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Brazil

Terry Gilliams überbordende Zukunftssatire: Eine optisch herausragende Verbindung von Orwell und Monty Python.

 

 

Inhalt

 

Die Zukunft: Aufgrund eines Irrtums wird am Weihnachtsabend der unschuldige Buttle statt eines gewissen Henry Tuttle von den Beamten des allmächtigen Informationsministeriums verhaftet. Das löst eine Serie von Problemen aus, insbesondere weil Buttle, wie sich bald herausstellt, das "Verhör" nicht überlebt. Betroffen davon ist auch Sam Lowry (Jonathan Pryce), der - sehr zum Ärger seiner Mutter (Katherine Helmond)- zufrieden damit ist, in seiner unbedeutenden Büroabteilung als Ausputzer für seinen unfähigen Chef Kurtzman (Ian Holm) zu fungieren und vor dem öden Alltag in die Träume von einer unbekannten Schönheit flieht. Als er, um den Fehler von seiner Abteilung abzuwälzen, der mittlerweile katatonischen Mrs. Buttle einen Entschädigungsscheck vorbeibringt, erwartet ihn jedoch eine Überraschung in Form der Nachbarin Jill (Kim Greist) - in ihr erkennt er die Frau seiner Träume wieder. Um ihre Spur aufnehmen zu können, drängt er seine Mutter dann doch, ihm zu einer Beförderung zu verhelfen - doch das ist erst der Anfang eines Maelstroms sich überschlagender Ereignisse. Ihm stellen sich nicht nur überall die Probleme eines bürokratisierten Überwachungsstaats entgegen, sondern durch Zufall macht er auch noch Kontakt mit dem echten Tuttle (Robert De Niro), einem der letzten Kämpfer gegen das totalitäre System - und auch seine Jill steht unter Verdacht, einer "terroristischen" Vereinigung anzugehören. Seinem Herzen folgend, gerät Sam in einen Strudel des Irrsinns - und selbst auf die schwarze Liste...

 

 

Kritik

 

Nach dem Debakel von Heaven´s Gate mussten Anfang der Achtziger eine Reihe Regisseure eine Auseinandersetzung mit ihren Studios durchmachen: Neben Sergio Leones Es war einmal in Amerika wurde auch Terry Gilliams Brazil zu einem solchen Streitfall: Zu unkommerziell erschien den Produzenten seine teure Zukunftsvison, zu kompliziert und zu abgefahren.

 

Und tatsächlich: Was Gilliam damals vorlegte, war schon ein harter Brocken. Seine Geschichte vom kleinen Beamten Sam Lowry (eine hervorragend unauffällige Darstellung: Jonathan Pryce), der in die Mühlen eines an Kafka und Orwell geschulten Überwachungsstaats gerät, bot nicht nur einen genuin unangenehmen Zukunftsausblick, sondern war auch ansonsten nicht gerade der Traum eines Marketingstrategen. Die Handlung läuft hier nicht linear ab, sondern ist ein rasantes Konvolut aus schwarzhumoriger Zivilisationskritik, lyrischen Traumsequenzen (die ganz plötzlich ins Bedrohliche kippen), wilden Slapstickeinlagen und trockenem Wortwitz, das immer wieder abrupt den Tonfall wechselte - was eben noch eine hochkomische Parodie war, konnte sich an der nächsten Ecke schon weder in einen düsteren Alptraum verwandeln.

 

Es spricht für Gilliams Geschick als Regisseur, dass diese eigenwillige Mixtur funktionierte. Zum einen liegt das daran, dass er hier zum ersten Mal sein Geschick mit der Modellierung von Landschaften ausspielen konnte: Die trostlos-prächtige Metropole, in der Brazil spielt, ist eine eigenwillige Mixtur aus Modellen und gigantischen Sets voll irrwitziger Details, die eine ebenso nachtschwarze wie bitterböse Vision einer überwachten Zukunft beherbergt - in ihrem Aussehen schlägt das zwischen Komik und Verzweiflung pulsierende Herz dieses Films.

