Das Kleine mit dem Ohr erkunden - Zum Festival mikromusik in der und um die St. Elisabeth-Kirche herum

Stadt – Musik – mikro 

 

Das Kleine mit dem Ohr erkunden 

Zum Festival mikromusik in der und um die St. Elisabeth-Kirche herum 

 

Die St. Elisabeth-Kirche und die Wege bis zur Bernauer Straße haben sich noch bis Sonntag in einen künstlerischen Forschungsraum im Mikrobereich verwandelt. Ein kleiner Ausschnitt der Stadt wird mit „experimenteller musik und sound art“ erkundet. Am Donnerstagabend wurde das Festival mit einer audiovisuellen Installation der irischen Stipendiatin des Berliner Künstlerprogramms des DAAD Joanna Bailie schon um 17:00 Uhr eröffnet. Denn das Hör- und Sichtbare spielen sich in der einstmaligen Sakristei der Kirche an der Grenze ab. In dem abgedunkelten Raum projiziert eine Linse am Fenster ein schwaches Bild kopfwärts auf eine Leinwand, im bearbeiteten Sound lassen sich einzelne akustische Ereignisse nur annäherend vernehmen.

 

Das Kleine erfordert eine besondere Aufmerksamkeit, damit es überhaupt wahrgenommen werden kann. Gleichzeitig beherrscht das Kleine bis in Nanobereiche die Forschung, Technologie und nicht zuletzt die digitale Wirklichkeit. Die Nanoteilchen in der Physik spielen sich im Bereich von Zehn hoch Minus Neun (10-9) ab. Sie lassen sich ohne technische Mittel nicht mehr wahrnehmen. Was passiert mit der Wahrnehmung also, wenn sich die Musik- und Klangkunst in gerade noch hör- und sichtbaren Bereichen des mikro abspielt? Am Donnerstagabend war ein illustres Publikum wie beispielweise der Pianist Christoph Grund in die St. Elisabeth-Kirche gekommen, um kleine Kompositionen, mikrotonale Streichquartette mit dem 1974 von Irvine Arditti gegründeten, ebenso berühmten wie exzellenten Arditti Quartett zu hören.

 

mikromusik mit den Stipendiatinnen des Berliner Künstlerprogramms des DAAD ist das junge Festival, das nicht zuletzt den Raum der Stadt musikalisch erforscht. Was lässt sich in der Stadt hören, wenn man anders hinhört und hinsieht? Joanna Bailies Installation in der Sakristei gehört zu einer größeren Serie, die sie seit 2012 unter dem Titel the place you can see and hear bereits in der Rue Darimon in Brüssel, der Donegal Street in Belfast und dem Northampton Square in Islington eingerichtet hat. Nun also lässt sich die Elisabethkirchstraße, hinter der Kirche sozusagen, anders bzw. auf dem Kopf sehen und hören. Während vor Schinkels Kirche auf der Invalidenstraße der Verkehr rauscht und die Tram quietscht, kommt auf der Elisabethkirchstraße eher selten ein Auto vorbei. Kinderstimmen auf einem Kita-Spielplatz? Hörte nur ich sie für einen Moment?

 

Es geht Joanna Bailie mit der Installation auch um den Rahmen. Denn das Bild von der Straße bzw. den oberen Geschossen des Eckhauses an der Elisabethkirch- und Strelitzer Straße wird mit ein paar Zweigen der Bäume in der Sakristei auf einen Schirm projiziert. Doch der Rahmen erfüllt, weil das Bild seitenverkehrt und falsch herum auf die Leinwand geworfen wird, gerade auch nicht die Funktion des Rahmens für die Sichtbarkeit. Obwohl das Bild quasi analog und synchron auf dem Schirm abhängig vom Tageslicht schwach sichtbar wird, gebietet die Wahrnehmung fast automatisch, dass ich mich auf den Kopf stellen möge, um das Bild (besser) sehen zu können. Das ist ein nicht zu überschätzender Effekt des Rahmens für den Augensinn: Ich soll mich auf den Kopf stellen oder, weil es zu einem Schwindel kommen könnte, besser auf einen der Stühle im Dunkel setzen.

