter der Weltrangliste, zwei Meter groß, 110 Kilo, auch so ein Bomber. Box den mal. Ich weiß auch nicht, wie ich das immer geschafft habe.

ZEIT: Ihre Daumen sind verformt, ihre Nase sieht aus, als wäre sie mehrfach gebrochen gewesen. Hat auch Ihre Psyche unter dem Druck gelitten?

Blin: Früher hätte ich boxen können, ganz egal, wer mir gegenüberstand. Nachdem ich meinen Titel verloren habe, hatte ich plötzlich keinen Appetit mehr. Ich war eh so ein Hänfling, und dann konnte ich vor einem Kampf plötzlich nichts mehr essen, habe Beruhigungstabletten genommen. Das ist nicht gut, fürs Boxen sowieso nicht, weil du dann vor die Hunde gehst. Nach zwei Kämpfen war Schluss. Die Nerven haben geflattert. Ich war erst 31 und hätte gern noch weitergeboxt. Aber es ging nicht mehr.

ZEIT: Warum haben Sie eigentlich später ausgerechnet eine Kneipe aufgemacht? Als Sohn eines Alkoholikers?

Blin: Ich hatte zunächst drei, vier Imbisse in Hamburg, meinen ersten Laden habe ich am Berliner Tor aufgemacht, das war 1973. Viel später kam die Kneipe in der Unterführung vom Hauptbahnhof. Ich dachte, dass mir das liegt. Ich wusste, damit kannst du Geld verdienen, das war ’ne gute Sache.

"Erstaunlich, was ich alles aus mir gemacht habe"

ZEIT: Ist Ihnen heute manchmal langweilig?

Blins Lebensgefährtin meldet sich zu Wort.

Brigitte Andritzki: Ja! Er hätte gern weitergearbeitet, aber er musste aus dem Laden am Hauptbahnhof raus. Er macht immer noch gern Sport, Gott sei Dank.

Blin: Ich bin noch fix dabei. Ich brauche das auch. Ich jogge mindestens einmal die Woche zehn Kilometer. Immer wenn ich unruhig werde. Ich bin ganz schön aktiv.

ZEIT: Macht es Sie heute noch stolz, gegen Ali geboxt zu haben?

Blin: Was heißt stolz? Das war eine große Sache und auch schön, im Mittelpunkt zu stehen, einen Haufen Geld zu verdienen. Und es bringt mir ja heute ab und zu noch was. Beim Einchecken in einen Flug mit Emirates habe ich davon erzählt, dann wurde ich in die Erste Klasse hochgebucht. Ohne Aufpreis. Da gibt es eine Lounge, mit Schampus, Filet ... Das sind die Vorteile, die man heute noch hat.

Andritzki: Jürgen wird überall angesprochen, sogar auf Gran Canaria im Urlaub. Einmal ist er jemandem hintendrauf gefahren. Der kam wutentbrannt aus dem Auto, schrie, er habe einen Termin – dann hat er ihn erkannt: Och, Herr Blin, ist ja nicht so schlimm.

ZEIT: Was haben Sie empfunden, als Sie hörten, dass Ali im Sterben lag?

Blin: So ist das Leben. Er hat lange geboxt, so was bleibt ja nicht im Anzug stecken. Zum Schluss hat er ein paar Kämpfe zu viel gemacht, mit 38 Jahren noch geboxt. Gesund ist das in dem Alter sicher nicht. Und dann seine Parkinsonerkrankung. Es kann schnell gehen.

ZEIT: Haben Sie das Beste aus Ihrem Leben gemacht?

Blin: Ich finde ja. Ich ärgere mich heute noch, dass ich nicht größer war, dann hätte ich mehr Reichweite gehabt (seine Faust schießt ein paar Mal durch die Luft), dann hätte ich es so schön durchknallen können. Vieles wäre leichter gewesen. Ich empfinde es als erstaunlich, was ich alles aus mir gemacht habe. Wenn ich noch mal 15 wäre – ich würde alles genauso machen.