Realitätserweiterung mit Kohle und Ameisen - Eine Nachlese zum Festival Foreign Affairs und William Kentridges Arbeiten

Performance – Liederzyklus – Künstlerbuch 

 

Realitätserweiterung mit Kohle und Ameisen 

Eine Nachlese zum Festival Foreign Affairs und William Kentridges Arbeiten

 

Die gute Nachricht ist, dass William Kentridges Ausstellung NO IT IS ! noch bis zum 21. August im Martin-Gropius-Bau besucht werden kann. Zu betrachten sind in der Ausstellung insbesondere die vielfältigen Medienkombinationen, mit denen der Künstler arbeitet. Im Rahmen des Festivals Foreign Affairs ließen sich die faszinierenden Kombinationen und ihre Effekte mit Ubu and the Truth Commission ebenso wie einer Aufführung von Franz Schuberts Winterreise mit Matthias Görne und Markus Hinterhäuser erleben. Die Kombination aus Schauspiel, Handpuppen und Animation, aufgeführt durch die schon legendäre Handspring Puppet Company aus Kapstadt, für Ubu and the Truth Commission wurde ebenso gefeiert wie die von Liederabend, Bühneninstallation und Animation für die Winterreise. 

Die Medienkunst von William Kentridge, die in ständig neuen Kombinationen aus- und aufgeführt wird, erweitert und befragt Realitäten. Das gilt ebenso für Ubu and the Truth Commission in Bezug auf die verfehlte Aufarbeitung der Verbrechen des Apartheid-Regimes in Südafrika Ende der 90er Jahre wie für die bereits besprochene Paper Music sowie für die Winterreise und die Filminstallation More Sweetly Play the Dance als nächtliche Projektion am Haus der Berliner Festspiele in der Schaperstraße. Die politische Realität der post-apartheid Phase und die Zeugenaussagen werden im dem Stück von Jane Taylor mit Alfred Jarrys Ubu Roi von 1896 konstelliert, um durch die Medien der Schauspielerinnen, Handpuppen, Zeichnungen wie Animation erweitert, analysiert und kritisiert zu werden. Realitätserweiterung ist bei William Kentridge nicht einfach ein Rausch, vielmehr wird sie zur Realitätskritik.

 

Die paradoxe Formulierung NO IT IS ! als Titel für Ausstellung und Künstlerbuch mit „Augmented-Reality-Videofragmente(n)“[1] erweitert nicht einfach eine wie auch immer präsente Realität, sondern schafft aus Medienkombinationen neue, um in einer Vielschichtigkeit nah an den neuesten technologischen Entwicklungen diese auszuprobieren und zu hinterfragen. Das erste Künstlerbuch mit einer augmented reality, kurz AR, also einer erweiterten Realität war 2015 The Soho Chronicles von William Kentridge, das bei Seagull Books in Kalkutta, Indien, erschienen ist. Technologisch verwandelt sich die Abbildung im Buch über eine App auf einem Smartphone oder Tablet nicht nur in einen Animation-Film, sondern das Bildschirm variiert die Perspektive ebenso nach Haltung der Kamera im Smartphone oder Tablet.

 

Augmented Reality wird seit der zweiten Hälfte der 90er Jahre technologisch entwickelt und diskurriert. Die Technologien hierfür sind bereits u.a. in Navigationssystemen weitreichend verbreitet. Doch erst mit der Google- oder Facebook-Brille und nicht zuletzt mit der Veröffentlichung des Spiels Pokémon Go seit 6. Juli 2016 in den Vereinigten Staaten und seit 13. Juli in Deutschland kommt Augmented Reality als Verlinkung von Datenbanken und Global Positioning System (GPS) zum massenhaften Einsatz. In dieses Umfeld der erweiterten, vergrößerten oder vermehrten und verbesserten Realität interveniert William Kentridge geradezu mit seinen beiden letzten Büchern mit AR. Als einer der ersten formulierte Ronald T. Azuma von den HRL Laboratories in Malibu 1997 die Ziele und Wirkungsweisen von AR. 