 

Auf ähnlich trickreiche Weise erkundet und inszeniert Joanna Bailie den akustischen Rahmen zwischen Musik und Nicht-Musik. Für die Musik könnte eine Bühne fehlen, um sie als Musik zu rahmen. Doch was will das schon heißen in einer weit verbreiteten Kulturpraxis der Kopfhörer und Ohrstöpsel beim Gehen, Fahrradfahren oder in der U-Bahn etc.? Musik als Beschallung gehört heute zur Lebenspraxis wenigstens in der Stadt, wenn nicht gar überall. Joanna Bailie geht es nun vielmehr um akustische Elemente, die synchron von außen aufgenommen und bearbeitet werden, um bearbeitet vor dem verkehrten Bild zu ertönen. Sie schreibt im Programmheft zum diesjährigen Festival: 

The sonic element in particular teeters on the edge between music and non-music. On one hand the sound is coaxed into a fixed rhythmical framework of accelerandos and deccelerandos, and its spectral content broken open and exposed in the frozen chord segments, while on the other, it is clearly at the mercy of the ‘accidental dramaturgy of what happens’ be it planes passing directly overhead, children shouting or very little at all.[1]

 

Fabian Czolbe hat Joanna Bailies Kompositionsarbeit Transkribierte Realitäten genannt.[2] Dabei ist in den Arbeiten der audiovisuellen Künstlerin der Begriff der Realität durchaus ambivalent, weil man beispielsweise fragen muss, wo in der Installation in der Sakristei denn nun die Realität ist. Ist sie außen oder innen? Oder stellt sich die äußere Realität allererst über die verkehrte wie verdrehte Welt auf der Leinwand im Dunkel der Sakristei her? Das Höhlengleichnis des Platon wird von Bailie geradezu mit der Camera obscura inszeniert.[3] Doch funktioniert es auch in akustischer Weise? An der Linse als Schnittstelle und in den Prozessoren zwischen Außenmikrophonen und Innenlautsprechern wird Realität generiert.

 

Die Musik wird bei Platon in der Politeia erst später erwähnt. Es geht vor allem um visuelle und sprachliche Operationen. Das Akustische kommt im Höhlengleichnis nicht zuletzt in der Übertragung von Friedrich Schleiermacher im Abschnitt zur Brauchbarkeit der Wissenschaft der Harmonie, also als Harmonielehre vor. Es geht gerade nicht um das Ereignishafte des Hörens, sondern um dessen mathematische Abgleichung in Harmonien. 

– Bei den Göttern, sagte er, und gar lächerlich halten sie bei ihren sogenannten Heranstimmungen das Ohr hin, als ob sie in der Nachbarschaft eine Stimme erlauschen wollten, wobei denn einige behaupten, sie hörten noch einen Unterschied des Tones, und dies sei das kleinste Intervall, nach welchem man messen müsse, andere aber leugnen es und sagen, sie klängen nun schon ganz gleich, beide aber halten das Ohr höher als die Vernunft. – Du, sprach ich, meinst jene Guten, welche die Saiten ängstigen und quälen und auf den Wirbeln spannen. Damit aber die Erzählung nicht zu lang werde, will ich dir die Schläge mit dem Hammer und das Ansprechen und Versagen und die Sprödigkeit der Saiten, diese ganze Geschichte will ich dir schenken und leugne, daß diese Leute etwas von der Sache sagen, sondern vielmehr jene, von denen wir eben sagten, wir wollten sie der Harmonie wegen befragen. Denn diese hier machen es ebenso wie jene Astronomen, nämlich sie suchen in diesen wirklich gehörten Akkorden die Zahlen, aber sie steigen nicht zu Aufgaben, um zu suchen, welches harmonische Zahlen sind und welches nicht, und weshalb beides. –[4]    

 

Platon vertritt eine Haltung gegen die Harmonielehre als Wissenschaft, weil sie nicht das Regelwerk der angewandten Zahlen analysiert. Man kann deshalb durchaus formulieren, dass in der Eröffnungssequenz der Politeia kurz nach dem Höhlengleichnis, die Musik wie das Reden der Bilder für die Wahrnehmung eine durchaus zweischneidige Rolle spielt. In der dialogischen Erzählung der Politeia wird auf bemerkenswerte Weise für Vernunft und Erkenntnis das Hören bzw. der Hörsinn ausgeblendet.[5] Das Ohr wird als ein geradezu unvernünftiges Organ denunziert – „beide aber halten das Ohr höher als die Vernunft“ – oder ausgeblendet. Auf das Ohr ist wenig Verlass für das analytische Wissen bei Platon. Entweder bleibt es unvernünftig subjektiv oder es orientiert sich an einer Harmonielehre, die rein mathematisch angewendet, aber nicht verstanden wird. Und es ist gerade „das kleinste Intervall“ als Mikrobereich, über das ein Dissens aufbricht.  

