Amoklauf – töten wie im Rausch

Ein Notfallseelsorger tröstet nach dem Amoklauf von Winnenden im Jahr 2009 einen verzweifelten Menschen.

Gewalt

Amoklauf – töten wie im Rausch

Aus blinder Wut heraus Menschen umbringen. Töten wie im Blutrausch. Scheinbar ohne Skrupel, ohne Mitleid, ohne Mitgefühl. Von Hass und Ausweglosigkeit sind die Taten der Amokläufer geprägt. Ihre Morde sorgen für Fassungslosigkeit, Trauer, Unverständnis und Entsetzen in der Öffentlichkeit. Zunächst waren es vor allem die Schulmassaker in den USA, die weltweit für Aufsehen sorgten. Aber wie die Bluttaten in Deutschland, Belgien und Norwegen belegen, hat die Welle der Gewalt längst auch Europa erreicht.

Amoklauf: Hilfeschrei einer verletzten Seele

Beim Amoklauf befindet sich der Täter in einer psychischen Extremsituation, die durch Unzurechnungsfähigkeit und absolute Gewaltbereitschaft gekennzeichnet ist. Scheinbar wie in Trance sucht sich der Amokläufer ein Opfer nach dem anderen.

Auslöser für die Tat sind oft Probleme im privaten Umfeld des Täters. Das können soziale Isolation, Versagen oder Mobbing am Arbeitsplatz oder in der Schule sein. Der Täter hat das Gefühl, ständig ungerecht behandelt zu werden. Dadurch staut sich bei ihm über längere Zeit eine unterschwellige Aggression auf, die sich schließlich in der Tat entlädt.

Als Tatort wird meistens eine Örtlichkeit gewählt, die der Täter mit der Verletzung seiner Psyche in Verbindung bringt. Typische Beispiele dafür sind die Amokläufe in Gerichts- oder Schulgebäuden. In den meisten Fällen bereitet der Täter seinen Amoklauf akribisch genau vor. Spontantaten sind eher selten. Eigentlicher Auslöser der Tat selbst ist eine Art Initialzündung.

In vielen Fällen der letzten Jahre wurden die Amokläufe im Internet angekündigt, verbunden mit Erklärungs- und Rechtfertigungsversuchen. Viele Amokläufer inszenieren ihre Tat regelrecht und verfolgen dabei rituelle Regeln, zu denen auch der abschließende Suizid gehört. Ein Horrorszenario.

Historische Spurensuche

Der Begriff Amok leitet sich vom malaiischen Wort meng-âmok ab. Es bedeutet "in blinder Wut angreifen und töten". Eine Spurensuche nach den ersten historisch belegten Amokläufen führt dementsprechend nach Südostasien.

In Malaysia findet man erste Aufzeichnungen aus dem 15. Jahrhundert über Amokläufe, die zu militärischen Zwecken durchgeführt wurden. Hochmotivierte und todesmutige Stammes-Kämpfer sollen weit überlegene gegnerische Heere angegriffen und den Feind damit in Angst und Schrecken versetzt und ihm hohe Verluste zugefügt haben.

Reiseberichte von Seefahrern aus der westlichen Welt bestätigen, dass es besonders im südostasiatischen Kulturkreis im 17., 18. und 19. Jahrhundert auch zu Amokläufen von Einzeltätern gekommen ist, die nicht aus militärischen Gründen töteten, sondern deren Motivation für die Bluttaten im rein persönlichen Umfeld zu suchen war. Private Probleme wie Überschuldung oder als ungerecht empfundene Behandlung durch Behörden oder höher gestellte Persönlichkeiten waren in vielen Fällen Auslöser dieser Amokläufe.

Völkerkundler gingen zu jener Zeit davon aus, dass der Amoklauf ein ethnologisches Phänomen sei, das nur im südostasiatischen Raum anzutreffen sei. "Die von dieser Wut Befallenen ziehen den Kris (Dolch), welchen jeder Malaie stets zur Seite trägt, springen auf und stoßen im Laufe einen jeden, der für sie erreichbar ist, schonungslos nieder. Alle Amokläufer gelten als im höchsten Maße gefährlich, für vogelfrei und es ist erlaubt, sie auf der Stelle zu töten", wusste 1882 das Brockhaus Conversations Lexikon zu berichten.

Das Morden nimmt seinen Lauf

Der 18. Mai 1927 geht in die US-Kriminalgeschichte als der Tag ein, an dem das bislang schlimmste Massaker an einer Schule verübt wurde. Bei dem Amoklauf in Bath, im US-Bundesstaat Michigan, starben 45 Menschen, 58 wurden zum Teil schwer verletzt. Bei den meisten Opfern handelte es sich um Schüler der ersten bis sechsten Klasse. Der Täter, der 55-jährige Andrew Kehoe, war besonders heimtückisch zu Werk gegangen.

Als Mitglied des Schulkomitees hatte er freien Zugang zum Schulgebäude. Dort deponierte er Bomben mit enormer Sprengkraft und mit Zeitzünder versehen.