Augmented Reality (AR) is a variation of Virtual Environments (VE), or Virtual Reality as it is more commonly called. VE technologies completely immerse a user inside a synthetic environment. While immersed, the user cannot see the real world around him.[2]   

 

Der Begriff der Realität im Singular wird mit den Arbeiten von William Kentridge unsicher, brüchig und plural. Ihm geht es um eine Umkehrung mit dem Projekt NO IT IS !. Statt eine sichere Realität geht es um Uncertainity als Realität. Die von den Medienkonzernen und technologischen Forschungsinstituten selbst formulierte Unterscheidung zwischen „the real world around“ und der Augmented Reality wird vom Künstler Kentridge aufgegriffen und anders gewendet. Seine Kunst besteht vielfach und praktisch in Umkehrungen. Die Realität des Buches oder auch das Medium Buch in seiner Realität wird mit der Augmented Reality nicht einfach nur vergrößert oder verbessert mit einer Smartphone- und Tablet-App. Sie wird wohl kalkuliert „umgekehrt“. Im verspätet erschienenen Ausstellungskatalog[3], der kein entschlüsselnder, erklärender Katalog zur Ausstellung, sondern ein Künstlerbuch sein will, das es den „ausgestellten Arbeiten“ erlaubt, „sich gegen ihre Interpretation“ zu „wehren“[4], wird die Umkehrung in der „Gebrauchsanleitung“ geradewegs empfohlen.

 

Die Operation der Umkehrung hat Folgen für die Zeitlichkeit der Realität wie der Arbeiten von William Kentridge. Sie fordern nämlich „ihr Recht auf Vorläufigkeit und Instabilität“.[5] Mit dem paradoxen NO IT IS ! wird insofern eine ebenso widersprüchliche Zeitlichkeit der Gegenwart wie der Realität formuliert. Das ist jetzt nicht. Auch das Jetzt ist fast nicht oder es ist fast nichts, ließe sich die Formulierung mit dem befehlsförmigen Ausrufezeichen übersetzen, erweitern, weiterschreiben. Als ich einem Freund das Augmented-Reality-Videofragment zu Journey to the Moon mit Ton vorführe, sagt er: „Das ist aber ein alter Film.“ Nein, natürlich nicht. Er mag wohl von 2003 stammen, aber im Modus der AR ist er nie zuvor gesehen worden. Und natürlich überschneiden sich in A Journey to the Moon mehrere Zeit- wie Realitätsebenen auf vielfältige Weise. Darum geht’s.

 

Seit sechs Absätzen will der Berichterstatter über Ubu and the Truth Commission schreiben. – Doch A Journey to the Moon ist ein gutes Beispiel für die Arbeits- und Erzählweise, die William Kentridge entwickelt hat und ständig weiterentwickelt. Es gibt in dem Film, eine Zeichenarbeit mit Kohle und Tusche, bekanntlich den Espressokocher, der der Ausstellung als Selbstportrait vorangestellt ist.[6] Der Espressokocher wird zum Raumschiff für die Reise zum Mond, wobei man fragen müßte, ob sein Innen und Außen dann die Funktion als Selbstportrait aufgeben musste oder eher verstärkt. Der Espressokocher verwandelt sich in ein Selbstportrait des Künstlers und in ein Raumschiff. Der Künstler reist aus sich selbst mit sich selbst zum Mond, könnte man sagen, und knüpft an Georges Méliès‘ Voyage dans la Lune von 1902 an, der als erster Science-Fiction-Film gilt und vor allem etwas über die Montagetechnik der Fiktion und des Selbst verrät.

 

Irgendwann schaffe ich es zu Ubu. – Kunst und sicher auch Wissenschaft, ließe sich sagen, entstehen neben der Umkehrung aus der Faszination und der Ablenkung. Eigentlich wollte Kentridge ganz woanders hin und plötzlich wird durch eine „Ameisenplage“ ein neuer Gedanke für die Reise zum Mond. In dem reichhaltigen Buch mit AR sind viele Texte von Kentridge zu seinen Arbeiten, die sich gegen Festlegungen wehren, zusammengetragen und abgedruckt. Sie führen quasi präzise Produktionserzählungen vor und verraten trotzdem nicht alles beispielsweise über die Reise zum Mond. 

Ich lag hinter dem Zeitplan zurück und hätte eigentlich nichts anderes tun sollen, als an diesen Filmen zu arbeiten, aber die Ameisen waren einfach faszinierend. Der Umstand, dass sie von oben betrachtet und gefilmt wurden, machte die Oberfläche, auf der sie sich befanden, zu einer flachen Ebene… Ich fing an, die Ameisen parallel zur Arbeit an den Méliès-Filmen aufzunehmen.[7]    

 

Die Ameisen, die ihre Bahnen ziehen, werden dann sozusagen in der Negativumkehrung als weiße Flecken auf schwarzem Hintergrund zu einem Gewimmel von Sternen auf der Reise zum Mond. Flecken oder schwarze Tintenkleckse finden sich nicht nur auf dem leinenen Einband des Künstlerbuches, sie füllen auch mehrere Seiten, tendieren in ihrer Anordnung zu Textblöcken und/oder zu chinesischen wie ägyptischen Schriftzeichen. Das alles lässt sich an der Grenze zur Sichtbarkeit sehen. Die Unförmigkeit der schwarzen Tusche eröffnet Blicke und Wege - Bilder. Flecken faszinieren. Von weit erinnern sie an die Spätphase von Joan Miró oder auch an seine Collagen aus den 20er Jahren. Alles beginnt mit einem Fleck, wie ihn nicht zuletzt Jacques Lacan angesprochen hat. Der Fleck geht mich an.[8] Er geht nicht im Bild auf.

Die Aufführung von Ubu and the Truth Commission wurde dadurch getrübt und ein wenig verrückt, dass sich die Schauspielerin Busi Zokufa bei der Probe sosehr verletzt hatte, dass sie nicht auftreten konnte und William Kentridge ihren Part lesen musste, was einen gewissen Verfremdungseffekt in dem ohnehin schon vielfach verfremdeten Stück generierte. William Kentridge las ihre Passagen von der Seite, so dass man sich die Schauspielerin auf der Bühne vorstellen musste. Doch wie funktioniert denn die Verfremdung in der (Original-)Inszenierung von William Kentridge? Es geht explizit um das Wissen und wie es sich in Verdrängung aufspaltet. Es geht darum, das Undenkbare zu erzählen. Oder mit William Kentridges Worten:

How does one deal with the weight of evidence presented to the Truth and Reconciliation Commission? How to absorb the horror stories themselves and the implications of what one knew, half knew, and did not know of the abuses of the apartheid years?[9]    

Die Kombination der Medien Schauspieler, Handpuppen, Zeichnungen, Animation, Sound, Musik, Choreographie reagiert auf die Frage nach dem Wissen und wer spricht. Das Wissen und das Sprechen wie die Sprache werden selbst in Ubu and the Truth Commission mit den Handpuppen wie dem Krokodil und den drei Hunden oder einem Hund mit drei Köpfen zum dramatischen Ereignis. Wenn das Krokodil spricht, ist der Schauspieler, wie er spricht und das Maul des Krokodils bewegt, sehr wohl zu sehen. Es wird gar nicht erst versucht, die Illusion eines sprechenden Krokodils zu erzeugen. Doch die Kunstfertigkeit des Spielers, der das Maul des Krokodils aus einer Umhängetasche bewegt, macht sein Puppenspiel so perfekt, dass das aufmerksame Publikum jederzeit glauben möchte, dass es spreche. Das lässt sich als Verfremdung und entlarvende Unsicherheit über den Sprechakt formulieren. Vorgeführt wird auf artistische Weise wie das Sprechen gemacht wird. Handpuppe und Schauspieler werden zu einem Medium, das offensichtlich aus zweien hergestellt wird. Oder auch anders: 

… Dann überlegten wir: „Wir haben ja bereits drei Hunde auf der Bühne, warum verfüttern wir die Beweise, die wir vernichten wollen, nicht an einen Hund?“ Aber ihrer Mäuler waren zu klein, um ein Videoband oder einen Berg an Dokumenten zu fressen. Also fragten wir uns: „Was hat ein Maul, das groß genug ist, um alles runterzuschlucken, war wir verstecken möchten?“ Daher also das Maul des Krokodils.[10]


Foto: Luke Younge

Das Maul des Krokodils ist ein Reißwolf, Aktenvernichter oder eine Delete-Taste, die 1997 und davor noch nicht weit verbreitet und im Gebrauch war. Aber das Krokodil spricht auch. Die Handpuppen sind offenbar kein Kasperltheater für Kinder, selbst wenn sich Ubu Roi als absurdes Theater als solches lesen lassen könnte. Im Kasperltheater werden eher Logiken für den Alltag eingeübt. Bei den Puppen in der Inszenierung von William Kentridge ist es komplizierter. Die Verfremdung wird zur Entlarvung der Mechanismen von Wahrheit und Unwahrheit. Und sie wird medial und praxeologisch vom Regiekünstler selbst formuliert. Es ist ein Spiel mit Nähe und Distanz, die nicht zuletzt etwas mit den Schauspielern zu tun hat. 

Schauspieler die Zeugen spielen zu lassen hatte etwas Unangenehmes – das Publikum wäre gefangen zwischen der Möglichkeit, an die Darstellung der Zeugen durch die Schauspieler zu glauben, um deren Geschichten zu hören, und dem Wissen, dass die echten Zeugen da draußen existieren. Eine Puppe zu benutzen, machte diesen Widerspruch greifbar und löste so das Problem. Es gibt keinerlei Versuche, das Publikum glauben zu lassen, die Holzpuppe oder ihr Spieler sei der eigentliche Zeuge. Die Puppe wird zu einem Medium, durch das die Aussage gehört werden kann…[11]

 
Foto: Luke Younge

Mit der Inszenierung von Ubu and the Truth Commission an der Schnittstelle von absurdem Theater und Dokumentartheater, wie es seit 2012 Michael Ruf mit den Asyl-Monologen macht[12], tritt das Problem der Darstellung der Zeugen und der Zeugenschaft auf. Die Verfremdung, wenn man so will, und die Infragestellung der Position des Schauspielers führen allererst dazu, dass „die Aussage“ der Zeugen gehört werden kann. Das Problem der Zeugenschaft hat in der Literatur zum Holocaust eine längere Geschichte, die bis zu Primo Levis Frage Ist das ein Mensch? zurückreicht, wie im Januar 2012 besprochen wurde. In den Aussagen der Zeugen wird ebenso formuliert, dass im Apartheid-Regime den Farbigen das Menschsein abgesprochen wurde.

 

Die Unsicherheit/Uncertainity oder auch Ungewissheit wie Verunsicherung spielt in Ubu and the Truth Commission eine wichtige Rolle. Zwischen Aktenvernichtung als Beseitigung von Beweismaterial und Zeugenaussagen tut sich ein Abgrund auf. Für die Aussagen wird im Stück auch das Problem der Übersetzung vorgeführt. Denn die Zeugen sprechen auf der Bühne und sprachen im Gerichtssaal meistens eine Stammessprache, die übersetzt werden musste, was kaum thematisiert worden ist. Im Stück und der Inszenierung wird die Kluft der Sprachen allerdings zum Drama der Suche nach Wahrheit. Entgegen weit verbreiteten Berichte zur Kommission wird die Verunsicherung durch die Übersetzung nicht verworfen, sondern aufgeführt. 

Zwischen den Gefühlen, die die Zeugen beim Erzählen ihrer Geschichten zum Ausdruck brachten, und den Versionen der Dolmetscher gab es eine Divergenz. Man spürte, dass viel vom Kern der Zeugenaussage verlorenging, wenn sie von den Dolmetschern nacherzählt wurden.[13]  

 

Es geht bei William Kentridge mit den Medien immer auch um Übersetzungen in ihrer Prozesshaftigkeit. Übersetzungen schaffen ebenso sehr Verständnis, wie dass sie verunsichern. Das gilt für Übersetzungsprozesse zwischen Sprachen wie zwischen anderen Medien. Es geht immer auch darum, was sich nicht übersetzen lässt. Denn nach Kentridge kam „für einen kurzen Moment … die Kommission auf die verheerende Idee, die Dolmetscher dazu zu ermutigen, die Gefühle der Zeugen nachzuahmen und auszudrücken, wenn sie übersetzten“.[14] Wenn in einer Theateraufführung wie bei Ubu and the Truth Commission Sprachen gesprochen werden, die nicht verstanden werden können, weil es Sprachen sind, die nur von wenigen gesprochen werden, dann wird auf ein entscheidendes, verunsicherndes Moment im Prozess der Wahrheitsfindung hingewiesen. Kentridges Ubu and the Truth Commission ist keinesfalls ein Stück über die Wahrheits- und Versöhnungskommission. Vielmehr legt es die Probleme der Kommissionsarbeit frei.

 

Zu den Höhepunkten des Festivals gehörte zweifellos die einmalige Aufführung von Franz Schuberts Winderreise mit Matthias Görne und Markus Hinterhäuser am Klavier mit der filmischen Umsetzung von William Kentridge im Bühnenbild von Sabine Theunissen. Ob wegen der Winterreise und/oder dem Bariton und Schüler von Dietrich Fischer-Dieskau Matthias Görne und/oder William Kentridge, die Vorstellung war restlos ausverkauft und hätte wohl mehrfach vor ausverkauftem Haus gespielt werden können. Schuberts Winterreise mit den Gedichten von Wilhelm Müller gehört nicht zuletzt zum Bildungsgut, das eine Frage des Wissens ist. Matthias Görne nun gilt als Schüler von Dietrich Fischer-Dieskau als Erbe einer Liedtradition, die Textverständlichkeit und Gefühlsartikulation im Gesang zu einem kaum übertroffenen Grad der Perfektion geführt haben. Es geht insofern um das genaue Gegenteil von Unsicherheit. Man wird wohl gar sagen können, dass es für die Fans dieser Aufführungspraxis um einen Genuss der Verständlichkeit geht. So findet sich auf der Website von Matthias Görne zur Winterreise diese Pressestimme: 

Sein Timbre ist persönlich, sofort wieder erkennbar, verletzlich weich, immer akribisch textdeutlich und fesselnd. In tiefe deutsche Schwermut getaucht. Passend zur düsteren Jahreszeit also.[15]

 

Was passiert also, wenn eine Performance der nahezu ultimativen Verständlichkeit von Sprache und Gefühl als Romantik und – ziemlich falsch – „Triumph der Empfindsamkeit“[16] auf den Medienkünstler William Kentridge trifft? Zunächst einmal wird man sagen müssen, dass das Format des Liederabends konträr zur Bildinszenierung steht, weil es auf die Verständlichkeit der sprachlichen Bilder ankommt. Diese lassen sich allerdings während der Aufführung schwerlich als Bilder zeigen, weil die Visualisierung des Verstandenen zwangsläufig kollidieren muss mit den projizierten Bildern. Der Bilderreichtum der Winterreise steht also einer Bebilderung entgegen. Die Bilder werden allerdings in der narrativen Aufführungspraxis des Liederabends ständig fortgerissen. Eine besondere technische Herausforderung stellt nun eine Synchronisierung von Gesang und Film dar, zumal wenn es bei Kentridge um vielfältige Bilder und Erzählungen geht.

 
Foto: Patrick Berger / Artcomart

Das Bühnenbild als Studio und Erinnerungsraum von Sabine Theunissen ist selbst schon ein Novum, weil die Aufführungspraxis des Liederabends außer dem Flügel keines kennt. Das Studio selbst ist ein Raum der Arbeit und damit der Produktion selbst. An der Rückwand hängt Kentridges Tuschezeichnung von einem Baum wie er immer wieder als Bild bei ihm vorkommt, um sich ständig zu verändern. So findet sich nicht zuletzt im Künstlerbuch die rätselhafte Formulierung „The Tree as Lehrstück“[17] und darunter eine Tuschemalerei, die zwischen Textzeilen und Baum oszillieren kann. 2014 hielt William Kentridge seine Mosse-Lecture im Audimax der Humboldt-Universität zu Berlin unter dem Titel „Image and History“ zur Winterreise und stellte die Frage „What is the space of the construction of sense?“, wie berichtet wurde. Der Baum kommt in der Winterreise mehrfach vor. So nicht zuletzt als Lindenbaum. Als Kentridge im Februar 2014 seine Vorlesung in der Humboldt-Universität hielt, befand er sich noch in der Produktion für Die Winterreise, die im Sommer 2014 in Aix en Provence Premiere haben sollte.     

