Der kreative Querlenker - Thomas Sattelbergers Hirschfeld-Lecture im Allianz Forum am Pariser Platz

Wirtschaft – Homosexualität – System

 

Der kreative Querlenker
Thomas Sattelbergers Hirschfeld Lecture im Allianz Forum am Pariser Platz 

 

Thomas Sattelberger gehört zu den erfolgreichsten Managern in der deutschen Wirtschaft zwischen Daimler-Benz, Daimler-Benz Aerospace, Deutsche Lufthansa, Continental und Deutsche Telekom AG, wo er bis 2012 als Personalvorstand und Arbeitsdirektor wirkte. Mit frühen Wurzeln in der Außerparlamentarischen Opposition (APO) Ende der 60er Jahre gehört Sattelberger zu den wenigen deutschen Topmanagern, die geschlossene Systeme aufsprengten und in Frage stellen. In seinem Buch Ich halte nicht die Klappe Mein Leben als Überzeugungstäter in der Chefetage (2015) fordert er gar „eine neue APO“.  Am 18. Februar hielt er im Forum der Allianz Versicherungsgruppe am Pariser Platz seine Hirschfeld Lecture unter dem Titel Vielfalt statt Einfalt Ein Appell für Freiheit und Pluralität statt Einfalt.

  

Der Vortrag von Thomas Sattelberger ist in mehrfacher ein Novum. Denn die 10. Hirschfeld Lecture wurde nun nach Dagmar Herzog, Andreas Kraß, Bertold Höcker, Walter Homolka, Claudia Breger, Robert Beachy u. a. zum ersten Mal von einem Spitzenmann aus der deutschen Wirtschaft gehalten. Aktive Wirtschaftsmanager äußern sich ähnlich wie Fußballspieler nicht zur eigenen Homosexualität. Auf Schreibtischen in deutschen Vorstandsetagen stehen häufig Familienfotos im gediegenen Rahmen selbst und möglicher Weise gerade dann, wenn der Mann auf dem Chefsessel schwul ist, wie Thomas Sattelberger in seiner Lecture am Rande erwähnte. Die 10. Hirschfeld Lecture spielte sich also nicht nur im Bereich von Wissenschaft, Geschichte, Theorie, Politik und Religion ab, wo gleiche Rechte für LGBTI*s diskutiert und eingefordert werden, sondern auf dem harten Parkett der Dax-Konzerne.

 

Das Allianz Forum am Pariser Platz 6 lässt sich nicht nur als ein Filetstück der Hauptstadtimmobilien am Brandenburger Tor betrachten, es soll, wie der Leiter Politik und Regulierung der Allianz Deutschland AG, Dr. Dirk Förterer, zur Eröffnung des anregenden Abends ausführte, ein Ort des Diskurses in unmittelbarer Nähe zur Politik sein. Geladen waren und angekündigt hatten sich mehrere Abgeordnete des Bundestages für den Abend. Doch während Dirk Förterer mit der Nähe zur Politik die Vielfalt im Personalmanagement des weltgrößten Versicherungskonzerns betont, ist es mittlerweile Thomas Sattelbergers sozusagen Mutter-Konzern Daimler, der im Bing-Ranking bei der Sucheingabe „Allianz Konzern Diversity“ explizit mit Diversity gleich hinter Allianz erscheint. Die Vielfalt wird noch nicht ganz explizit der Allianz Deutschland AG formuliert und repräsentiert, könnte fast der Eindruck entstehen.


© Bundesstiftung Magnus Hirschfeld 
 

Wenn die Vielfalt über die Gender Diversity als Frauenförderung hinaus LGBTI* und ihre Karrieren betrifft, dann tut sich das Personalwesen der Dax-Konzerne immer noch insbesondere in den Führungsetagen ein wenig schwer. Sichtbarkeit von Vielfalt findet im Dresscode der Dax-Konzerne nicht statt. Es geht immer noch ums „Outing“ in den Konzernetagen, das sich zum Nachteil für die Karriere auswirken könnte. Und auf subtile Weise passt die Lebens- und Liebespraxis von LGBTI*s eben doch nicht in die der Performance viriler, weißer Karrieretypen. Der Abstecher vom Betriebsausflug der Führungskräfte führt weiterhin als karriereförderndes Eliteverhalten in Wellnesssalons. Work hard, play hard, wird straight durchgezogen und generiert Eliten.


