Frische Brise und entsprechender Wellengang im niederländischen Eemshaven – doch die Thor liegt völlig bewegungslos am Kai. Deutschlands größte Hubinsel schwimmt nicht etwa, nein, sie steht. Auf vier langen Beinen, fest auf dem Boden des Hafenbeckens. Standfestigkeit ist wichtig. Denn wenn der bordeigene Kran die 360 Tonnen schwere Generatorgondel eines Windrads an Deck hievt, dann geht es um Millimeter. Geriete diese Ladung ins Schwanken und würde lädiert, schnell könnte das Millionen kosten. Noch heikler ist die Verladung des Rotors mit seinen drei vormontierten Blättern aus Glasfaser, jedes 61 Meter lang. »Sicherheit hat oberste Priorität«, sagt der Ingenieur Volker Flägel. Er hat die Technik der Hubinsel für seinen Arbeitgeber, den Essener Baukonzern Hochtief, entworfen. »Jeder Lift wird zunächst am Computer simuliert.«

Die Thor ist die größte deutsche Schwimmplattform für den Bau von Offshore-Windparks (eine »Errichterinsel« im Jargon der Branche). Nur drei sind es insgesamt, und sie sind voll ausgelastet. Denn schon vor der Wende in der Atompolitik waren die Ausbaupläne der Bundesregierung ehrgeizig: Mit dem auf hoher See erzeugten Strom sollen im Jahr 2030 mindestens 15 Prozent des deutschen Bedarfs gedeckt werden. Dafür werden über 4.000 gewaltige Windräder in Nord- und Ostsee gebraucht, jedes einzelne so hoch wie der Kölner Dom und viele Hundert Tonnen schwer.

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Jetzt muss der Ausbau sogar noch schneller gehen. Schon 2020 sollen über 2.000 Anlagen in Betrieb sein. Bisher stehen allerdings erst 50. Denn die Arbeit im 40 Meter tiefen Wasser ist voller Überraschungen. Technische Probleme, Wind, Wellen oder Findlinge im Meeresboden haben die vor vier Jahren begonnenen Bauarbeiten an den ersten Offshore-Windparks immer wieder verzögert. Und parallel an mehreren Anlagen zu arbeiten ist unmöglich. Weil es an geeigneten Spezialschiffen fehlt. »Der Markt ist sehr überschaubar«, klagt Stephan Bormann. Er ist Vertriebschef des Emdener Unternehmens, das die Thor für den Bau des Offshore-Windparks Bard 1 gechartert hat. Sie ist die erste Hubinsel, die speziell konstruiert wurde, um Windräder aufzustellen. Ein Schiff darf man sie nicht nennen. Flägel spricht von einem »schwimmenden Schuhkarton«. Die Thor hat zwar einen Kapitän, einen ersten und einen zweiten Offizier, vorn und hinten eine voll instrumentierte Kommandobrücke, unter Deck eine Kombüse, Kajüten. Doch auf dem Weg zum 90 Kilometer nordwestlich von Borkum gelegenen Bauplatz hängt sie an den Tauen eines Schleppers. Ihre eigenen Schiffsschrauben dienen nur der vorsichtigen Annäherung auf den letzten Metern an den exakt vorausberechneten Standort.

