Es ist etwas Besonderes, im Adlon zu arbeiten, in Deutschlands prominentestem Hotel direkt am Brandenburger Tor in Berlin. "Adlon oblige" heißt der Leitspruch für das Personal: Adlon verpflichtet. In Schulungen wird den Mitarbeitern eine besondere Adlon-DNA vermittelt, in Morgenmeetings teilen Abteilungsleiter den Bediensteten mit, welche Stars sich im Hotel befinden. Und sie verkünden den Wert des Tages, zum Beispiel: "Wir sind am Menschen orientiert."

Thomas Nemeth* ist ein großer, starker Mann von Anfang 30. Bis vor einiger Zeit war er Koch im Adlon. Zum Frühstück trank er Energydrinks, tagsüber schluckte er Schmerztabletten: Ibuprofen 800. Drei, manchmal vier Stück am Tag. "Wenn du 14 Stunden stehst, tun dir die Füße weh", sagt er. Um nachts schlafen zu können, nahm er das Beruhigungsmittel Tetrazepam. Dennoch schreckte er oft hoch, allein mit Fragen wie diesen: "Hast du an alles gedacht? Hast du das Fleisch aus dem Ofen geholt? Hast du die Nudeln geölt?"

Nemeth sagt: "Andere Kollegen nehmen härtere Sachen, um das durchzustehen, Koks, Speed, Amphetamine – alles, was aufputscht." Für seine Arbeit im Hotel bekam Nemeth als ausgebildeter Jungkoch, Commis de Cuisine, zwischen 1.600 und 1.800 Euro brutto im Monat. Mehr als ein Jahr lang war er im Adlon beschäftigt. Sein Arbeitsvertrag liegt der ZEIT vor. Das Adlon selbst gibt an, die wöchentliche Arbeitszeit der Köche betrage 38 Stunden. Doch Nemeth arbeitete mindestens zehn Stunden am Tag, oft zwölf, manchmal noch länger. "Du gehst morgens hin und weißt nicht, wann du abends wieder rauskommst", sagt er. In einer durchschnittlichen Arbeitswoche mit fünf Tagen kam der junge Koch auf 50 bis 60 Stunden. Oft musste er zusätzlich am Wochenende arbeiten, dann lag er bei mindestens 70. Und in Monaten, in denen Großveranstaltungen wie die Grüne Woche oder die Internationale Tourismus-Börse stattfanden, arbeiteten Nemeth und seine Kollegen manchmal zwei Wochen am Stück und an diesen Tagen oft 14, 15 Stunden. Sie seien nur zum Duschen nach Hause gekommen. So sei es immer noch, sagen Adlon-Köche, zu denen Nemeth nach wie vor Kontakt hat. Sie schreiben sich Nachrichten, hin und wieder telefonieren sie. Er fragt, wie es im Adlon läuft. "Alles beim Alten", antworten sie dann. Der Mindestlohn hat offenbar an ihrer Situation nichts geändert.

Dieser Artikel stammt aus der ZEIT Nr. 10 vom 05.03.2015.

Am Menschen orientiert? Das Adlon teilt mit: "In unserem Haus werden die gesetzlichen Vorgaben zur Entlohnung von Mitarbeitern selbstverständlich eingehalten." Alle Mitarbeiter würden mindestens tariflich entlohnt. Nach dem Tarif bekommen Jungköche im Adlon heute 1.830 Euro für eine 38-Stunden-Woche, ihr Stundenlohn beträgt 11,11 Euro, das sind fast drei Euro mehr als der neue gesetzliche Mindestlohn, der seit dem 1. Januar gilt. In Wirklichkeit aber bleibt der Stundenlohn weit hinter dem Tarif- und dem Mindestlohn zurück. Legt man die tatsächliche Arbeitszeit von Thomas Nemeth zugrunde, kommt ein Jungkoch im Adlon in einer 60-Stunden-Woche auf etwa sieben Euro pro Stunde, in einer 70-Stunden-Woche auf etwa sechs Euro.

Seit 2011 werden die Arbeitszeiten im Adlon elektronisch erfasst. Am Monatsende zeichnet der Mitarbeiter die Stundenaufstellung persönlich ab. Das Adlon sagt: "Jeder Mitarbeiter hat jederzeit die Möglichkeit, die Einträge zu überprüfen." Fehler beim Übertragen der Stunden in das Programm würden selbstverständlich korrigiert.

Ehemalige Adlon-Mitarbeiter erzählen hingegen, einige Überstunden seien nicht erfasst worden, und das Abzeichnen der Zettel sei für sie einer Verzichtserklärung gleichgekommen. Überstunden seien einfach verfallen. Das Adlon sagt: "Sämtliche Überstunden werden durch Freizeit ausgeglichen."

Einmal, zu Beginn seiner Zeit im Adlon, hatte Thomas Nemeth es gewagt. Er hatte alle seine Überstunden dokumentiert. Daraufhin bestellte ihn sein Chef in den Kühlraum, so erzählt es Nemeth. Ein gekacheltes Zimmer, rund 30 Quadratmeter groß und vier Grad Celsius kalt. Der Chef schloss die Tür und fing an zu brüllen: Was ihm einfalle? Es sei "normal", Überstunden zu machen. Und es sei eine "Frechheit", die Stunden aufzuschreiben, wenn er, Nemeth, morgens "freiwillig" früher komme. Nemeths ehemalige Kollegen schildern ähnliche Begegnungen. Immer wieder hätten Chefs die Köche angeherrscht, keine Überstunden aufzuschreiben. Das Hotel Adlon nimmt zu diesen Vorwürfen inhaltlich keine Stellung, sagt aber, man sei an weiteren Informationen interessiert, um den Vorwürfen nachzugehen.

Thomas Nemeth erzählt, wie er an einem Montagmorgen, nach einem durchgearbeiteten Wochenende, einen halben Liter Red Bull im Bauch, in die U-Bahn stieg, schon wieder auf dem Weg zur Arbeit. Es war kurz nach acht, mitten im Berliner Berufsverkehr. Plötzlich fing Nemeth an zu weinen. Einfach so. Der Koch vom Adlon, ein Klotz von einem Mann. Er stieg aus und setzte sich auf eine Bank. Er versuchte zu verstehen, was los war. Insgeheim wusste er es schon: Er hatte Angst vor seiner Arbeit. Und er beschloss zu kündigen.

Seit Anfang dieses Jahres gilt in Deutschland der gesetzliche Mindeststundenlohn von 8,50 Euro. Es ist das wichtigste soziale Projekt der großen Koalition, vorangetrieben von der SPD. Arbeitsministerin Andrea Nahles bezeichnete die Einführung des Mindestlohns als Meilenstein. Sie sagte: "Durch den Mindestlohn erhalten 3,7 Millionen Menschen in Deutschland mehr Lohn, darauf kann man stolz sein." Das Projekt ist ein gesellschaftlicher Feldversuch: Die Politik will der Wirtschaft zeigen, dass sie die Macht hat im Land. Doch hat sie die? Und geht das überhaupt noch: Rechte von Arbeitnehmern stärken in einem Staat, der verflochten ist mit globalisierten Arbeitsmärkten? In einer Welt, in der sich immer jemand findet, der denselben Job gern günstiger erledigt? Und in der vor allem zwei Qualifikationen verlangt werden – nämlich hyperflexibel und billig zu sein?

Es ist etwas Besonderes, im Hotel Adlon zu arbeiten – das dachte auch Natalia Kowarczyk* aus Berlin. Weil sie ihre kranken Eltern versorgen wollte, musste sie ihre Vollzeitstelle als Verkäuferin aufgeben. Sie brauchte einen Teilzeitjob. Da sah sie diese Anzeige in einer Tageszeitung: "Zimmermädchen, 9,55 €/Std., 75 Prozent Sonn- und Feiertagszuschlag, für ein 5-Sterne-Hotel". Das Unternehmen, das die Anzeige geschaltet hatte, heißt ASN Concepts; es hat seinen Sitz in Berlin-Wilmersdorf. Zum Vorstellungsgespräch wurde Kowarczyk in ein Büro im Untergeschoss eines Hinterhofgebäudes gebeten. Die ASN-Mitarbeiterin habe eine 30-Stunden-Woche in Aussicht gestellt, sagt Kowarczyk. Perfekt, habe sie gedacht, genug Zeit, um nach der Arbeit noch nach den Eltern zu sehen.