© Bundesstiftung Magnus Hirschfeld 
 

Thomas Sattelberger merkte zu seinem Outing am Rande des Gala Dinners der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld 2014 an, dass ihn „manche Medien nach dem Outing des früheren Fußballprofis Thomas Hitzlsperger unter Druck setzten“. Er „wollte … das Gesetz des Handels nicht aus der Hand geben.“[1] Die Nähe zum Fußball ist nicht nur durch Sattelbergers Website unüberhörbar. Sie hat viel mit bundesdeutschen Eliten, Normalisierungspraktiken und Karrieren zu tun. Die Hirschfeld Lecture von Thomas Sattelberger fiel im Allianz Forum nun deutlich als ein „Appell für Freiheit und Pluralität statt Normierung“ aus. Denn die Dresscodes der Führungskräfte sind nicht zuletzt Normierungspraktiken. Insofern heißt Outing, die Norm verlassen, um sichtbar und hörbar zu werden.  


© Bundesstiftung Magnus Hirschfeld

Mehr noch als mit der Frage von privat und öffentlich hat ein Outing mit Praktiken der Benennung, Verbalisierung und Visualisierung zu tun. Sattelberger setzt insbesondere seine Publikationstätigkeit ein, um Systeme und Machtstrukturen zu hinterfragen: „Für Deutschland wünsche ich mir einen Aufbruch aus selbstgefälliger Zufriedenheit und Scheingemütlichkeit, einen Ausbruch aus herrschenden Theoriekonzepten und Mustern, dominanten Ideen und ideologischen Zwangsjacken.“[2] Er knüpft damit deutlich an den französischen Soziologen Pierre Bourdieu und seiner Theorie der Praxis an, wie sie 1980 mit Le Sens pratique formuliert wurde. Dabei ist im Französischen der praktische Sinn ebenso einer, der aus der Praxis entsteht, wie er sinnlich wird. So gibt es für den Praktiker im Französischen die Formulierung des homme de sens pratique.


© Bundesstiftung Magnus Hirschfeld

Reemda Tieben hat zur Theorie als „praxeologische Theorie der Praxis“ 2003 darauf hingewiesen, dass für Bourdieu durch die „praxeologische Erkenntnisweise“ die „Einseitigkeiten (von Theorie oder Praxis) vermieden werden (könnten), und zwar aufgrund der Erkenntnis der Grenzen jeder theoretischen Erkenntnis. Man muss nach Bourdieu zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und gesellschaftlicher Praxis unterscheiden. Die wissenschaftliche Erkenntnis sei durch die Handlungsentlastetheit der Wissenschaftler geprägt“.[3] Doch Bourdieus Praxeologie ist weitreichender. Heute gibt es einerseits die Diskussion um die Theorie als Kulturpraktik mit Philipp Felschs Der lange Sommer der Theorie (2015)[4] und andererseits Theorie als spezifische literarische Praxis. Es sind nicht zuletzt die Nachwirkungen und Anknüpfungen an die Praxeologie Pierre Bourdieus, die aktuell eine breite Rezeption erfahren. Kapitalismuskritik und alternatives Handeln werden gerade unter jungen Studierenden in Bourdieu-Lektüren miteinander verknüpft.  


© Bundesstiftung Magnus Hirschfeld

In seiner Vorrede zu Raisons pratiques. Sur la théorie de l’action, deutsch Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, hat Pierre Bourdieu 1994 auf das Problem der Theoriesprache hingewiesen. Sie ist eng verknüpft mit einem Denken der Relationen im Unterschied zu Realitäten oder gar einem „Realitätsprinzip“, wie es gegenwärtige selbst in der Literaturwissenschaft eine gespenstische Rückkehr erfährt. Als Soziologe entfaltet Pierre Bourdieu ein kritisches Denken von den Praktiken her, weil er das Problem der Sprache und des Sprachgebrauchs in Anschlag bringt. 