Am Morgen des 18. Mai tötete Kehoe zunächst seine Frau und steckte danach seine Farm in Brand. Das Vieh hatte er vorher in den Ställen angekettet. Es sollte diesen Tag ebenfalls nicht überleben. Etwas später explodierte in der Schule eine der dort versteckten Bomben. Eine weitere 230-Kilogramm-Sprengladung zündete nicht.

Kehoe selbst war zu diesem Zeitpunkt mit seinem Wagen in die Nähe der Schule gefahren und brachte eine weitere Sprengladung, die er im Fahrzeug installiert hatte, zur Detonation. Die Explosion riss außer Kehoe selbst noch weitere Menschen mit in den Tod.

Als Grund für seine Tat vermutet man finanzielle Schwierigkeiten. Seine Farm stand kurz vor der Zwangsversteigerung. Die Schuld an seiner finanziellen Misere gab er den Steuerbehörden. Sie hätten ihn durch die Erhebung von Grundsteuern in den Ruin getrieben. Steuermittel, die für den Bau des Schulgebäudes in Bath genutzt worden waren.

I don't like Mondays

Brenda Ann Spencer ist 16 Jahre alt, als sie am 29. Januar 1979, einem Montag, von einem Fenster ihres Elternhauses auf Kinder der Cleveland Grundschule in San Diego, Kalifornien, schießt. Die Tatwaffe, ein Gewehr, hat sie von ihrem Vater geschenkt bekommen. Mit der herbeigerufenen Polizei liefert sie sich eine Schießerei, bis sie von Spezialkräften überwältigt wird. Insgesamt werden zwei Erwachsene von Spencer getötet. Acht Kinder und ein Polizist werden verletzt.

Noch während sich Spencer in ihrem Haus verbarrikadiert hat, führt ein Journalist ein Telefoninterview mit ihr und fragt sie nach den Gründen ihrer Tat. "I don't like Mondays. This lives up the day." ("Ich mag keine Montage. Dies belebt den Tag") ist die lapidare Antwort.

In einem Polizeiverhör sagt sie später: "Es gab keine besonderen Gründe für die Tat – mir hat es einfach Spaß gemacht…" Spencer wird zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt, die sie nach US-Recht bis zu ihrem Tod absitzen muss. Verschiedene Gnadengesuche werden abgelehnt.

"Ich verstehe die Tat dieses Mädchens auch nach all den Jahren noch nicht. Man muss sich das vorstellen. Sie hat damals einfach auf alles geschossen, was sich bewegt hat", erinnert sich der irische Musiker Bob Geldof. Als Sänger der Rockband "Boomtown Rats" hatte er die Geschehnisse 1989 in dem Song "I don’t like Mondays" verarbeitet.

"Diese Aussage von Spencer fand ich absolut erschreckend. Die Polizei, die Schulverwaltung und die Eltern haben versucht, das Motiv für diese schreckliche Tat mit dem Verstand zu erfassen, zu begreifen, zu verstehen. Aber in diesem Fall ist das unmöglich. Es war ein irrationaler Akt. Töten ohne Motiv, einfach um des Tötens willen", sagt Geldof.

Forschungsfeld Amoklauf

Im Juli 2011 richtet ein scheinbar geistig verwirrter Mann in Norwegen ein Blutbad unter Jugendlichen an und tötet 77 Menschen. Im Dezember 2011 tötet ein 33-jähriger Waffennarr im belgischen Lüttich auf offener Straße fünf Menschen und verletzt 125. Im März 2012 erschießt ein US-Soldat wie im Blutrausch 16 afghanische Zivilisten. Die Frage nach dem Warum stellt sich in allen Fällen. Längst ist der Amoklauf zu einem Thema wissenschaftlicher Forschungen geworden.

Psychologen und Kriminologen versuchen dem Phänomen auf die Spur zu kommen. Sie analysieren die Tat, den Tatverlauf, prüfen mögliche Motive, gehen auf Spurensuche im sozialen Umfeld des Täters. Eine heiße Spur führt die Wissenschaftler in den Bereich von Gewaltvideos und brutalen Computerspielen, bei denen das Morden und Töten im Vordergrund stehen. In der Tat nutzt die US-Armee solche Spiele zum Training ihrer Soldaten. Die realistische Szenerie auf dem Bildschirm soll die GIs an den Einsatz in Krisengebieten vorbereiten.

Deutsche Wissenschaftler halten diese fragwürdige Freizeitbeschäftigung mit einschlägigen Videospielen und Gewaltfilmen jedoch nicht unbedingt für den Auslöser eines Amoklaufs. Zwar kommt bei den Ermittlungen oft heraus, dass die Amokläufer sich für Gewaltfilme und -spiele interessiert haben. Doch stellt sich hier die Frage nach der Kausalität. Eine Person mit aggressiven Tendenzen fühlt sich möglicherweise von gewalttätigen Spielen angezogen. Gewalttätige Inhalte machen einen Menschen aber nicht zwangsläufig aggressiv.

Nach Meinung der Forscher müssen immer mehrere Faktoren zusammenkommen, um es zur Planung eines Amoklaufs kommen zu lassen. Klar ist jedoch, dass es zum größten Teil männliche Täter sind, die in einen amokartigen Blutrausch verfallen.

Autor: Alfried Schmitz

Stand: 14.09.2016, 11:09

Darstellung: