Durchgebrannt mit dem Histo-König - Der neue historische Roman von Titus Müller Berlin Feuerland. Roman eines Aufstands

Roman – Geschichte – Revolution  

 

Durchgebrannt mit dem Histo-König 

Der neue historische Roman von Titus Müller Berlin Feuerland. Roman eines Aufstands 

 

Die Besprechung muss jetzt raus. Am 18. März, also morgen, jährt sich das Datum der Revolution von 1848 und ihrer blutigen Niederschlagung in Berlin. Es ist ein mit unterschiedlichen Deutungsmodellen heiß umkämpftes historisches Datum. Der „Friedhof der Märzgefallenen“ im Berliner Friedrichshain und der Paul Singer e.V., sein Trägerverein, veranstalten zusammen mit dem August Bebel Institut der Berliner SPD seit Montag eine Aktionswoche unter dem Titel Revolution! 1848 – Zurück in die Zukunft noch bis zum Sonntag, den 22. März. Und bereits am 2. März erschien im Münchner Blessing Verlag BERLIN FEUERLAND Roman eines Aufstands von Titus Müller passend zum Datum. Seine offizielle Präsentation wird am 15. April im Theater im Palais Am Festungsgraben 1 stattfinden.

Der 18. März ist kein deutscher Nationalfeiertag geworden. Doch der Paul Singer e. V., zu deren Gründern 1995 der heutige Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, Thomas Krüger, gehörte, hat sich als ein Projekt die „Entwicklung“ des Friedhofs der Märzgefallenen „zu einer nationalen und europäischen Gedenkstätte“ in sein Programm geschrieben. Das hat mehrere Gründe, auf die später eingegangen werden kann. Anstelle der Arbeiter und Studenten auf den Barrikaden hat der Karl Blessing Verlag aus der Verlagsgruppe Random House das nahezu fotorealistische Bild einer jungen Frau hinter einem Fenster, in deren Glasscheiben sich ein brennendes Haus, Holzlatten und mittig das Schwarz-Rot-Gold der deutschen Fahne spiegeln, zum Titelbild generiert. Eine junge Frau mit zurückgebundenem Haar schaut teilnehmend, doch nicht verängstigt, zu. 

Am 21. März lädt der Paul Singer e.V., Verein für soziale, politische und kulturelle Bildung, zu einer Busrundfahrt ein. Revolution im Format einer Sightseeing-Tour. Hop on hop off an den „Revolutionsstandorten“. Aber wie funktioniert Revolution? Gründe für die Revolution wie Armut in dem frühindustriellen Gebiet vor dem Oranienburger Tor nennt die Historiographie genügend. Wie war das mit der Armut? Oder ging es um, sagen wir, mikrologisch Geringeres, das sich zu einem explosiven Gemisch zusammenbraute? Um Gerüchte, Mutmaßungen, Zeitungsmeldungen, kaum ausformulierte Forderungen der Arbeiter in den Fabriken von Borsig, Eggels und Freund etc. an der Chausseestraße? Wie von der Revolution erzählen?  

Linie 1848. Busrundfahrt mit einem historischen Doppeldeckerbus der BVG zu Revolutionsstandorten in Berlin. Mitarbeiter des Paul Singer e.V. und der Leiter des Friedrichshain-Kreuzberg-Museums führen zu den wichtigsten Orten der Revolution. Stationen sind u.a.: In den Zelten; ehem. Zellengefängnis Moabit; Platz des 18. März (Brandenburger Tor); Gendarmenmarkt; Neue Wache (ehem. Stadtschloss; Singakademie; Zeughaus), Friedhof der Märzgefallenen (Endpunkt der Tour) Ausstiege an einigen Stationen.[1] 

Titus Müller wurde vom Internetportal Histo-Couch.de 2013 für seinen historischen Agentinnen-Roman Nachtauge zum „Histo-König“ gekürt. Das Genre Historischer Roman hat Konjunktur. Nach Der Schneekristallforscher, ebenfalls 2013, legt Titus Müller nun Berlin Feuerland vor. Seit Der Kalligraph des Bischofs (2002) schreibt Müller zwischen dem 9. Jahrhundert, Nachtauge, 1943, Der Schneekristallforscher, 1887, und Berlin Feuerland, 1848, nun also seinen 13. historischen Roman über die Zeiten hinweg. Der historische Roman bietet offenbar in Zeiten blitzschneller geschichtlicher Wechsel, News im Echtzeitmodus und Twitter-Meldungen, von der Hochfrequenz Taktung der Finanzmärkte ganz zu schweigen, als „Histo“ das, was als Geschichtlichkeit abhandengekommen ist. Und zum Ausruh- und Lesemöbel Couch passt vermutlich ein „Roman eines Aufstands“ besser als „Revolution!“. Es wird auf den Aufstand statt Revolution zurückzukommen sein. 

Mit der sozusagen dreizehnbändigen Zeitgeschichte von Titus Müller und seinem neuesten Roman geht es an der Schnittstelle von Wissenschaft, Geschichtswissenschaft, Stadtgeschichte, Revolutionsgeschichte ebenso wie Klassengeschichte, Polizeigeschichte und Geschlechtergeschichte um eine durchaus brennende Frage von Literatur. Wie historisch ist der historische Roman? Der historische Roman zwischen Kunst, Ideologie und Wissenschaft wurde bereits 2009 zum Thema einer Vorlesungsreihe an der Freien Universität Berlin, um dann 2013 mit Beiträgen von 27 Wissenschaftlerinnen „aus Geschichts-, Literatur-, Medien- und Kulturwissenschaften“ im renommierten Wissenschaftsverlag Königshausen & Neumann zu erscheinen. Christoph Deupmann kam in seiner Besprechung des Bandes 2014 auf H/Soz/Kult weniger zu einer Bewertung des historischen Roman als vielmehr zu einer Formulierung der Historizität. 

Literarizität storniert jedenfalls nicht einfach Historizität, sondern gehört womöglich zu deren Darstellungsbedingungen. 

Busrundfahrt und/oder Histo-Roman? Ist Historiographie (nur) ein anderer Modus der Erzählung in Formaten wie Roman, Stadtführung und Busrundfahrt? Das Format Stadtführung, das bereits mit Heinrich Heines Briefe(n) aus Berlin 1827 in ironischer Weise aufscheint, bietet für Titus Müller den Anknüpfungs- und Eröffnungspunkt für die Erzählung vom „Aufstand“. Titus Müller setzt nach einem geheimnisvollen Vorspiel in „Saint-Germain-en-Laye“ mit dem Datum des 6. März 1848 in Berlin ein. „Berlin, Montag, 6. März 1848“ in Kursiv stellt sozusagen die Faktizität der Geschichte als Titel her. Wie ein Briefdatum eröffnet und rahmt das Datum, die nun folgende Erzählung in ihrer Fiktionalität. 

»Das sind die berüchtigten Familienhäuser?« Die Frauen sahen mit großen Augen an der Fassade hinauf. 

         Hannes machte eine Geste wie ein Zirkusimpressario. »Treten Sie näher, treten Sie ein, meine Damen! Dieses hier nennt man das Lange Haus. Das Souterrain wurde bereits vermietet, bevor das erste Obergeschoss fertig gebaut war. Damals war die Kellerdecke so nass, dass das Wasser herabtropfte. Heute enthält jedes Stockwerk dreißig elende Wohnungen.«  

 

Bei den „Familienhäuser(n)“ unmittelbar vor dem Hamburger Tor Ecke Schönhauser Communication, heute Torstraße, und Gartenstraße mit der Hauptfigur Hannes erzählend einzusetzen, ist durchaus ein Clou. Die zeitliche Bestimmung, so fiktiv sie sein mag, und die vielfach belegte städtische Verortung stellen in der Eröffnungssequenz eine literarische Faktizität her, die mit der Geste eines „Zirkusimpressario(s)“ ironisch gebrochen wird. Denn die Armut in den Familienhäusern, die spätestens seit Bettina von Arnims Skandalbuch Dies Buch gehört dem König von 1843 in der Berliner Gesellschaft bekannt ist, eignet sich keinesfalls zur Zirkusnummer. Bettina von Arnims Buch wird im Roman nicht erwähnt. Doch ohne die Erfahrungen eines jungen Schweizers im Vogthlande. (Als Beilage zur Socratie der Frau von Rath.) (siehe Internet Archive) ab Seite 534 des 598seitigen Buches hätte Titus Müller niemals von dem Besuch in den Familienhäusern schreiben können. Ebenso wie die Gespräche und die „Socratie der Frau Rath“ philosophisch als Diskurs über die Armut, ihre Folgen und Ursachen formuliert werden, so formalisiert der „junge() Schweizer()“ die Erzählungen der Armen in den genau bestimmten Stuben – „Kellerstube Nr. 3“ – über Armut und ihre Ursachen. 