Schlimmer noch, ich weiß, daß ich, wenn ich als Zugeständnis an den gewöhnlichen Sprachgebrauch von diesen Prinzipien als von einer Philosophie spreche, die Gefahr heraufbeschwöre, sie in theoretische und nur theoretisch abhandelbare Sätze verwandelt zu sehen, aus denen der Vermittlung der stets gleichen, kontrollierten Handlungs- und Denkweisen, die eine Methode ausmachen, nur neue Hindernisse erwachsen können.[5] 

Bourdieus Begriff der Freiheit, an den Thomas Sattelberger mit dem Untertitel seiner Hirschfeld Lecture – Ein Appell für Freiheit und Pluralität statt Einfalt – anknüpft, revidiert jenen „viele(r) Intellektuelle“. Denn sie halten nach Bourdieu an den Dichotomien von „Individuum/Gesellschaft, individuell/kollektiv, bewußt/unbewußt, interessengeleitet/interessenfrei, objektiv/subjektiv usw.“ fest, während es ihm darum geht „jene Freiheit zu erlangen, die sich den sozialen Determinismen mit Hilfe der Erkenntnis dieser sozialen Determinismen immerhin abringen läßt“.[6] Die Freiheit betrifft dabei nicht zuletzt das Geschlecht als Kategorie, Herkunft und Zugehörigkeit. Auf diese Weise wird Bourdieu zu einem soziologischen Vordenker für gleiche Rechte für Schwule, Lesben, Bi-, Trans- und Intergeschlechtliche, die eben jene sozialen Determinismen immer schon quer praktizieren. Die Freiheit wird entsprechend von Bourdieu praxeologisch, vom Handeln her formuliert.     


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Die entscheidende Verschiebung von der Theorie zur Praxis wird insbesondere für Geschlechterfragen in deutschen Wirtschaftsunternehmen deutlich. Thomas Sattelberger verknüpfte in seinem Vortrag die Geschlechterfragen im weiteren Bedeutungsspektrum von Herkunft, Identität und Unternehmenskultur mit der „Uniformierung“ im VW-Konzern, die zu katastrophalen Folgen der Innovationsverhinderung, der Anpassung und des Beipflichtens geführt hat. Anders gesagt: der sogenannte Abgasskandal ist einer der gleichmachenden Uniformierung im Konzern. Weil sich alle Akteure der Gewinnoptimierungsmaxime unterworfen haben und die Idylle der Autobauer im Eigenheim mit Fußballstadion-Dauerkarte funktionierte, konnte es in einer Monokultur der Herrschaft überhaupt zum Abgasskandal kommen. Oder auch mit den Worten des VW-Elektrikers Volkhard Lorenz im Zeit-Dossier Ende Dezember 2015: 

Wenn du da oben mit einer schlechten Nachricht kommst, heißt es E-de-Ka – Ende der Karriere.[7]

 

Die Unternehmenskultur als Geschlecht der Wolfsburger Autobauer generiert seine eigenen Wortspiele wie „E-de-Ka“ und findet seine Visualisierung als weißer, deutscher Mann in glühender Liebe zum Fußball. Die Praxis der Unternehmenskultur wird naturalisiert und individualisiert, als ginge es gar nicht anders. Vermeintlich folgt sie der Maxime einer ökonomischen Theorie und richtet wirtschaftliche Schäden im zweistelligen Milliardenbereich an. Das Theoriewissen der Ökonomie generiert ein geschlossenes System. Mit Lorenz‘ nur allzu deutlicher Formulierung wird nicht allein eine Vermeidungsstrategie des Mundhaltens bei systemischen Fehlern ausgesprochen, vielmehr wird eine hierarchische Struktur beschrieben, die das Idyll am Abendbrottisch gewährleistet, abgesichert hat. Nicht die Gefährdung der Normalität durch das Fehlverhalten der Unternehmensführung wird zum Skandal, sondern dass sie aus sozialen Determinismen generiert wird, die als Identität der Arbeiter in den Montagehallen von VW wahrgenommen wird.  


© Bundesstiftung Magnus Hirschfeld

Thomas Sattelberger trifft mit seinem „Appell für Freiheit und Pluralität statt Normierung“ ins Schwarze. Denn die Rechte von Lesben, Schwulen, Bis, Trans- und Intersexuellen werden dort am heftigsten in Frage gestellt, wo ehemalige deutsche Spitzenunternehmen wie VW oder die Deutsche Bank in eine Elitekrise geraten sind. VW, Deutsche Bank, Siemens sind keine Opfer von Wirtschaftskrisen, sondern Krisen der Eliten, die ihre Entscheidungen und Macht durch Ausschließungen generieren, wie sie ansatzweise von Andres Veiel 2013 im Deutschen Theater in Das Himbeerreich und ausführlich von Marc Borst und Andres Veiel am 30. Oktober 2015 im Zeit-Dossier Sie nennen es das Sterbehaus thematisiert wurden. Besonders mit dem Begriff des Habitus als gesellschaftliche Gepflogenheiten, dem vermeintlich Weichen des harten Frankfurter Parketts wird von Borst und Veiel scharf herausgearbeitet. 

In der Frankfurter Finanzszene beschränkt sich das gesellschaftliche Drumherum ja nicht nur auf die eigene Bank oder die eigene Anwaltskanzlei: Man sieht sich zu Hause im Taunus, wo fast alle Führungskräfte wohnen; man trifft sich beim Opernball oder beim Neujahrsempfang der Deutschen Börse. Auch heute gehen die Ehemaligen noch einmal die Woche zusammen Mittagessen, ein paar Schritte zu Fuß hinüber in die "Frankfurter Gesellschaft", ihren noblen Herrenklub, wo man sie kennt und wo sie begrüßt werden wie früher. Ein Abtrünniger dagegen bekommt keine Einladungen mehr, oder er sitzt am Katzentisch, wenn er doch noch welche bekommt. Er gehört dann nicht mehr dazu.[8]      

Das „Drumherum“ gehört entscheidend zum Frankfurter Finanzsystem - nicht nur zur „Finanzszene“ - und seiner Elitenkultur. Es ist so mächtig, dass es die ehemaligen Vorstände der Deutschen Bank, die im „Sterbehaus“ durch die Gnade der Elite überleben dürfen, zum Schweigen bringt. Sie wollen keinesfalls riskieren, nicht mehr daran teilhaben zu dürfen. Mehr als eine Kultur riskanter Geldoperationen, um die es Andres Veiel geht, schimmert im Finanzsystem eine des Schweigens und Verschweigens durch. Die Mechanismen von Elitebildung funktionieren durch Praktiken der Initiation als Einschließung und des Ausschlusses. Thomas Sattelberger kritisiert sie in seiner Hirschfeld Lecture, die demnächst in der gleichnamigen Vortrags- und Schriftenreihe des Wallstein Verlags erscheinen wird, scharf. Er plädiert für offene Systeme, die auch eine Offenheit der Eliten erforderte, um Innovationen in der Wirtschaft zu ermöglichen. Denn wie die „Frankfurter Finanzszene“ so wird „Deutschland … innovationsarm“, laut Sattelberger.


© Bundesstiftung Magnus Hirschfeld
 

Die Innovationsarmut, von der wohl leider in der deutschen Wirtschaft im internationalen Vergleich gesprochen werden muss, schlägt sich nicht zuletzt im Investitionsklima nieder. Statt Innovationen im Automobilsektor zu fördern, verstanden die Wolfsburger Konstrukteure die Digitalisierung des Autos als Möglichkeit aus Kostengründen Innovation zu verhindern. Dass Thomas Sattelberger sich die scharfe Kritik an VW erlaubt, hat nicht nur etwas damit zu tun, dass er als ehemaliger Personalchef der Telekom für Zukunftsentwicklungen mit verantwortlich war, vielmehr kennt er die Notwendigkeit von „kreativen und diversen Problemlösungsstrategien“ und Diversität als „Talentmagnetismus“.