 

Mit dem kurzen Exkurs auf das Hören und die Musik in der Politeia bezüglich des Wissens und der Wahrnehmung von Realität lässt sich zumindest formulieren, dass diese allererst durch Rahmen und ein „fixed rhythmical framework of accelerandos and deccelerandos“ entsteht. Die Realität ist nicht einfach auf der Elisabethkirchstraße, damit sie synchron in die Sakristei übertragen werden kann. Vielmehr ereignen sich an der Linse als Prozessor wie zwischen Mikrophon und Lautsprecher Verdrehungen als Generatoren von Realität. Dabei sind es vor allem ein fester Rahmen oder ein „fixed rhythmical framework“, die die Realität ereignishaft für temporäre Bruchteile entstehen lassen.

 

Kaffe Matthews und Sukandar Kartadinata boten mit lean to go up, slow to go loud auf den am Bicrophonic Research Institute entwickelten Fahrrädern eine Uraufführung. Bicrophonie? Die musikmachenden Fahrräder wurden zusammen mit dem Elektronischen Studio der TU Berlin, Fachgebiet Audiokommunikation und BRI, entwickelt. Je nachdem wie man/frau das Fahrrad fährt, erklingt ein „Vokalwerk“ laut oder leise. Die Fahrräder lassen sich spielen wie Instrumente. Kaffe Matthews, Sukandar Kartadinata, Esther Schelander und Markus Zepp veranstalteten vor der St. Elisabeth-Kirche ein durchaus polyphones Vokalkonzert, das sich unter anderem dadurch auszeichnete, dass es keinen festen Rahmen und einen idealen Hör- und Schauplatz gab. Vermischt mit den Geräuschen von der Invalidenstraße wurde einmal das eine, dann das andere Sonic Bike, das an einem vorbeifuhr, hörbar.  

 

Kaffe Matthews hatte im Sommersemester 2016 die Edgar-Varèse-Gastprofessur des DAAD am Elektronischen Studio der TU Berlin inne. Die Klangkünstlerin fragt weniger nach einer oder gar der Realität, vielmehr geht es ihr darum, mit den Fahrrädern die „human engergy“ zu feiern, um andere Lösungen zu finden. Das Vokalwerk vom und mit dem Fahrrad soll Freiheit erkunden und die Flucht (escape) feiern. Die Audiokommunikation findet nicht als Vertextung, sondern in einem „In-between“, einem Zwischen statt: 

In between, the rider will hear the work unfold in layered fragments linked to different locations as they cycle. With the central melody a sonification of the route of the wall throught the city sung by four voices recorded in the acoustic of the Villa (Elisabeth, T.F.), the piece also considers the Hungarian Serbian wall, inviting reflection on contemporary systems of community control and the prevention of movement.[6]

 

Das Vokalwerk ist nicht nur hoch technologisch, vielmehr noch entfaltet es sich als Mitmachkonzert, indem man in kleinen Gruppen noch bis Sonntag 18:00 Uhr von der St. Elisabeth-Kirche bis an die Bernauer Straße fahren kann, mit aktuell politischer Geste. Die Klangkunst wird hier zur politischen Mitmachkunst, die sich ganz gezielt gegen die allerjüngste der Mauern und Wiederkehr der Mauer in Ungarn, Serbien, aber auch Österreich protestiert. Die mobile Klanginstallation wird zum politischen Diskurs über „contemporary systems of community control and the prevention of movement”. Der Vereitelung von Bewegung wird praxeologisch die Bewegung durch den geschichtspolitisch hoch aufgeladenen Stadtraum per Sonic Bike entgegengesetzt. Anders als bei Joanna Bailie wird hier ein mikrologisch-akustische Ereignis nicht zur Realitätsgewinnung eingesetzt, sondern als geradewegs heterotopische Praxis. Der Raum wird nicht einfach abgefahren, vielmehr wird er als Heterotopie genutzt.[7]    

 

Das geradezu als Format für Musik traditionelle Eröffnungskonzert des Arditti Quartetts mit Werken von Joanna Bailie, Turgut Erçetin, Oscar Bianchi, James Tenney und Iannis Xenakis im Altarraum der St. Elisabeth-Kirche bestach durch die einzigartige Kompetenz für zeitgenössische Musik. Seit nunmehr 42 Jahren vereint Irvine Arditti in seinem Quartett Streicher mit einer Vorliebe für aktuelle Kompositionen. Das Berliner Künstlerprogramm des DAAD arbeitet seit Jahrzehnten für Uraufführungen beispielsweise von John Cage mit dem Quartett zusammen. Ihm sind mehrere hundert Streichquartette gewidmet. Und auch hier spielte das Mikrologische der Kompositionen eine entscheidende Rolle.