Das nicht nur zweibändige, sondern in „Socratie“ und formalisierten „Erfahrungen“ literarisch zweigeteilte Buch, das offenbar zunächst ohne Name der Autorin, also anonym erschien, erzählt in unterschiedlichen Modi von der Armut, die in den sogenannten Familienhäusern außerhalb der Stadt sehr wahrscheinlich zum allerersten Mal zentralisierend vor die Stadtmauern verlagert wird. Gehörte es bis ins 18. Jahrhundert zu den tradierten Aufgaben der Kirche, sich um Arme, Kranke und Alte in Hospizen zu kümmern, so vollzieht sich quasi seit Gründung der Charité 1710 im Norden vor der Stadt Berlin eine neu- und andersartige Verortung von Armut und Krankheit. Zu dieser Verortung von Armut gehören die Familienhäuser, die vom Kammerherrn Baron von Wülknitz zwischen 1820 und 1824 erbaut werden. Sie werden mehrfach durch Eigentümerwechsel zu einem Spekulationsobjekt.[2] Man könnte auch sagen, Armut wird seither auf neuartige Weise kapitalisiert.[3] 

Der „Roman eines Aufstands“ eröffnet seine Erzählung von der Revolution im März 1848 mit einer literarischen Verkopplung von durch Formalisierung von Erzählungen Wissenschaft ankündigenden „Erfahrungen eines jungen Schweizers“ mit dem Format der Stadt- oder Fremdenführung sowie einer Beziehungsgeschichte zwischen Hannes und den Frauen bzw. später konkreter Hannes und Alice. Anders gesagt: der historische Roman von Titus Müller schreibt sich aus einer Verkopplung historischer Literaturen von eminenten Bedeutung für die Sozialwissenschaften, dem spezifisch literarischen Format der Stadtführung und dem der Künste der Verführung. Insofern als die Familienhäuser  nur eine Funktion im Verführungsgefüge einnehmen, wird die politische Dimension der Familienhäuser für die Revolution allerdings auch überbewertet und entwertet zugleich. Denn sie dienen einzig und allein zur Erzählung und Konstruktion der Romanperson Alice, die als Tochter des Kastellans im Berliner Schloss lebt und sich plötzlich einem typhuskranken Mädchen in den Familienhäusern zuwendet. 

Der Aufstand, von dem der Roman erzählt, ist deshalb nicht allein der Aufstand der Arbeiter und einiger demokratisch gesinnter Bürger in den Lesehallen und Cafés der Stadt Berlin gegen die antidemokratische Haltung des Königs und seiner Entourage. Vielmehr wird die Stadtführung durch Feuerland jenseits der nördlichen Stadtmauern und in den Familienhäusern zum Aufstand der Tochter gegen den obrigkeitshörigen Vater. Auch ihr angehimmelter Verehrer Victor, ein adeliger Offizier, nimmt für Alice im Lichte Feuerlands zweifelhafte Züge an. Das historiographisch generierte Wissen von der Revolution wird dadurch mit Alice personalisiert und zu einer Frage von Liebe und Gehorsam. 

         Vater fragte streng: »Seit wann interessierst du dich für Politik, Alice?« 

         Die Zurechtweisung ärgerte sie. Sie war keine, die nach der Schule nur im Zimmer hockte und Blumen malte. »Seit ich die Armut mit eigenen Augen gesehen habe«, sagte sie. »Sie ist hier in unserer Stadt, und wir tun nichts dagegen.« 

         »Stellst du dich etwa auf die Seite dieser Anführer?«, fragte Vater. 

         »Welche Anführer?« 

         Die Männer schmunzelten spöttisch und ein wenig erleichtert. Victor ließ sich herab, es ihr zu erklären. »Einige Rädelsführer wollen die Stadt in Unruhe versetzen. Ist dir nichts aufgefallen? In den Kaffeehäusern, Lesekabinetten und Konditoreien drängen sich die Leute um die Zeitungen, Männer steigen auf einen Stuhl und lesen der Meute Artikel vor. Man verlangt Unterstützungskassen für Krankheit und Alter. Viele fordern sogar eine Verfassung.« (S. 39/40) 

Feuerland und das Leben der Arbeiter in Berlin um 1848 haben eine gewisse Konjunktur im historischen Roman. In Thomas Hettches gefeiertem Roman Pfaueninsel (2014) gibt es auch ein Feuerland-Kapitel, das vorletzte, das auf das Jahr 1860 datiert wird. Histo-couch.de führt Thomas Hettche allerdings nicht als Autor. Hettche veröffentlichte „Feuerland“ als eine Leseprobe in der Juli-Ausgabe 2014 von Sprache im technischen Zeitalter.[4] Bei Hettche hat sich die Armut in die „Obdachlosenkolonie am Kottbusser Tor“ verlagert. Die Familienhäuser sind kein Thema mehr. Nun gilt die Gegend vor dem Oranienburger Tor als Industrie- und Arbeiterviertel mit billigen Wohnquartieren. Die Armut wird bei Hettche erzählerisch weiter gestreut. 

… Während im Westen immer neue bürgerliche Viertel entstanden, sammelte sich dort (in den Vororten, T.F.), wohin sie jetzt fuhr, im Osten und im Norden der Stadt, die Armut, im Neu-Vogtland, in der Obdachlosenkolonie am Kotbusser Tor und in der qualvollen Enge im Scheunenviertel um die Neue Synagoge an der Oranienburger Straße, deren Bau erst im letzten Jahr begonnen worden war und wo die Juden sich niederließen, die vor den Pogromen in Rußland und Polen flohen. Hier war der Wohnraum billig, und hier vor dem Oranienburger Tor war auch Platz für die neuen Fabriken. 

         Feuerland, murmelte der Kutscher, sich nach ihr umsehend und in derselben Bewegung die Zügel anziehend, daß das Pferd hielt. Jenseits sah Marie Rauch, der zum Himmel stieg, und hörte ein unangenehmes Wummern, das, je näher sie gekommen waren desto lauter geworden war. Der Kutscher nickte in die Linienstraße hinein…[5]     

Die erzählerische Unschärfe in der Verortung von Armut bei Thomas Hettche hat auch einen leicht enthistorisierenden Zug, obwohl der Roman auch als Projekt einer Verdichtung der „Geschichte eines ganzen Jahrhunderts“ im Lebenslauf des kleinwüchsigen Schlossfräuleins Marie auf der Verlagsseite zum Roman angepriesen wird. Doch die Strategien der Datierung und Verortung fallen bei Hettche weitaus verschwommener aus als bei Titus Müller. Datierung und Verortung machen einen entscheidenden Zug des historischen Romans aus, ließe sich formulieren. Die sprachliche Zeige- und Verortungsgeste des „hier“ sticht sowohl bei Müller ─  „Dieses hier nennt man das Lange Haus.“ – als auch Hettche – „Hier war der Wohnraum billig, und hier vor dem Oranienburger Tor war auch Platz für die neuen Fabriken.“ – hervor. Streng historisch gesehen ist die Neuheit der Fabriken allerdings ein wenig gewagt. August Borsig hatte seine Eisengießerei und Maschinenbauanstalt bereits 1837 an der Ecke Chausseestraße/Schönhauser Communication gegründet und damit eine ungeheuerliche Dynamik entfaltet, die selbst einem kleinwüchsigen Schlossfräulein von der Pfaueninsel bis 1860 nicht entgangen sein dürfte.  