 

Den einzigen Gegenpol zu dieser allgegenwärtigen Industrieruine, aus der es keinen Ausweg gibt (wenn die Charaktere die Stadt verlassen, bewegen sie sich entlang endloser, von Plakaten mit idyllischen Motiven gerahmten Strassen - einmal fährt dabei die Kamera hoch und entlarvt die wirkliche Landschaft hinter diesen täuschenden Wänden: eine öde, vom Raubbau entstellte Wüste) ist Sams Traumwelt. Dem Engel aus Murnaus Faust gleich, treibt er durch das einzige Stück blauen Himmel, das man hier zu sehen bekommt, um mit seiner Traumfee aus der entstellten Zukunftsstadt zu entfliehen. Doch Gilliam betreibt hier keine Schwarzweissmalerei - mit dem zunehmenden Fortgang des Films werden auch die Träume immer düsterer - Sam sieht sich einem gigantischen Samurai gegenüber, den es zu bekämpfen gilt (und der sich dann als er selbst herausstellt), wobei der Zuschauer bewußt im Unklaren darüber gelassen wird, ob oder inwiefern diese Träume Spiegelbilder der Welt sind, in der Sam lebt. Tatsächlich haben sich viele beklagt, dass sie dem Plot von Brazil nicht folgen konnten; und der Vorwurf ist nicht ganz unberechtigt. Zunehmender "Realitätsverlust" (wo ja die Realität schon eine antiutopische Welt ist) kennzeichnet den Film, und die Grenzen zwischen Einbildung und Wirklichkeit werden immer durchlässiger. Tatsächlich lebt Brazil nicht von der Story, sondern von seinem eigenwilligen Tonfall, eine verzweifelte Melancholie inmitten einer uferlosen Satire.

 

Überladenheit, auf eine sympathische Art, ist das kennzeichnende Merkmal dieses Films. Die Filmzitate laufen hier genauso Amok (und immer ironisch verfremdet: Wenn etwa die berühmte Treppensequenz aus Panzerkreuzer Potemkin zitiert wird, dann mit einer absurd unpassenden Putzfrau, die abwesend durch eine Schiesserei wandelt) wie der niederträchtige Wortwitz und die unzähligen visuellen Scherze (dank des Überwachungsstaats gibt es hier überall Plakate mit hämischen Aufschriften zu sehen; manchmal handelt es sich auch um sight gags der direkteren Art, so wie die Hüte von Sams Mutter, die ausnahmslos Schuhe sind). Das Resultat ist zugleich unbalanciert und wie aus einem Guss. Am Anfang und am Schluss etwa stehen ausgedehnte set pieces, die eigentlich für sich allein funktionieren und trotzdem unabdingbar sind für die seltsam verdrehte Atmosphäre des Films, die aus absoluter Paranoia eine Komödie zimmert.

 

Die Szene gleich zu Beginn etwa nimmt schon die niederträchtigen Wendungen des Drehbuchs voraus: Die Auslage eines Fernsehgeschäfts, in der auf allen Bildschirmen das Einheitsprogramm läuft - der Minister beklagt sich über die terroristischen Aktivitäten, die ohne jeden Zweifel bald beseitigt sein werden; eine Silhouette schiebt sich vor den Geräten vorbei - und schon fliegt die Auslage in die Luft. Gilliams an Thomas Pynchon geschulte Paranoia erweist sich als grundlegend zweischneidig: Zwar sind die unbekannten Fädenzieher hinter dem Apparat scheinbar allmächtig, doch sind alle seine Vertreter lächerlich. Von Sams verweichlichtem Vorgesetzten Kurtzmann, der sich wegen eines unwillkommenen Telegramms hinter Aktenschränken versteckt über den mächtigen Mr. Helpmann, der sich als schrulliger Greis im Rollstuhl erweist und am Ende sogar als Weihnachtsmann verkleidet auftritt, bis zu Sams Jugendfreund Jack, der nach aussen hin der perfekte Vertreter des Establishments (inklusive rasantem Aufstieg, liebevoller Familienvaterexistenz und schleimiger Arschkriecherei) ist - und sich prompt als der willige Folterknecht des Regimes erweist. Spielen tut ihn mit glatter Rückgratlosigkeit niemand anderer als Michael Palin, der so auch für die Verbindung Gilliams zu Monty Python steht, deren kranker Humor auch in diesem Film seine Spuren gräbt. Etwa im Subplot um den "Terroristen" Tuttle (eine hinreißende Miniatur von Robert De Niro) - der erweist sich als einfacher Installateur, der irgendwann genug davon hatte vor jedem Handgriff ein Formular auszufüllen, das diesen erst erlauben würde und jetzt auf eigene Faust arbeitet. Eine Todsünde in der reglementierten Welt des Films, wo ansonsten jede Dummheit im Zeichen der staatlichen Sanktionierung erlaubt ist. Wie sich anhand der echten Installateure zeigt (Bob Hoskins und Derrick O´Connor als fabulös unsympathisches Duo des dämlichen Grauens), die prompt nach Tuttles Eingreifen aus purer Rachsucht die von diesem reparierte Klimaanlage plus das gesamte Zimmer drumherum in eine chaotische Ruine verwandeln - und mit einem typischem Gilliam-Twist dafür einem wahrlich beschissenen Schicksal zugeführt werden.

