Das Ding mit der Kleidung - Zur Buchvorstellung Von Kopf bis Fuß im Museum der Dinge

Kleidung – Ding – Zeichen 

 

Das Ding mit der Kleidung 

Zur Buchvorstellung Von Kopf bis Fuß im Museum der Dinge 

 

Christine Kutschbach und Falko Schmieder haben ein besonderes Modebuch herausgegeben: 50 Kurzessays mit 77 Abbildungen. Es versammelt zusammen mit der Einführung nicht weniger als 50 kürzere „Bausteine zu einer Kulturgeschichte der Kleidung“ und heißt schlicht Von Kopf bis Fuß. Doch das ist nicht nur ein modischer Spleen, der sich bekanntlich schwer einordnen lässt. Vielmehr ist es „Sigrid Weigel gewidmet, im zwanzigsten Jahr des ZfL“ und damit erstens ein Abschiedsgeschenk für die prägende, nunmehr ehemalige Direktorin des Zentrum für Literatur- und Kulturforschung sowie zweitens ein Sammelband von Mitarbeiterinnen und Ehemaligen dieser Einrichtung der Geisteswissenschaftlichen Zentren Berlin. Von der Alltagsmode des Trainingsanzuges bis zum avancierten Raumanzug erforschen die Essays auf witzige Weise die Welt der Kleidung und ihrer Moden.

 

Am Montagabend wurde das Buch im Museum der Dinge mit einer Lesung von drei Kurzessays vorgestellt. Der Genius Loci im 3. Stock der Oranienstraße 25 als einer der angesagtesten Straßen in Berlin überhaupt und über den Räumen der nGbK, neue Gesellschaft für bildende Kunst, erinnerte daran, dass Kleidungsstücke Dinge sind. So lassen sich denn auch im Museum der Dinge als Archiv des Werkbundes von der Haarspange aus Zelluloid über den Lackschuh von Gabriele Rérat in der Sonderausstellung Sehwaisen und den massiven Metallkleiderbügel bis zum Modepuppenkopf mancherlei Utensilien finden, die mit der Kleidung und vor allem auch dessen Material wie Design in Verbindung stehen.

 

Das Material der Kleidung spielte auch in den Lesungen der Kurzessays von Uta Kornmeier mit Tradition im Schafspelz. Der Norwegerpullover, Matthias Schwartz mit Gagarins Raumanzug und Hannah Markus‘ mit Modesünde, Statussymbol, Stereotyp. Der Trainingsanzug im Museum eine wichtige Rolle. Denn die Entstehung des Museums der Dinge und seiner Sammlung ist selbst mit der Materialfrage im 20. und 21. Jahrhundert verbunden. Es ist nämlich nicht zuletzt die „Materialgerechtigkeit“, die die Diskussionen des Werkbundes durchzieht. 

… Über die Etablierung ethisch fundierter Werte wie Qualität, Materialgerechtigkeit, Funktionalität und Nachhaltigkeit wollte der Verband einen neuen Verständigungszusammenhang zwischen den unterschiedlichen Handlungsbereichen schaffen: dem Entwurf, der Produktion, dem Vertrieb und dem Konsum von Waren. Neben der Einflussnahme auf ein zeitgemäßes Gestalten von Dingen und Ensembles war die ästhetische Bildung Kernaufgabe des DWB – durchaus im Sinne der individuellen Selbstbestimmung. (Historisches Kernthema)

 

Exponate des Museums haben es nicht nur in einer Diskussion um eine Alltagskultur seit den 70er Jahren zu kulturwissenschaftlicher Prominenz gebracht. Vom Klapptoaster der 60er Jahre, der gerade bei Manufaktum im Remake von 1959 wieder groß in Mode ist, bis zum Netzteil werden Ausstellungsstücke zwischen Kunst und Kultur zu Akteuren in verschiedenen Kulturgeschichten. 2014 hat Sebastian Gießmann in seiner kulturwissenschaftlichen Studie Die Verbundenheit der Dinge. Eine Kulturgeschichte der Netze und Netzwerke ein „Netzteil“ aus dem Museum der Dinge zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen „für die alltägliche Materialität von Kommunikationsnetzwerken“ gemacht.[1] Die „Sammlung“ mit ihrer Kuratorin Imke Volkers ist dementsprechend „als "Offenes Depot"“ konzipiert und „wird im Rahmen von Ausstellungsprojekten ständig neu befragt, weiterentwickelt und kommentiert“.[2]

 

Die einzelnen, durchaus kurzweiligen Essays in Von Kopf bis Fuß sind ein veritabler Beitrag zur Materialdebatte in den Kulturwissenschaften. Denn das Schafswollmaterial des Norwegerpullovers und seine Produktion durch Handstricktechnik werden von Uta Kornmeier einsetzend mit seinem spektakulären Auftritt im März 1983 auf dem Parkett des Hohen Hauses, dem Deutschen Bundestag in Bonn, auf seine Herstellung, Medialisierung und Popularisierung mit verblüffenden Einblicken untersucht. Das Protestkleidungsstück der neuen Partei Die Grünen wird in seiner widersprüchlichen und nachträglichen Konstruktion, in seiner für einen Moment aufblitzenden Zeichenhaftigkeit, ausgelegt. Die Kleiderordnung des Parlaments – das Damenjackett harrt seiner essayistischen Analyse – wurde mit dem Norwegerpullover ebenso effektvoll wie effektiv durchbrochen. 

… Von Hand aus natürlichen, nachwachsenden Rohstoffen gefertigt, robust, bequem und mit zeitlosem traditionellen Design steht der >Norweger< in Deutschland für das Gegenteil von Industrialisierung und Globalisierung, Umweltverschmutzung und Raubbau an der Natur, Konsumwahn und Körperfetischismus.[3]

 

Kleidungsstücke zirkulieren als Zeichen nicht nur in der Modewelt, sondern auf vielfältige Weise und mit sich ständig verschiebenden Praktiken im Alltag und den Kulturen. Sie werden zu Zeichen in der Kulturwelt des Theaters, wie Stefan Willer mit dem Garderobenzwang und einer „Art von Spiegelverhältnis zwischen Kleiderordnungen der Schauspieler und der Zuschauer“ entfaltet[4], oder lassen sich unablässig in anderen Modekontexten einsetzen, wie es Hannah Markus mit dem Wandern des Trainingsanzugs vom Sportplatz über 1979 die Münchner Leopoldstraße und Discos in die Rapper-und-Hiphop-Szene bis ausgerechnet „Karl Lagerfelds Designs für Chanel“ vorführt.[5] Allererst in der Weise, wie und wo die Kleidungsstücke kombiniert und gebraucht werden, signalisieren sie Werte, werden entwertet und neu bewertet.

 

Zwischen Einzelstück im Originalschnitt der Haute Couture und massenhaft gefertigter Kopie wird das Kleidungsstück ständig anders eingesetzt und übergezogen. Es erfährt gar als Vintage-Kleidung oder Retromode eine Übertragung in gänzlich verschiedene Kulturbereich oder -schichten. Insofern ist das Kleidungsstück unablässigen Übertragungen und Transformationen unterworfen, wie es Christine Kutschbach und Falko Schmieder in ihrer Eröffnung als Kulturwissenschaft unter Anknüpfung an Sigrid Weigel formulieren: 

Kulturwissenschaft ist in dieser Perspektive Übertragungsforschung, Schwellen- und Transferkunde, eine Arbeit an Übergängen, Bruchstellen, Verwerfungen und Verwebungen, eine Operation an verschiedenen Texten und Texturen, die in Form stereoskopischer Zugänge erschlossen werden.[6]      

 

Die Kurzessays und eben keine apodiktischen Aufsätze als Textform machen das Buch gut lesbar und sorgen sowohl für eine methodologische Pluralität wie abwechslungsreiche Gegenständlichkeit von der „queere(n)“ „Holo-Haube“ im Helmbrecht des Wernher der Gartenære in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhundert[7] bis zu Gagarins verspätetem, dysfunktionalen Raumanzug.[8] Texte und Texturen bringen den völlig dysfunktionalen Helm von Gagarins Raumanzug hervor, um letztlich die Literarizität seiner Weltraumfahrterzählung – „in blumigen Worten die »wunderbare Schönheit« und »heiße Sohnesliebe«, die ihn beim Anblick seines Heimatplaneten aus dem Weltall überflutet habe“ – mit dem Raumanzug und seinem Helm konkurrieren zu lassen. Christopher Rileys Film The first Orbit, lässt in dieser Hinsicht gerade nicht Sehen, was Juri Gagarin sah, wie der Berichterstatter noch zum 50. Jubiläum 2011 anzunehmen geneigt war: 

Tatsächlich war die Freude eher gering, hatte man den Helm doch so fest auf dem Raumanzug fixiert, dass Gagarin ihn kaum bewegen konnte; sein Bewegungsradius betrug lediglich 7 Grad. Hinzu kam, dass die Luke der Raumkapsel, durch die er nach außen blicken konnte, maximal weit von seinem  Sitzplatz entfernt lag…[9]

 

Das Sachbuch über die Sachen ist überaus leserinnenfreundlich*, weil die Kurzessays weder anthropomorph, vertikal vom behelmten Kopf bis zum Schuh in Monika Wagners Das Leder des Schuhs noch chronologisch vom 13. bis ins 21. Jahrhundert von Schland-Dirndl und Gesichtstrikolore der Fußballturniere von Andreas Keller gelesen werden müssen. Das heißt auch, dass das Buch nicht von vorne nach hinten gelesen werden muss, sondern aufgeblättert werden kann, so dass sich über die Lektüren der Essay verblüffende Querbezüge zwischen dem Helm bei Gagarin und jenem bei Wernher der Gartnenære herstellen können. Auch die Verkürzung und Ironisierung von Deutschland zu Schland mit Uwu Lenas und Christian Landgrafs Weltmeisterschaftsliedtext von 2010 lässt sich mit dem „Bildprogramm der Haube“[10] des Helmbrecht als mittelhochdeutsche „textura/Text“ im Lesen kontextualisieren. Gehörte doch einst das sprachhistorische Studium des Mittelhochdeutschen zum verpflichtenden Curriculum eines Germanistikstudiums.

 

Die Verschaltung des Körpers mit den Datenströmen und Datenbanken in Clouds durch Fitbit oder IWatch als Bekleidungsaccessoire hat geradezu zu einer „Verwissenschaftlichung und Technifizierung“[11] nicht nur der Kleidung, sondern der Lebens- als Fitnesspraxis geführt. Japanische Microfasern bringen „Heattech“ hervor und versprechen einen wärmeren Winter in Leichtbekleidung. Kleidung und Bekleidungsaccessoires sind längst keine regionale Frage mehr, sondern stellen selbst Kinder und Jugendliche beim T-Shirt-Kauf vor die Nachhaltigkeitsfrage. Kleidung findet immer in einem breiten medialen Kontext der Kulturen statt. Nur ein bewusstes Ausblenden dieser Kontexte erlaubt heute noch den Nerzmantel oder den Kauf des Billig-Kleidungsstücks aus Bangladesch, woran auch Kutschbach und Schmieder erinnern: 

Verheerende Unglücksfälle wie zuletzt der Einsturz der Textilfabrik Rana Plaza in Bangladesch bringen für kurze Zeit ins Bewusstsein, was ansonsten verdrängt wird: dass nämlich ein nicht geringer Teil der Kleidungsproduktion insbesondere in den sogenannten Entwicklungsländern unter katastrophalen sozialen und hygienischen Bedingungen abläuft. Der Zusammenhang von Kultur und Barbarei, den Walter Benjamin gegen ein bildungsbürgerliches Verständnis von Kultur herausgestellt hat, lässt sich dennoch gerade auch an den profanen Gegenständen der Kleiderwelt greifen.[12]  

 

Eine Besprechung des Buches in den deutschsprachigen Modezeitschriften wäre nicht zuletzt vor dem Produktionshintergrund von Kleidungsstücken zu wünschen. Und fast sieht sich der Berichterstatter beim Sichten der Verlagsseite zu Von Kopf bis Fuß schon angenehm überrascht. Bei den Rezensionen wird auf einen Link zur Vogue (Oktober 2015) verwiesen. Die Rezension ist allerdings noch viel magerer als ein, Pardon, Magermodel: 50 ESSAYS ZUR GESCHICHTE DER KLEIDUNG VON RÜSCHE BIS RAUMANZUG IM SAMMELBAND „VON KOPF BIS FUSS“. KADMOS, 24,90 €. Für die majuskelöse „KULTUR“-Seite 194 ist das dann zwischen „Stoff-Proben Das Buch Frauen und Kleider erzählt, wie Mode im Alltag ge- und erlebt wird“ und „FASHION-TRIPS“ durchaus ein Statement. Das Bildungs- und Bekleidungsorgan Vogue fasst sich knapp. Aber immerhin, was wohl auch der Kulturverlag Kadmos gedacht haben mag. Oder anders: Die Verwendung der Majuskel macht eben noch keinen Kultur-Unterschied zum Trainingsanzug von „Cindy aus Marzahn“.[13]

 

Kleidung und sich zu kleiden wird heutzutage insbesondere unter jungen, gut ausgebildeten Menschen mit einer großen Nachhaltigkeitserzählung unter dem Namen „Veganismus“[14] verknüpft. Im Daluma Laden im Weinbergsweg werden eben nicht nur die besten Säfte mit dem Super- und Brainfood verknüpft, sondern auch Daluma-Decken zum Wohlfühlen: Der Veganismus ist keinesfalls eine Philosophie, sondern die Transformation des Materialismus von Jacob Moleschott und Ludwig Feuerbach in Lebenspraxis, wie Anfang des Jahres besprochen. Das Leder des Schuhs bzw. der Lederschuh selbst als Lackschuh ist mit René Mageritte nicht nur „ein monströser Brauch“, woran Monika Wagner anknüpft.[15] Vielmehr wird die Tierhaut Leder so sehr zum Problem von Wissen und Bildung, dass Dear Goods mit einer Dependance in der Schivelbeiner Straße im Prenzlauer Berg neben dem Veganz Supermarkt eröffnet und eine eigene Kleidungslinie entwickelt hat: „Animal Human Ecofriendly“.   

 

Bildung, und das hat Vogue möglicherweise noch nicht ganz als Trend erfasst, lässt sich heute nicht mehr in einem kanonisierten Bildungsbegriff fassen, sondern wuchert und verwebt sich überall dort, wo Wissen verarbeitet und generiert wird. Einerseits sind das Internetforen, andererseits Kultureinrichtungen wie das Haus der Kulturen der Welt, wo beispielweise das Anthropozän-Projekt zwischen Vortrag und Kunstausstellung Erzählungen von der Erde miteinander in Austausch brachte. Kleidung ist, wie Christine Kutschbach und Falko Schmieder mit dem von ihnen initiierten Band deutlich werden lassen, in kulturelle Prozesse des Erzählens und der Wissensverarbeitung eingebunden. Die Modetrends werden, einmal abgesehen von Modezyklen und Konzernstrategien, innerhalb der Kulturprozesse vorformatiert, weil sich die Materialien und Dinge in den Prozessen unablässig transformieren. 

 

Torsten Flüh 

 

VON KOPF BIS FUSS 

Bausteine zu einer Kulturgeschichte der Kleidung 

LiteraturForschung Bd. 26 

336 Seiten, 12 x 19 cm, gebunden, 

77 Abbildungen (zahlreiche farbig) 

ISBN 978-3-86599-289-5

 

Museum der Dinge
Werkbund Archiv

Oranienstraße 25 

3. Etage (mit Fahrstuhl) 

10999 Berlin 

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[1] Sebastian Gießmann: Die Verbundenheit der Dinge. Eine Kulturgeschichte der Netze und Netzwerke. Berlin: Kadmos, 2014, S. 7. (bei Kadmos)

[2] Museum der Dinge. Zur Institution.

[3] Uta Kornmeier: Tradition im Schafspelz. Der Norwegerpullover. In: Christine Kustschbach, Falko Schmieder (Hg.): Von Kopf bis Fuß. Bausteine zu einer Kulturgeschichte der Kleidung. Berlin: Kadmos, 2015, S. 301. (bei Kadmos)

[4] Stefan Willer: Garderobenzwang. Bemerkung zur Kleiderordnung im Theater. In: Ebd. S. 167.

[5] Hannah Markus: Modesünde, Statussymbol, Stereotyp. Der Trainingsanzug. In: Ebd. S. 311.

[6] Christine Kutschbach, Falko Schmieder: Von Kopf bis Fuß. … In: Ebd. S. 16.

[7] Matthias Däumer: Unter der Holo-Haube. Ein Gedanke zum Helmbrecht des Wernher der Gartenære. In: Ebd. S. 31.

[8] Matthias Schwartz: Gagarins Raumanzug. In: Ebd. S. 26.

[9] Ebd.

[10] Matthias Däumer: Unter … [wie Anm. 7] Ebd.

[11] Christine Kutschbach … [wie Anm. 6] S. 13.

[12] Ebd.

[13] Hannah Markus: Modesünde … [wie Anm. 5] S. 310.

[14] Christine Kutschbach … [wie Anm. 6] S. 14.

[15] Monika Wagner: Das Leder des Schuhs. In: Ebd. S. 276.