Datierungen und Verortungen erfüllen im historischen Roman wichtige literarische Funktionen, die als (historisches) Wissen gelesen werden können, nicht zuletzt weil die Geschichtswissenschaften ebenfalls mit ihnen arbeiten. Die Erfahrungen eines jungen Schweizers im Vogthlande verfahren nach dem Modell einer Ordnung von Armut nach Stuben, weil die Armut in den Familienhäusern allererst in Stuben sortiert worden ist. Allerdings dürfen drei Überlegungen nicht ganz aus außer Acht gelassen werden. Erstens hatte Bettina von Arnim durch Zeitungsanzeigen bereits ein breites Korrespondentinnennetz entwickelt, das dazu diente, Geschichten zur Armut zu sammeln. Zweitens engagierte sie sich selbst in der „Armen-Direction“ beim Ausbruch der Choleraepidemie im September 1831 und drittens wäre es durchaus denkbar, dass sie den  „jungen Schweizer“ oder wen auch immer für Interviews als Feldforschung zur Armut in die Familienhäuser geschickt hatte. Wissenschaftliche Arbeitsweisen waren ihr als Briefpartnerin von und Tagebuchschreiberin an Johann Wolfgang Goethe und als dessen Leserin seit 1807 durchaus zugänglich.  

Spätestens seit der Choleraepidemie von 1831 konnte Bettina von Arnim wenigstens als Zeitungsleserin von den Armutsverhältnissen in den vorstädtischen Bezirken gelesen haben. Am 21. Januar 1831 war ihr Mann Achim von Arnim auf Gut Wiepersdorf verstorben. Die prekären Lebensverhältnisse betrafen auch die verwitwete Mutter auf bürgerlichen Kreisen mit der Nähe zur preußischen Regierung. Am 14. September 1831 wird in der Beilage zu den Berlinischen Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen eine Bekanntmachung der Armen-Direktion veröffentlicht, in der zur Hilfe vor allem für die „Kinder der ärmeren Klasse“ aufgerufen wird.  

Getrost wenden wir uns mit einer Bitte an unsere Mitbürger! Die Kinder der ärmern Klasse laufen, wie Jeder sehen kann, zum Theil halb nackend in den Straßen umher, sehr viele ohne Fußbekleidung. Nun sind gewiß in jedem Haushalte Strümpfe, Schuhe, Stiefeln und andere Kleidungsstücke zu finden, welche nicht benutzt werden. Wäre es nicht gut, wenn Alle das, was sie zu entbehren können glauben möchten, zusammen suchten, und zur Abholung bereit hielten? Schon mancher Arme ist von milder Hand mit einer Leibbinde versehen worden, aber wie Vielen fehlt sie noch? …[6] 

Der historische Roman, wie er von Titus Müller mit Berlin Feuerland geschrieben wird, verarbeitet historisches Wissen, Quellen in Kombination mit einer identifikatorisch angelegten Protagonistin zu einer durchaus schwierigen Emanzipationsgeschichte, die mit einem Happyend schließt. Alice und Hannes werden ein Paar. Das geht dann vielleicht ein wenig zu glatt, lässt sich aber schön lesen. Der Anhang zum Roman bietet einen ausführlichen „historischen Hintergrund“ von „Geführte Touren durch die Elendsviertel“ (S. 453 ff) bis „Das Schloss“ (S. 474-476). Sogar eine Bücherliste zur „Vertiefung in die Themen des Romans“ (S. 477) wird geboten. In der Literaturliste taucht dann auch Bettina von Arnims Dies Buch gehört dem König auf. Die Historizität des historischen Romans wird durch den umfangreichen Anhang gleichsam noch einmal verortet. Die Frage allerdings nach der Erzählbarkeit einer Revolution wird durch die Geschlossenheit der Liebes- und Aufstandsgeschichte des Romans quasi weggebügelt, weil was erzählt worden ist, sich mit einem „historischen Hintergrund“ belegen lässt. 