 

Man ahnt es schon anhand dieser Besprechung - beim Behandeln von Brazil kommt man rasch vom Hundertsten ins Tausendste: Dieser Film ist so voll mit (teilweise widersprüchlichen) Details, dass er sich nicht einfach schubladisieren läßt. Nicht zufällig ist er zwar zuerst der befürchtete Flop geworden, aber auch rasch zum Kultfilm. Wo seine aberwitzige Verbindung von Komik und Angst viele verstört - und die voltenreiche Handlung ein Übriges tut, um die Verwirrung zu steigern (Man könnte hier etwa eine Liste von Punkten beginnen, die auch nach dem x-ten Ansehen rätselhaft bleiben: Was soll die Einstellung, die eine scheinbare Stadtansicht als Miniatur entlarvt [ausser brillant zu sein]? Was kann man von den ödipalen Momenten im Finale halten? Ist dieser geniale Witz mit dem Gefangenen, der immer wieder blind gegen den Aufzugsknopf rennt, eine Anspielung auf den Fehler in Star Wars? Wie man sieht, bleibt selbst die Bedeutungstiefe der jeweiligen Punkte recht ungreifbar), muss man hier allerdings auch den Hut vor Gilliams Meisterschaft ziehen: So seltsam die Kollisonen zwischen den einzelnen Szenen auch wirken mögen, so hervorragend funktionieren sie jeweils in sich - und geben dabei trotzdem nicht ihr Geheimnis preis.

 

Ein Beispiel für die verblüffende Wandlungsfähigkeit des Films ist etwa eine grossartig inszenierte Verfolgungsjagd in der zweiten Hälfte des Films: Zu Beginn sehen wir einen Mann im Schutzanzug eine Metallhütte betreten, wobei Michael Kamens exzellente Musik diesmal den titelgebenden Schlager „Brazil“ (der Soundtrack besteht fast ausschließlich aus Variationen des Liedes) so abwandelt, dass dieser Moment wie eine (durch den unpassenden Inhalt: der Schutzanzug, die hässliche Hütte) Parodie auf eine Fertighauswerbung wirkt. Dieses Häuschen landet hinten auf dem Laster, mit dem Jill und Sam sich anschließend durch die engen Straßen (die in ihrer seltsamen Künstlichkeit und wegen ihrer zahlreichen Menschen mit Einkaufswägen an eine shopping mall und ein Ghetto zugleich erinnern) eine packende Verfolgungsjagd mit der Polizei liefern. Schließlich fällt das Haus herunter, die Polizei kracht hinein, es kommt zu einer Explosion und Sam läßt seinem enthusiastischen Jubel über das gelungene Entkommen freien Lauf. Das Publkum will mit ihm mitlachen, als aus dem brennenden Häuschen der längst vergessene Mann im Schutzanzug als menschliche Fackel taumelt. Solche widersprüchlichen Momente finden sich oft in diesem Film, und machen seine größte Qualität aus: Es ist durchaus vorstellbar, dass Gilliam oft auch nicht ganz wusste, was er machte, und einfach seinem Gefühl folgte. Als Resultat läßt sich der Film nicht festlegen (man hat ihm schon vieles vorgeworfen von der Kafka-Verflachung am einen Ende bis zu nicht nachvollziehbarer Handlung am anderen), aber genau das ist auch sein Vorteil: Er sieht immer wieder anders aus.

 