 
Foto: Patrick Berger / Artcomart

Neben der Zeichnung des Baumes auf mehreren DIN a 4-Blättern an der Wand, sind es die verbrannten Papierseiten am Boden, die das Bühnenbild akzentuieren, bevor es zur Projektionsfläche wird. Verbrannte Papierseiten lassen sich als Asche lesen. Doch sie sind noch nicht zerfallen. Papier, insbesondere Schreibpapier zerfällt nicht sofort, nachdem es verbrannt worden ist. Es sind Papierreste, von denen man nicht wissen kann, was auf ihnen gemalt oder geschrieben worden war. Aber sie sind Reste, die vielleicht in Zeugnisse verwandelt werden können. In seiner Mosse-Lecture hat William Kentridge unter dem Titel „Die Gedanken widersetzen sich der Fixierung“ sowohl über den Baum wie über das Poröse gesprochen. 

Auch wenn man die Wahrnehmung auf einen Gegenstand fokussiert (wie auf den Baum), bleibt das Fixierte porös, uneindeutig. Eine Menge an Ungereimtheiten und Ablenkungen stellt sich ein. Aber vielleicht gehören diese Abschweifungen dazu, wenn etwas konzentriert angegangen wird. Der Baum enthält mehr als das, was er ist. Der Baum wirft alle diese Gedanken auf, die scheinbar gar nichts mit ihm selbst zu tun haben. Den Baum oder das Lied treffen wir sozusagen auf halbem Wege.[18]

 

Wenn man sich auf die multimediale Inszenierung der Winterreise einlässt, was durchaus eine Herausforderung und mehr Arbeit als Genuss ist, dann werden die Liedtexte von Kentridge offengelegt und verschlüsselt. Die Abfolge der Bilder und ihre Verwandlungen machen den Liederzyklus zu einem eher ruhelosen Prozess des Suchens und Vergehens von Sinn. Erzählt wird nunmehr weniger vom Verlust einer Liebe. Die Romantik erzählt wohl mit Vorliebe vom Verlust. Um es nur einmal so zu sagen: die Klassik erzählt Gewinngeschichten, die Romantik solche vom Verlust und wird wohl von Goethe als Verlust gesehen. Das ist ein wenig spekulativ. Aber William Kentridge postuliert keinen Sinnverlust in seinen Winterreise-Filmen, sondern stellt die Frage danach, wie Sinn und Sinnlichkeit mit dem Liederzyklus auftauchen und vergehen.    

More Sweetly Play the Dance verwandelt sich mit den Räumen, auf denen die Prozession von Performern in Farbe sowie vor und hinter dahingetuschten Bäumen, mit Kohle schaffiertem Regen und Scherenschnitten projiziert wird. Der Ton-Film ändert sich mit dem Augmented-Reality-Videofragment „aus“ dem Künstlerbuch, mit dem „Room 4 SO“ im Martin-Gropius-Bau[19] oder auf der Rangverglasung des Hauses der Berliner Festspiele. Für die nächtliche Projektion am Haus der Berliner Festspiele, eine panavisionsschöne Breitleinwand am 13. Juli 2016, wurde eine Tribüne mit breitem Aufgang gebaut. In Menschengröße zieht die Prozession von rechts nach links, auf dem Smartphone von links nach rechts. Eine Sommernacht macht einfach einen anderen Film als ein Ausstellungsraum oder die Verzwergung auf den Display. Smartphone-Displays verzwergen immer in die eine oder andere Richtung.

Die Prozession wird von William Kentridge ebenso sehr mit kirchlichen Umzügen in der Malerei für ihn bei Goya wie mit „Fluchtbewegungen“ in Verbindung gebracht.[20] Die Ordnung der Prozession im rituellen Kontext steht der nur auf geheimnisvolle Weise geordneten Fluchtbewegung beispielsweise auf der sogenannten Balkanroute 2015 entgegen. In More Sweetly Play the Dance werden beide Aspekte nicht zuletzt mit dem Auftauchen des Bildsujets vom Totentanz verknüpft. Während aber die Totentanz-Bilder den Einzug in den Himmel versprechen und zwischen Himmel und Hölle entschieden wird, stellt Kentridge dies mit der Formulierung „Falls wir jemals in den Himmel kommen“ in Frage.

Fluchtrouten und Flüchtlingsbewegungen wie sie mit Kentridges Filminstallation, in der „Figuren über die acht Monitore wandern, die das Projektionsformat bilden“, nehmen immer Züge von Prozessionen an. Aus dem Chaos der Flucht entstehen prozessionsartige Schauspiele von Flüchtenden. Insofern die Prozession, ob nun beispielsweise in Rom oder zu Zeiten im chinesischen Kaiserpalast, der Verbotenen Stadt in Peking oder in tibetischen Klöstern, immer eine religiöse Ordnung, gar eine Ordnung von Welt zu sein beansprucht, wird sie zum Weltbild zwischen Militärparade und Karfreitagsprozession. Mit der Choreographie von Dada Masilo und der Musik von Johannes Serekeho erinnert die Prozession an einen Tanz und eine Feier. Was wird gefeiert?

In More Sweetly Play the Dance wird das Leben der „Menschen, die wir auf den Straßen von Johannesburg gesehen haben, … die die Recycling-Wagen ziehen,“ ebenso wie das der „Köpfe“ gefeiert. Die Köpfe im Scherenschnitt erinnern u. a. an „Helden der chinesischen Kulturrevolution, die auf Plakaten, auf Lacktassen, auf einfach jedem Gegenstand abgebildet waren“. Der Scherenschnitt der Köpfe in seinem scharfen Kontrast von Schwarz und Weiß ist eine Vereinfachung, ein harter Zuschnitt, bei dem Details weggeschnitten werden. Man spricht dann von einem markanten Kopf. William Kentridges Prozession ist eine vielfältig in sich gebrochene. Einige Leute tragen „Plastik gegen den Regen“.

Erweckt die ebenso technisch perfekte wie scherenschnittartig vereinfachte Prozession mit der Blaskapelle zunächst den Eindruck einer fröhlichen, fast belanglosen Darstellung von Welt, so lassen sich mit den Megaphonen, Fahnen, Köpfen, Skeletten und Duschen auf einem Leiterwagen, einer Weltkugel mit Kopf, Armen und Beinen, Tauben, Rednern, Stürmen mit Kohlestift gemalt, bald schon widersprüchliche Einzelfiguren erkennen. Die Welt zieht an den mehr oder weniger konzentrierten Betrachtern vorüber – nicht im Weltspiegel, aber als Textfahne. William Kentridge insistiert nicht zuletzt darauf, dass er seine Arbeiten immer für einen und aus einem bestimmten Moment gemacht hat. More Sweetly Play the Dance ist von 2015, die Bilder der hysterischen Flüchtlingskrise mit Selfies und Schießbefehl-Appellen waren noch nicht im Umlauf. Sehr nah an Südafrika dran wird die Filminstallation gerade mit der flotten Prozessionsmusik ein Schauspiel der globalen Fluchtbewegungen.

Unter der Festivalrubrik der Uncertain Places wurde More Sweetly Play the Dance am Haus der Berliner Festspiele projiziert. Die Prozession ist ein ebenso sicherer wie unsicherer Platz oder Raum. Sie bildet einen Raum der Übergänge, in dem sie sich auf einen eher ungewissen Fluchtpunkt zubewegt. Das gilt ebenso für jeden einzelnen Flüchtenden aus Syrien wie aus dem nördlichen Afrika und Afghanistan. Selbstverständlich hat jeder einzelne Bundes-, ja wohl gar EU-Bürger mehr Sicherheit als die Einwohner von Aleppo oder Kabul. Doch es ist nicht allein die Flucht vor der Unsicherheit und der Bedrohung, die Fluchtbewegungen anstoßen und eskalieren lassen. Es sind vielmehr global kursierende Erzählungen von einer Sicherheit mit Lebensversicherung als erstrebenswertem Ziel.


Foto: ©Hugo Glendinning 

Das Dunkel und die Nacht gelten nicht zuletzt als ein imaginärer Raum der Unsicherheit. Im Dunkel kehrt bekanntlich zurück, was bei Licht nicht gesehen, gedacht, gehört worden ist. Als Uraufführung erzählte und performte die Gruppe Forced Entertainment aus dem mittelenglischen Sheffield zum Schluss des Festivals Foreign Affairs am 16. Juli 2016 von 21 Uhr 21 bis Sonnenaufgang From The Dark. Die eigenwillige Performance, bei der zunächst gar nicht gesprochen wird, sondern die Künstler nacheinander in mehr schlecht als recht sitzende Tierkostüme schlüpfen, um wie in einem Zaubertrick für Kinder Leben und Tod vorzuführen, lässt sich wenigstens dem postdramatischen Theater zuschlagen. Links und rechts bewegen sich Performer nicht gerade überengagiert abwechselnd in billigen, bunten Baströcken, Frauen wie Männer. Mit einer Baulampe werden die Tierkostümtiere beleuchtet, um, sobald sie umfallen, als wären sie tot, wieder lebendig zu machen.