Die Ausstellung Am Grundstein der Demokratie – Die Revolution 1848 und der Friedhof der Märzgefallenen im Volkspark Friedrichshain bietet ebenfalls eine bildhafte Erzählung zur Revolution von 1848. Diese Erzählung von der Revolution wird nicht als Liebesgeschichte, sondern als Ideen- und Demokratiegeschichte erzählt. Ein Bildelement muss dabei kurz erwähnt werden, weil es zwischen Verwechslung und Festschreibung pendelt. Auf dem Plakat der Ausstellung weht die schwarz-rot-goldene Trikolore der demokratischen Aufständischen in senkrechter Gliederung, was eine deutlichere Ähnlichkeit zur französischen Trikolore herstellt. Auf dem Titelbild zum Roman weht die Trikolore in waagerechter Einteilung. Beide Fahnen wurden 1848 entworfen und gebraucht. Doch die waagerechte Gliederung fügt sich bruchlos in eine Wahrnehmung ein, die die Forderungen der Revolutionäre von 1848 in der Bundesrepublik erfüllt sieht. Auf dem Plakat mit dem Bild vom Friedhof der Märzgefallenen, über dem die Trikolore weht, führt die Darstellung zu einer Wahrnehmung, die zumindest bei genauem Hinsehen ins Stocken gerät. Anders gesagt, der historische Roman generiert sich auch aus Wahrnehmungsmodi, die in der aktuell verbreiteten Wahrnehmung vorherrschen. Zur Einleitung heißt es in der „Broschüre zur Ausstellung“ denn auch eher zielsetzend: 

Der Friedhof der Märzgefallenen in Berlin-Friedrichshain steht neben der Frankfurter Paulskirche und der Festung Rastatt symbolisch für die Ideale der Revolutionäre von 1848. Er ist ein bedeutender Ort der deutschen Demokratiegeschichte. Nach den Barrikadenkämpfen am 18. und 19. März 1848 wurden im ersten kommunalen Park Berlins – damals noch außerhalb der Stadtmauer gelegen – 255 Opfer der Märzrevolution beigesetzt. Seither demonstrieren Berliner Demokraten an jedem 18. März für die Ziele der im Kampf um Demokratie und Freiheit gefallenen Revolutionäre.[7] 

Auf den Tafeln um das Denkmal für die Märzgefallenen werden auch die zerklüftete Geschichte des Ortes und seine wiederholte Instrumentalisierung in unterschiedlichen Systemen dokumentiert. Die andere Trikolore wird daher auch eher als eine Mahnung daran lesbar, dass ein historisch-revolutionärer Prozess nicht abgeschlossen, sondern immer wieder aufs Neue eingefordert werden muss. In der DDR erhielt der Ort eine wichtige legitimierende und stabilisierende Funktion für das System, weil der Prozess in der Staatsbildung als abgeschlossen proklamiert wurde, woran ebenfalls zu erinnern ist. Um es einmal gewagt zu formulieren: Vielleicht gibt es nichts Schwierigeres, als eine Revolution in ihren Prozessen sprachlich zu erfassen. Indem eine Revolution symbolisch wird oder ihr ein symbolischer Wert zugesprochen werden soll, findet sie auch nicht mehr statt. Doch das Stattfinden der Revolution gegen ein in Frage zustellendes Wertesystem macht sie allererst aus. Auf den Karten und Schautafeln der Ausstellung wird ein Wissen von der Revolution graphisch übersetzt, das sie auf andere Weise als in Titus Müllers historischem Roman ebenfalls bereits in der Erzählung verfehlen muss.  

Ein entlegenes Schriftstück im Landesarchiv Berlin geht unter Federführung von August Borsig 1848 auf die Forderungen der Arbeiter an die Unternehmer auf der Chausseestraße ein. Überraschend an den nun neuen Regelungen ist, dass auf diesem Flugblatt, das einem ersten Vertrag mit den Arbeitnehmern gleicht, nicht die großen Fragen der Sozial- und Krankenversicherung verhandelt werden, sondern eher kleine Probleme geregelt werden. So hatten die Arbeiter offenbar die Forderung gestellt, in den Pausen auf dem Werksgelände rauchen zu dürfen. Diese Forderung wird abgelehnt. Beschwert hatten sich die Arbeiter über korrupte Vorarbeiter, die Geld dafür verlangten, dass sie, neuzeitlich formuliert, Jobs bei Borsig vermittelten. Dies versprechen die Arbeitgeber und insbesondere August Borsig zu verfolgen. Anders gesagt: Revolutionen und ihre Dynamik können durchaus von geringfügigen Problemen, die sich zu einem explosiven Gemisch verdichten, in Gang gesetzt werden. Sogesehen bekommt Ludwig Feuerbachs Rezension zu Jacob Moleschots Lehre der Nahrungsmittel für das Volk mit dem Titel Die Naturwissenschaft und die Revolution im November 1848 noch einmal eine ganz andere Wendung.  

