Wir müssen reden Braucht der Penis Applaus?

Der männliche Orgasmus gilt als schlicht. Warum der Mann im Porno ejakulieren muss und wie komplex ein Höhepunkt sein kann, erklärt der Sexualtherapeut Ulrich Clement. Von

ZEITmagazin ONLINE: Noch nie habe ich auf ein geplantes Thema so zuverlässig die gleiche scherzhafte Reaktion bekommen wie dieses Mal: "Oh, das wird aber ein kurzer Text". Warum hat der männliche Orgasmus ein so schlichtes Image? Und vor allem: Ist es berechtigt?

Ulrich Clement: Tatsächlich heißt es formelhaft immer wieder, Männer seien einfach, insbesondere ihre Sexualität und ihr Orgasmus. Das ist in erster Linie eine Kontrastaussage: Männer sind sich in ihrem Orgasmusverhalten untereinander ähnlicher als Frauen. Es gibt kaum Männer, die während des Sex keinen Orgasmus haben, und es gibt kaum Männer, die mehrfache Orgasmen haben. Bei Frauen gibt es diese beiden Extreme relativ häufig. Gleichzeitig ist die individuelle Variation von Verhalten und Empfinden bei einer Frau größer als bei einem Mann. Also sind – im Durchschnitt gesprochen – Männer einander ähnlicher und ihre individuelle Variation ist weniger ausgeprägt. Außerdem haben Männer zielgerichteter Sex. Ihr Verhalten steuert unmittelbarer auf einen Orgasmus zu. Aber, bitte, auch hier gilt natürlich wieder: nicht immer und nur im Durchschnitt gesprochen.

ZEITmagazin ONLINE: Dann gründet sich das schlichte Image auf eine statistische Betrachtung?

Clement: Genau. Und diese Betrachtung bedeutet natürlich nicht, dass Männer oder ihre Sexualität dumpf wären. Selbstverständlich gibt es auch komplizierte Männer und einfache Frauen.

ZEITmagazin ONLINE: Dann erklären Sie uns jetzt doch bitte, wie komplex der männliche Höhepunkt tatsächlich ist.

Clement: Ach, was heißt schon komplex? Lassen Sie uns andersherum anfangen: Der Orgasmus ist Männern wichtiger als Frauen. Und zwar nicht nur ihr eigener, sondern auch der ihrer Partnerin. Das belegt eine Studie, die verglichen hat, wie wichtig es jedem Geschlecht ist, dass die Frau einen Orgasmus erlebt. Frauen kommt es nicht ausschließlich auf den Höhepunkt an. Zu einem tollen Abend trägt in ihrer Wahrnehmung noch anderes entscheidend bei. Für Männer gehört er unabdingbarer dazu.

Ulrich Clement

Prof. Dr. Ulrich Clement ist systemischer Paartherapeut und Sexualforscher. Sein Buch Think Love. Das indiskrete Fragebuch erschien 2015 bei Rogner & Bernhard, gerade hat er Dynamik des Begehrens im Carl-Auer Verlag veröffentlicht. In Heidelberg betreibt Ulrich Clement eine Privatpraxis für Coaching, Paar- und Sexualtherapie.

ZEITmagazin ONLINE: Liegt das nicht an unserer allgemeinen Ergebnisfixierung? Immerhin hört man auch im Berufsleben oft den etwas dämlichen Ausdruck "Er muss liefern".

Clement: Diese Vorstellung kann man auch gut in Pornos beobachten, hier sind Männer gleichsam ejakulationspflichtig. Eine intravaginale Ejakulation ist dort ein Tabu, man muss den Erguss vielmehr sehen können als Beweis dafür, dass alles echt ist. Im Gegensatz zum weiblichen Orgasmus kann man den männlichen ja nicht vortäuschen.

ZEITmagazin ONLINE: Erhöht das nicht auch den Druck auf Männer?

Clement: Jedenfalls auf Männer, die sich Druck machen lassen. Gerade unter jüngeren ist die Ejakulation noch immer oft ein Muss, auch wenn sich die Auffassung wandelt, dass alles auf den Orgasmus zuzulaufen habe und wenn er ausbleibt, der ganze Akt unvollkommen sei. Für viele reifere Männer ist der Orgasmus eine schöne Zugabe, die nicht zwangsläufig dazugehört. In diesem Zusammenhang ist auch ein Trend erwähnenswert, der auf eine alte fernöstliche Tradition zurückgeht, nicht zu ejakulieren beziehungsweise den Zeitpunkt hinauszuzögern, was luststeigernd sein kann. Erst das sehr westliche Skript der Vollständigkeit macht den Orgasmus zur Pflicht.

ZEITmagazin ONLINE:  Warum?

Clement: Das hängt mit der Grammatik des Sexualakts zusammen. Der Orgasmus kann aufgefasst werden als ein Schlusspunkt, als Zeitpunkt, wann jemand fertig ist. Das ist insbesondere in Hinblick auf den Mann durchaus wörtlich aufzufassen. Denn die männliche Refraktärphase ist länger als die weibliche: Männer brauchen mehr Zeit als Frauen, bevor sie ein zweites Mal Sex haben können. Sie schlafen eher ein und brauchen eine Erholungsphase. Der Orgasmus stellt für sie also viel deutlicher einen Schlusspunkt dar als für Frauen. Es sei denn, sie sind aufgeklärtere Männer und beurteilen diese Grammatik nicht nur anhand der eigenen Befriedigung, sondern auch anhand der ihrer Partnerin. Und die kann nach einem Orgasmus durchaus einfach weitermachen. Für Frauen hat der Orgasmus in der sexuellen Grammatik nicht diese ausgeprägte Schlusspunktbedeutung.

ZEITmagazin ONLINE: Kommt daher auch der Ausdruck "der kleine Tod"?

Clement: Genau. Der begründet sich im männlichen Erleben. Auch der Satz "Post coitum omne animal triste", zu deutsch: "Nach dem Koitus ist jedes Tier traurig", hat ja im Original die Ergänzung "außer dem Hahn und der Frau".

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