 
Foto: © Hugo Gendinning

From The Dark als Langzeit-Performance, um das Dunkel der Nacht beispielsweise mit einer wortlosen Tierkostüm-Märchengeschichte zu erkunden, lässt viel Zeit verstreichen. Dann treten die Performer im Wechsel auf, um überhastet von Befürchtungen und Ängsten zu sprechen. Das Dunkel ist nicht zuletzt ein Raum der Ängste, die dort anders als bei Tag funktionieren. Die gezielte Nicht-Anstrengung während der Performance verunsichert das Publikum darin, ob es sich noch um Theater handelt oder schon einen Zeitvertreib für die Performer selbst. Das ist durchaus Kalkül. Für wen spielen Robin Arthur, Mark Etchellis, Nada Gamier und die anderen? Für sich oder für das Publikum? Das hat sehr viel Charme und in der Abschlussnacht von Foreign Affairs durfte oder sollte sich das Publikum im Haus auch bewegen, zwischendurch eine andere Performance besuchen, die dann allerdings gerade überfüllt war, oder etwas essen und trinken. Letztlich kann heute fast jeder selbst entscheiden, wann die Nacht und das Dunkel zu Ende ist. In Berlin gibt es ohnehin gleitende Festival-Zeiten. Irgendwann ist gerade eines immer zu Ende.             

 

Torsten Flüh

 

 

NO IT IS !  

William Kentridge 

Ausstellungen / Performances / Lectures
noch bis 21. August 
Martin-Gropius-Bau 

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[1] So die neologistische Formulierung auf der Banderole des Buchs. The Soho Chronicles von William Kentridge waren nach www.anartbook.com 2015 „the world's first augmented reality art book”. William Kentridge: NO IT IS ! Berlin: Berliner Festspiele, 2016.

[2] Ronald T. Azuma: A Survey of Augmented Reality. In: Teleoperators and Virtual Environments 6, 4 (August 1997), 355-385.

[3] Vgl. dazu: Torsten Flüh: Der große Flüchtige. Zu NO IT IS ! von und mit William Kentridge im Martin-Gropius-Bau. In: NIGHT OUT @ BERLIN 12. Mai 2016 21:52. 

[4] William Kentridge: NO IT IS ! Eine Gebrauchsanleitung. In: ders.: NO IT IS !, Berlin: Berliner Festspiele, 2016, S. XV.

[5] Ebenda.

[6] Siehe Torsten Flüh: Der große … [wie Anm. 3]

[7] William Kentridge: 7 Fragments for Georges Méliès, Day for Night und Journey to the Moon. In: ders.: No … [wie Anm. 1] S. 4.

[8] Jacques Lacan: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar Buch X1. Weinheim/Berlin: Quadriga, 1978, S. 102.

[9] William Kentridge zitiert nach Programmzettel vom 13. und 14. Juli 2016 „Handspring Puppet Company mit William Kentridge und Jane Taylor Ubu and the Truth Commisson” Berlin: Berliner Festspiele, 2016.

[10] William Kentridge: Das Maul des Krokodils. In: ders.: No … [wie Anm. 1] S. 161.

[11] Ebenda S. 169.

[12] Torsten Flüh: Unter die Haut. Die Asyl-Monologe von Michael Ruf im Heimathafen Neukölln. In: NIGHT OUT @ BERLIN 4. Dezember 2012 16:20.

[13] William Kentridge: Das Maul … In: ders.: No … [wie Anm. 1] S. 175-176.

[14] Ebenda S. 176.

[15] Presse zu Schubert-Edition auf der Website von Matthias Goerne.

[16] Ebenda.

[17] William Kentridge: No … [wie Anm. 1] S. 256.

[18] Ebenda S. 274-275. 


[19] Siehe Torsten Flüh: Der … [wie Anm. 3]

[20] William Kentridge: Falls wir jemals in den Himmel kommen. Vereinzelte Notizen zu More Sweetly Play the Dance. In: ders.: NO … [wie Anm. 1] S. 86.