Ist er erreicht, tritt der Jackmaster in Aktion. Mit vier kleinen Joysticks am äußersten Rand der Kommandobrücke steuert er die Hydraulik der vier Beine. Jedes ist 82 Meter lang und wiegt 530 Tonnen. An jedem Fuß hängt ein stählerner Teller mit über acht Metern Durchmesser. Bei voller Beladung kann die Thor bis zu 10.000 Tonnen schwer sein. Die Teller verteilen dieses ungeheure Gewicht auf eine größere Fläche. Denn tiefer als zwei Meter soll die Thor nicht ins Sediment einsinken. Drei Stunden dauert es, die Beine schrittweise auszufahren. Sobald sie den Meeresgrund berühren, kommt die gefährlichste Phase des Manövers. »Durch Wellenberg und Wellental stampft die Insel dann auf dem Grund auf«, erklärt Flägel. »Das rumst jedes Mal wie bei einer harten Landung im Flugzeug.« Möglichst schnell muss die Thor daher aus dem Wasser hinausgestemmt werden. Der Jackmaster kann sie mit den sechs Zylindern in jedem Bein in einem Rutsch um vier Meter anheben, bevor er sie für den nächsten Hub durch das Hereinschießen dreier tonnenschwerer Bolzen sichert. Dabei müssen die Beine exakt senkrecht stehen. »Sonst würde sie der ungleich verteilte Druck so stark verformen, dass sich die Bolzen verkanten«, erklärt Flägel.

Sobald die Thor auf festen Füßen über den Wellen schwebt, ist sie keine schwimmende Kiste mehr, sondern eine feste Insel. Der Kapitän übergibt das Kommando an den Bauleiter. Der kennt die Reihenfolge, in der das Windrad aus zwei Turmsegmenten, Gondel, Stern und Elektrocontainer montiert werden muss. Für jeden Arbeitsschritt gibt es einen exakten Plan – doch oft setzt ihn das Wetter außer Kraft. Schon ab Windstärke vier müssen die meisten Arbeiten eingestellt werden. Das letzte Wort haben weder Bauleiter noch Bauherr, sondern ein Inspekteur der Versicherungsgesellschaft. Er steht stets mit auf der Brücke. Und wenn er den Daumen senkt, ist Feierabend. Die Mannschaft wählt dann zwischen Fernsehlounge und Fitnessstudio. Schichtwechsel ist alle zwei Wochen – per Helikopter. Im Mannschaftsboot würde der Weg zur Küste einen Arbeitstag kosten. Die Thor selber wird so selten wie möglich in den Hafen geschleppt. Windradbauteile werden per Schiff angeliefert und mit dem Kran an Deck gehievt. 500 Tonnen, so viel wie ein kompletter ICE, dürfen dabei maximal am Haken hängen.

Nur der Rotor eines einzigen Windrades findet Platz an Deck. Er ist so sperrig, dass er die gesamte Fläche – die immerhin das Format eines halben Fußballplatzes hat – alleine beansprucht. Platz gewinnen wollen die Ingenieure, indem sie die einzelnen Segmente der Türme künftig an Deck aufstellen, statt sie hinzulegen. Dann würden statt einem drei Türme samt Gondel auf die Thor passen, die Bauarbeiten würden beschleunigt. Das ist dringend nötig, denn im bisherigen Tempo sind die Ziele für die deutsche Offshore-Windkraft schlichtweg unerreichbar.

Statt 20 müssen rund 250 Windräder pro Jahr aus dem Wasser wachsen. Drei weitere Hubinseln sind dafür bereits in Bau, darunter eine Schwester der Thor – mit doppelt so großen Ausmaßen. Europaweit rechnet die EU-Kommission bis 2030 mit Investitionen von 200 Milliarden Euro für den Aufbau der Offshore-Windindustrie. Das größte Hemmnis wird dabei noch auf Jahre der Mangel an Montagekapazität auf See bleiben.

Unwetter sind dagegen kein Problem. Anders als ein Schiff kann die Thor schweren -Seegang einfach »abwettern«: Statt in einen sicheren Hafen zu flüchten, werden einfach die Beine noch weiter ausgefahren. 20 Meter stemmt die Plattform sich dann über die tosende See hinaus. »Die Hubinsel ist auf die Zehnjahreswelle ausgelegt«, sagt Flägel. Auf 17,5 Meter brachte es die stärkste im vergangenen Jahrzehnt gemessene Welle im Baugebiet vor Borkum. Unter der Thor würde sie einfach hindurchrollen.