 

Torsten Flüh 

 

Titus Müller 

Berlin Feuerland 

Roman eines Aufstands 

München 2015 

Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 480 Seiten, 13,5 x 21,5 cm 

ISBN: 978-3-89667-503-3 

€ 19,99 [D] | € 20,60 [A] | CHF 28,50 * (* empf. VK-Preis)  

 

Thomas Hettche 

Pfaueninsel 

Köln 2014 

ISBN: 978-3-462-04599-4 

352 Seiten, gebunden 

Deutschland 19,99 € Schweiz 28,00 sFr Österreich 20,60 € 

 

Revolution! 

Paul Singer e.V. 

Linie 1848 

Busrundfahrt Samstag, 21. März 2015 

Treffpunkt: 11 Uhr Vorplatz am Haus der Kulturen der Welt, John-Foster-Dulles-Allee 10 

Beitrag: 5 Euro, ermäßigt 3 Euro (Schüler, Studierende, Arbeitslose) 

Anmeldung bitte an anmeldung@paulsinger.de oder unter 030/21472723

 

Und dann gibt es natürlich auch noch die Führungen von Berlin-Feuerland z.B.

Leben im Feuerschein der Eisengießereien

Samstag, 21. März 2015 11:00 bis 13:00 Uhr

Sonntag, 26. April 2015 11:00 bis 13:00 Uhr

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[1] Einladung des Paul Singer e.V. per E-Mail vom 16.03.2016

[2] Vgl.: Flüh, Torsten; O’Reagan, Colmán: Preussens Feuerland. Band 4. Berlin 2012. (Kindle Edition)

[3] Anm.: Ed. Kuntze, Pastor an der St. Elisabeth-Kirche schreibt 1855 in seiner Festschrift Das Jubiläum von Voigtland:

… Der Kammerherr von Wülknitz kaufte einen bedeutenden Bauplatz vom Gärtner Christian, unmittelbar am Hamburger Thor, links in der Gartenstraße, und erbaute vom Jahre 1820-24 fünf Häuser aus schlechten Steinen und schlechtem Holz mit Lehmstaaken, wo eine Stube von zwei Fenstern als Wohnung für eine arme Familie bestimmt wurde. Die Häuser sind gewöhnlich unter dem Namen der „Familienhäuser“ bekannt und heißen Gartenstraße Nr. 92 „das lange Haus“, Nr. 92a „das Querhaus“, Nr. 92b „das Schulhaus“, Nr. 93 „das kleine Haus“ und Nr. 94 „das Kaufmannshaus“. Kaum fertig, wurden die Wohnungen bezogen und Hr. v. W. nahm bedeutende Hypotheken auf diese Häuser auf; er ging mit den Kapitalien nach Paris, und die Creditoren verloren fast all‘ ihr Geld, indem ein Hr. Wiesecke die Häuser für ein sehr Billiges annahm. Dieser nahm ebenfalls bedeutende Hypotheken auf und ging nach kurzer Zeit mit dem Gelde wie sein Vorgänger nach Paris, wo er als homöopatischer Arzt sein Glück machte. …« (S. 18/19) Kuntze, Ed.: Das Jubiläum von Voigtland. Berlin 1855.

[4] Siehe Editorial und Leseproben in: Sprache im technischen Zeitalter Nr. 210, Juni 2014

[5] Hettche, Thomas: Pfaueninsel. Köln 2014.

[6] Zitiert nach Briese, Olaf: Angst in den Zeiten der Cholera. Panik-Kurve, Berlins Cholerajahr 1831/32 Seuchen-Cordon II. Berlin 2003. S. 149

[7] Paul Singer Verein: Am Grundstein der Demokratie… Die Revolution 1848 und der Friedhof der Märzgefallenen. Berlin 2013. S. 3