 

Das Kleine, fast Filigrane der Five Famous Adagios von Joanna Bailie kann durchaus viel über die Wahrnehmung von Musik verraten. Es kann zu eklatanten Fehlinterpretationen führen, was Joanna Bailie mit einem Einblick in ihre verschachtelte Kompositionspraxis entschieden kommentiert hat. An der mikrologischen Struktur der Komposition, die mit größter Genauigkeit und Konzentration vom Arditti Quartett aufgeführt wurde, stellt sich auch die Frage nach dem Sinn oder Gefühl. Durch Computerprogramme generiert, wurde das Stück Five Famous Adagios nicht zuletzt in der Version für Streichquartett als romantisch und atmosphärisch fehlinterpretiert, wie sie im Programmheft ausführt.

Of all my works it is perhaps this one that is the most ambiguous inasmuch as the gap between its compositional intentions and reception as a piece of music has proved to be very wide indeed. It has been misinterpreted as romantic and atmospheric when in fact it is grounded in the idea of sonic investigation and music as process. (S. 9) 

Klangforschung im Mikrobereich, wie sie von Joanna Bailie mit Computerprogrammen betrieben wird, um dann in eine Version für ein Streichquartett transformiert zu werden, lässt sich vielleicht als eine breitere Bewegung in Kompositionspraktiken der Gegenwart formulieren. Die Überschneidung von Musik für ein Streichquartett und die Arbeit mit Computerprogrammen spielt nicht zuletzt bei den Spektralisten eine entscheidende Rolle.[8] Turgut Erçetins String Quartett No. 2 „Contra-statement“ arbeitet beispielsweise mit „the spectral construct of its resonance peak“. Er erforscht damit das Spektrum der Klanginstrumente in einem Bereich, der sich kaum noch wahrnehmen lässt und vielleicht eher außerhalb der Kompositions- und Musikpraktiken der europäischen Tradition steht.

 

 

Die Frage nach den Grenzen der Wahrnehmung und ihrer Bedingungen wird durch die Klangforschung im Mikrobereich weit über die Aufführung – aber nicht ohne sie – hinaus zu einem Projekt der Kulturforschung. Grenzen zu fordern und zu errichten wie mit der ungarisch-serbischen Mauer erscheint als populär. Die Instabilität der Grenzen wird im Mikrobreich in der Stadt mit der Musik deutlich. In der mikromusik überschneiden sich widersprüchliche Wahrnehmungsweisen von Musik, was keinesfalls eine Verkopfung von Kompositions- und Wahrnehmungspraktiken der vermeintlich immer schon gefühlsbetonten Musik eines Streichquartetts geschuldet ist, sondern allererst diese Rezeptionsweisen wie bei Joanna Bailie scharf bedenkt.

 

 

Torsten Flüh 

 

mikromusik 

noch Sonntag, den 4. September 2016 

St. Elisabeth-Kirche 

Invalidenstraße 3 

10115 Berlin

________________________________ 



[1] Joanna Bailie: The place you can see and hear: Elisabethkirchstraße (2012 -). In: Programm. Mikromusik festival experimenteller musik und sound art. Berlin 2016, S. 6.

[2] Fabian Czolbe: Transkribierte Realitäten. In: http://www.berliner-kuenstlerprogramm.de/de/gast.php?id=1296 Berlin, 2016.

[3] Zum Höhlengleichnis vgl. z.B.: Torsten Flüh: Kunst-Nebel-Rebell. Zu Sebastian Hartmanns Woyzeck am Deutschen Theater mit Benjamin Lillie. In: NIGHT OUT@ BERLIN 31. Dezember 2014 12:00.

[4] Friedrich Schleiermacher: Platon. Politeia. Sämtliche Werke. Band 2. Reinbek, 1981.

[5] Siehe auch: David Espinet: Phänomenologie des Hörens. Eine Untersuchung im Ausgang von Martin Heidegger. Tübingen: Mohr Siebeck, 2009, S. 6-13.

[6] Kaffe Matthews: lean to go up, slow to go loud. In: Programm … [wie Anm. 1]

[7] Vgl. zur Heterotopie nach Michel Foucault: Torsten Flüh: Wettschwimmen für das Flussbad. Re-Naturalisierung als Kulturprojekt in der Metropole. In: NIGHT OUT @ BERLIN 7. Juli 2016 18:05. 

[8] Siehe auch: Torsten Flüh: Über sinnliche Spektren. Ensemble BERLIN PIANOPERCUSSION spielt Spektralmusik im Konzerthaus. In: NIGHT OUT @ BERLIN 21. Juni 2013 22:36.