© Bundesstiftung Magnus Hirschfeld 

Thomas Sattelberger befasst sich mit den harten Themen und Schulfächern Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik, indem er sich für die MINT-Initiative in Deutschland und an deutschen Schulen einsetzt. 2013 hat er an der Universität Paderborn, „Die Universität der Informationsgesellschaft“, auf dem Absolvententag der Fakultät für Elektrotechnik, Informatik und Mathematik seinen Vortrag Warum hat Deutschland nur eine SAP, aber so viele Automobilhersteller? gehalten. Er beherrscht das Lesen von Statistiken gegen den Strich und die Argumentation mit harten Zahlen, indem er mit seinen Zukunftsprognosen von einer Maxime ausgeht, die das Versprechen des Erfolgs mit einer englischen Formulierung umkehrt. Durch die Operation der Umkehrung des dem Erfolg immanenten Versprechens auf seine Perpetuierung gelangt Sattelberger zur Warnung vor einer „fehlenden Veränderungskultur“.  

„Success is the origin of failure“ – Erfolg ist die Saat für Misserfolg. Die Erosion von Geschäftsmodellen – egal ob einer Volkswirtschaft oder eines Unternehmens – hat ihren Ursprung oft in der durch den Übermut des Erfolges fehlenden Veränderungskultur.[9]  


Graphik aus: Thomas Sattelberger: Warum hat Deutschland nur eine SAP, aber so viele Autohersteller? (2013)

Bild wird der Erfolg der deutschen Industrie in einer Collage eines Fotos aus einer Automontagestraße von BMW (?) mit den Lobreden auf die deutsche Industrie in der zweiten Jahreshälfte 2012, die allerdings von der unterbrochenen Frage „Lobpreisung der deutschen Industrie… …doch sind wir für die Zukunft gerüstet?“ gerahmt und umgekehrt wird. Das Bild des Erfolgs, an dem möglichst jeder teilhaben möchte, wird auf diese Weise fast schon prophetisch 2013 gebrochen. Anstatt sich den Lobreden der Presse anzuschließen, formulierte Sattelberger die Schwachstellen, die sich bereits in den Statistiken lesen ließen.  

Vielerorts wird Deutschland als Modell für industrielles Wachstum, Beschäftigung und Wetterfestigkeit gesehen. Doch bei genauerem Hinsehen gibt es einige Schattenseiten. Deutschland hat nur 5% Anteil am IKT-Weltmarkt. Die USA haben als Marktführer einen Anteil von rund 29%, Japan rund 9% und China rund 7%.[10]      


Screenshot: The Creative Class Group. 

Neben Pierre Bourdieu knüpft Thomas Sattelberger an den außerordentlich einflussreichen Soziologen, Urbanisten und Wirtschaftstheoretiker Richard Florida an, der mit dem Begriff der „Kreativen Klasse“ bzw. „Creative Class“ seit 2002 ein Umdenken in der Stadtentwicklung propagiert. So hat sich eine „Creative Class Group“ als „a global advisory services firm composed of leading next-generation researchers, academics, and business strategists“ als ebenso philanthropische wie wirtschaftsstrategische Plattform mit Bill Clinton etc. als Unterstützer im Internet etabliert. Einerseits geht es Florida darum, ein Umfeld für Start-up-Unternehmen zu schaffen, das Städte und Regionen als Wirtschaftsstandorte nach den Kriterien von Toleranz, Talent, Technologie beurteilt. Andererseits ist Floridas Wirtschaftstheorie deutlich praxeologisch ausgerichtet, weil es darum geht, ein Milieu zum Machen zu schaffen. Als Berater für Städte, die ein solches Milieu schaffen wollen bzw. müssen, hat Florida nach Sattelberger einen Toleranzindex entwickelt, der „den Anteil der im Ausland geborenen Bevölkerung, den Wähleranteil rechtsextremer Parteien, den Anteil der Homosexuellen und den Anteil der Creative Professionals, von Forschern und Rechtsanwälten über Ingenieure und Ärzte bis hin zu Künstlern, Musikern, Graphikern und Sportlern“ berücksichtigt.[11]


Screenshot: Richard Florida at Novo Nordisk Cities Changing Diabetes Summit, January 5th 2016. 

