Die Nacht zum 13. Dezember 2002 wird Horst Holsten nie vergessen. Auf einer Großbildleinwand in Bremen erlebte der Raumfahrtingenieur damals den Start der neuen Ariane5 ECA. Mit dieser verbesserten Version ihrer Trägerrakete wollen die Europäer die Vormachtstellung im hart umkämpften Satelliten-Transportgeschäft zurückgewinnnen – eine Premiere, die auch an Holstens Nerven zerrt. Obwohl der Konstrukteur seit 1979 schon 157 Starts "seiner" Rakete miterlebte, beginnt er zu zittern, als sich das 780 Tonnen schwere Gefährt feuerspuckend von der Plattform im europäischen Weltraumbahnhof Kourou erhebt. Sein Zittern verstärkt sich, während der Feuerschweif hinter den tief hängenden Wolken der französischen Überseeprovinz Guayana verschwindet. 137 Sekunden nach dem Abheben erreicht Holstens Nervositätskurve ihren Höhepunkt: Der leuchtende Punkt am Himmel beginnt von der berechneten Flugbahn abzuweichen; erst kaum merklich, dann immer stärker. Schließlich, 180 Sekunden nach dem Start, muss die Ariane gesprengt werden. Ihre Reste stürzen aus 70 Kilometer Höhe in den Atlantik. Holsten ist aufgesprungen, presst sein Handy ans Ohr und konferiert entsetzt mit seinen französischen Kollegen.

Mehr als zwei Jahre sind seit der Katastrophe vergangen, die die europäische Raumfahrt erschütterte. Nicht nur, dass damals die 150 Millionen Euro teure Rakete sowie zwei Satelliten im Wert von weiteren 300 Millionen explodierten. Verloren war auch das Vertrauen in die Zuverlässigkeit der europäischen Weltraumbehörde Esa. Mit der Ariane4 war sie in den neunziger Jahren zum Marktführer für den Transport kommerzieller Satelliten aufgestiegen. Dann erlitt sie mit deren Nachfolgerin einen Imageschaden nach dem anderen. 1996 musste die Standardversion der Ariane5 beim Jungfernflug gesprengt werden; 2002 geriet der Start der Ariane5 ECA zum Desaster.

Kommende Woche soll alles wieder gut werden. Am 11. Februar wollen die Europäer einen zweiten Versuch wagen. Die Ariane5 ECA, die schwerste und teuerste Rakete, die je in Europa gebaut wurde, soll ihr Comeback feiern und zum neuen Trumpf der Esa werden. Pro Start wird sie künftig mit einer Schubkraft von rund 30 Millionen PS zwei Satelliten mit einem Gewicht von insgesamt zehn Tonnen auf einer stationären Erdumlaufbahn absetzen können, vier Tonnen mehr als die (mittlerweile erprobte) Standardvariante der Ariane5 – wenn alles gut geht.

Doch der Schock von damals sitzt tief. "Wenn es wieder nicht klappt, müssen wir wohl sagen: Wir können’s nicht", gibt Horst Holsten zu. Dementsprechend hoch ist der Nervositätsgrad bei der Esa. Und illustrieren lässt sich dies an niemand besser als an Holsten selbst, der schon an der Entwicklung der allerersten Ariane-Rakete beteiligt war und später Direktor des Ariane-Programms wurde. Denn er verdankte, wenn man so will, diese Position dem Unglück vom Dezember 2002.

Gleich mehrere Untersuchungskommissionen hatten damals ihre Arbeit aufgenommen und nach den Ursachen des Desasters gesucht. Relativ schnell war ein technischer Defekt gefunden: Das Kühlsystem im neu konstruierten Haupttriebwerk hatte versagt. In dessen dünnen Kühlkanälen, durch die beim Start minus 253 Grad kalter flüssiger Wasserstoff gepumpt wird, waren Haarrisse aufgetreten, die sich innerhalb weniger Sekunden zu einer klaffenden Öffnung ausweiteten. Der Treibstoff trat unkontrolliert aus, die Rakete war nicht mehr zu steuern.

Schwieriger erwies sich die Suche nach einem Verantwortlichen für dieses "Röhrchenproblem". Der Schweizer Zulieferer hatte sich bei der Herstellung der Kühlkanäle exakt an die Vorschriften gehalten. Auch das schwedische Volvo-Werk, in dem die einzelnen Röhrchen in Spiralen um die Düse herum verschweißt worden waren, hatte sich keinen Fehler erlaubt. Obwohl die Produktion nach Vorschrift erfolgt war, versagte das Produkt. Wo steckte der Fehler?

In gewissem Sinne wurde die Esa Opfer ihres eigenen Erfolgs. "Um die Jahrtausendwende war die europäische Raumfahrt im Rausch", erinnert sich Horst Holsten. Bis zum Jahr 2002 war die Ariane4 insgesamt 66-mal in Folge reibungslos gestartet. "Sie war so erfolgreich, da haben wir geglaubt, dass es mit der Ariane5 einfach so weitergehen würde." Das verführte die Raketenbauer zum Leichtsinn. So wurden etwa frühere Erfahrungen mit quadratischen Kühlkanälen auf die neuen rechteckigen Röhrchen hochgerechnet. Und als sich eine nach dieser Berechnung angefertigte Düse im Teststand von Volvo als haltbar erwies, wurde großzügig auf einen – eigentlich notwendigen – Test im Vakuum verzichtet. Das sei zu zeitaufwändig, zu teuer und angesichts der jahrelangen Erfahrung mit dem Vorgängermodell auch überflüssig, befanden die Ariane-Chefs. Ein fataler Irrtum. Die rechteckigen Röhrchen beulten sich beim Verlassen der Atmosphäre stärker aus als erwartet und verursachten so den Milliarden-Schaden.

"Der Vakuumtest hätte ein paar Millionen Euro gekostet, den hätten wir machen müssen", sagt Horst Holsten heute. Damals hatte sich niemand dafür stark gemacht, denn die Zuständigkeiten waren unklar. Bevor sie in die fertige Rakete eingebaut waren, mussten die Kühlröhrchen gleich fünf eigenständige Unternehmen – zwei französische, ein deutsches, ein schwedisches und eines aus der Schweiz – passieren. Dies ist typisch für die Arbeitsweise der Esa. Denn ihre 15 Mitgliedsstaaten müssen nach den Regeln des "Geo-Return" jeweils in dem Umfang mit Aufträgen für die heimische Industrie bedient werden, wie sie an den Kosten eines Raumfahrtprojekts beteiligt sind. "Am Ende konnte jeder die Verantwortung an den nächsten weitergeben", beschreibt Holsten dieses fatale Prinzip der "Kaskadenverantwortung".