Obiges bezieht sich auf den 142minütigen "Final Directors Cut", den Gilliam für Criterion anfertigte (abweichend davon existieren zwei um jeweils ein paar Minuten kürzere Versionen, die in den europäischen und amerikanischen Kinos zu sehen waren). Die jetzt erschienene DVD-3fach-Box  bietet neben dem wederhergestellten Film auch noch die Doku "Battle Of Brazil", die die bewegte Entstehungs- und Veröffentichungsgeschichte des Films dokumentiert sowie den berüchtigten "Sheinberg edit", den der Produzent anfertigte, weil er den Film für kommerziell unverwertbar hielt. Der ist nur mehr 94 Minuten lang und ändert den ganzen Ablauf des Films - nur um zu beweisen, dass diese angeblich "publikumsfreundlichere" Variante das genaue Gegenteil bewirkt. Als jemand, der die lange Version schon oft gesehen hat, empfand ich beim Ansehen des kürzeren edits wirkliche Verwirrung - jemand der den Film gar nicht kennt, wird ihn nicht mehr bloss mysteriös (wie die lange Fassung), sondern wirklich schier unverständlich finden. Zwar bleibt in dieser Version der grundlegende Verlauf der Handlung erhalten (und wird sogar ein bisschen linearisiert), aber der innere Zusammenhalt des Films ist vernichtet: Nicht nur fehlen fast alle Aufnahmen der Stadt, die so entscheidend sind für die Atmosphäre, die Aneinanderreihung der Szenen wirkt nun oft lieblos, ja zufällig. Viele Scherze, die im Film belassen wurden, vermögen nur zu befremden, weil ihre Vorgeschichte beziehungsweise daran beteiligte Personen herausgeschnitten worden sind, andererseits wirken einige der düsteren Szenen, die überlebt haben, nun nicht bloß widersprüchlich (also bewußt gesetzt, um den Zuseher zu fordern), sondern sind schlichtweg fehl am Platz, so als hätte hier ein unfähiger Geist nicht gewußt, was tun. Lieblos gesetzte Übergänge (deplazierte Schnitte, im leeren Raum stehende Abblenden) verstärken das Gefühl, hier einem Totalversager bei der Arbeit zuzusehen: Zwar ist der Sheinberg edit um fast fünfzig Minuten kürzer, doch hat man Brazil nicht nur die rasanteren Stücke geraubt oder entstellt, auch durch das Gefühl völliger Zufälligkeit, das sein Fortschreiten begleitet, stellt sich eine Wurschtigkeit seitens des Zusehers ein, die ihresgleichen sucht. Das hat auch damit zu tun, dass dem Film jede Ambiguität geraubt wird - die Traumsequenzen etwa, die sonst so überraschend und frisch wirkten, werden jetzt extra als solche gekennzeichnet und verlieren - durch dramatische Kürzungen zusätzlich verstümmelt - jedes Gewicht. Auch ein peinlich abruptes happy end hat man angekleistert - nicht zufällig bezeichnete Gilliam mit typischem Humor dieses Stückwerk als die "Love Conquers All"-version.

 

--------------------------------------------------------------- Achtung Spoilers (Hier wird das Ende verraten)!-------------------------------------------------------------------

Dabei hat Gilliam selbst darauf hingewiesen, dass er den Schluss seines Filmes eigentlich selbst als happy end versteht (wenn auch ein zweischneidiges, ganz in der Tradition des Vorgängers Time bandits ). Und tatsächlich: Die lange Version von Brazil endet mit einer ausgedehnten Fluchtsequenz, nachdem Sam von Tuttle und Freunden aus der Folterkammer Michael Palins befreit worden ist - doch die erweist sich als Traum, und in der letzten Szene sehen wir, wie ein offensichtlich wahnsinnig gewordener Sam in völliger Geistesabwesenheit auf dem Folterstuhl sitzt und mit leerem Blick das Titellied vor sich hinsummt. "Cause and effect", Ursache und Wirkung, hat Palin zuvor erklärt, gelte es herauszuarbeiten. Das funktioniere immer, und es sei sein Job, auf diese Art jegliche Information aus den vermuteten Staatsfeinden herauszupressen. Doch diesmal gelingt es ihm nicht: Sam bleibt zurück, abgekapselt - und die Knechte des Systems müssen unverrichteter Dinge abziehen. Eine Niederlage für sie, aber auch nur ein Pyrrhussieg für den Helden, der einzige passende Schluss für den sarkastischen Pessimismus dieses Films.

--------------------------------------------------------------- Achtung Spoilers !-------------------------------------------------------------------

 

Fazit: Ein hochgradig einflussreicher, nicht zuletzt visuell herausragender Beitrag zum Science-Fiction-Genre, der sich dank seiner Überfülle an Ideen und seinem durchwegs großartigen Ensemble längst zum Klassiker gemausert hat.

 

 

Christoph Huber, 07.08.2000 

 

Dieser Text ist zuerst erschienen in:  videoFREAK.net

 

 

Brazil

Brazil

Groß Britannien, 1984

Genre: Komödie, Drama, Science Fiction, Fantasy

Mit: Robert De Niro, Jonathan Pryce 

Regie: Terry Gilliam

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