Der von Richard Florida entwickelte Toleranzindex muss allerdings mit dem Talent- und dem Technologieindex korrelieren, um ein optimales Milieu für „next-generation … business strategists“ und die Kreative Klasse zu schaffen. Im Unterschied zu Wolfsburg oder Stuttgart liegt Berlin beim Toleranzindex weit vorn. Entscheidend ist allerdings, dass der Toleranzindex die Forderung nach Diversität in harte Zahlenwerte bzw. Kennzahlen übersetzt oder umrechnet. Atmosphärische Stimmungen werden somit in Zahlen transformiert oder wie es auf der Website der Creative Class Group heißt: „Data-driven ideas to reach the Creative Class.“ Richard Florida und seine Frau Rana präsentieren sich im „multimedia showcase“ nicht zuletzt in einer Mischung aus Wissenschaftler, Forscher, Politiker, Moderator sowie mit quadratischer Intellektuellenbrille u. a. mit einem Ledermann in vollem Outfit. 

In seiner Hirschfeld Lecture weist Thomas Sattelberger daraufhin, dass Intoleranz ein Innovationskiller ist. Er gehört nicht zuletzt dem Beirat für Fragen der Inneren Führung des Verteidigungsministeriums an, der „sich aus Persönlichkeiten zusammensetzen (soll), die auf Grund ihrer beruflichen Tätigkeit und ihrer Stellung im öffentlichen Leben besondere Erfahrungen in der Erziehung und Menschenführung besitzen“. Er soll „mindestens zehn, höchstens 25 Mitgliedern bestehen“[12], womit Thomas Sattelberger als Mann der Wirtschaft zu den höchstens 25 Personen gehört, die für die Reformen der Bundeswehr wenigstens mit verantwortlich sind. Auf die detaillierte Ausarbeitung und Veröffentlichung der 10. Hirschfeld Lecture darf man also gespannt sein.  

 

Torsten Flüh 

 

Hirschfeld Lectures 

Thomas Sattelberger 

Vielfalt statt Einfalt 

Ein Appell für Freiheit und Pluralität statt Normierung (Bd. 10) 

Wallstein Verlag 

9,90 € 

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[2] ebenda

[3] Reemda Tieben: „Praxeologische Theorie der Praxis“. In: Barbara Stollberg-Rilinger: Einführung in die Frühe Neuzeit. Münster (Universität Münster), 2003.

[4] Philipp Felsch: Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960-1990. München: C.H.Beck, 2015.

[5] Mit dieser Formulierung stellt Bourdieu ebenfalls das wissenschaftliche Verfahren einer Methodologie in Frage. Pierre Bourdieu: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Frankfurt am Main: edition suhrkamp, 1998, S. 8.

[6] Ebenda S. 8-9.

[8] Marc Borst, Andres Veiel: Sie nennen es Sterbehaus. In: Zeit-Online 30. Oktober 2015 / DIE ZEIT Nr. 43/2015, 22. Oktober 2015, S. 5/6.

[9] Thomas Sattelberger: Warum hat Deutschland nur eine SAP, aber so viele Automobilhersteller? Reflexionen zur MINT-Unternehmenslandschaft in Deutschland. Paderborn: Universität Paderborn, August 2013, S. 4.

[10] Ebenda S. 5.

[11] Ebenda S. 33.

[12] Bundesministerium der Verteidigung: Beirat Innere Führung. (03.12.2013)