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Flucht ins 20. Jahrhundert
Der amerikanische Science-Fiction-Film
von 1976 basiert auf der gleichnamigen Romanvorlage von William F. Nolan und
George Clayton Johnson; der Film schwächt zwar die deutliche Sozialkritik
etwas ab, sie bleibt jedoch immanent: Eine nicht datierte, ferne Zukunft in
der niemand mehr als 30 Jahre alt werden darf und darauf getötet wird.
Der Film war trotz 9 Millionen Dollar Produktionskosten (was nur unwesentlich
weniger war als Krieg der Sterne) ein großer kommerzieller Erfolg, so dass darüber
hinaus eine 14-teilige Fernsehserie produziert und mehrere Comics, u. a. von
Marvel, veröffentlicht wurden. Die Sets bestehen aus aufwändigen,
futuristischen Kulissen und Modellen einer von der Außenwelt abgeschnittenen
Kuppellandschaft, welche auf damalige Zuschauer sehr überzeugend wirkten,
im Zeitalter von Computeranimationen einen eher komischen und anachronistischen
Eindruck hervorrufen, einen „trashigen“ 70er-Charme.
Das Alter eines jeden Bewohners
der Stadt ist an einem Kristall in der Handfläche abzulesen, der mit dem
Erreichen des achten Lebensjahres gelb, mit dem des sechzehnten grün, mit
dem des dreiundzwanzigsten Jahres rot wird und mit Dreißig zu blinken
beginnt, „abgelaufen“ ist. Überdies hat jeder Einwohner eine uniformartige
Kleidung in der Farbe seines Lebenskristalls zu tragen. Die „Erneuerung“ wird
im so genannten „Karussell“ vollzogen, einer Art Arena, in der der Tod als euphorisches
religiöses Ritual, oder Wiedergeburt, inszeniert wird. Die hinter Masken
anonym Sterbenden werden vom ekstatischen Publikum angefeuert, der Vorgang wird
als „Emporsteigen“ euphemisiert.
Nichtsdestotrotz erscheint die
Welt anfangs noch als paradiesische, perfekte Utopie der 70er mit frei verfügbaren
Drogen und freier Liebe. Schnell werden jedoch die Zweifel offensichtlich: Kinder
werden nicht geboren, sondern in „Brütern“ (Brutkammern) gezeugt und nicht
von Eltern erzogen („Kann der Brüter eine Mutter ersetzen?“). Das System
beraubt den Menschen somit einer der ursprünglichsten Aufgaben, der Reproduktion,
Sexualität wird auf reine Lustfunktion reduziert; Frauen werden zu Prostituierten
in einer patriarchalen Gesellschaft herabgesetzt. Ein Computer („Servomechanismen“)
überwacht die Welt und beauftragt Sicherheitsleute, die „Sandmänner“,
solche, die nicht an die Erneuerung glauben, „Läufer“, zu eliminieren.
Mit „Sandmann“ wird euphemistisch Schlaf assoziiert, gemeint ist jedoch die
Exekution der Abtrünnigen, mit Läufer wird die Abwendung vom System
auf den Begriff der Flucht reduziert. Dieser Funktion kommen die Protagonisten
des Films zu Anfang hingebungsvoll nach: Die Sandmänner Logan 5 (Michael
York) und Francis 7 (Richard Jordan) – alleine in der Nummerierung zeigt sich
die Erbarmungslosigkeit und Allgegenwart des Systems – eliminieren einen Läufer
in einer geradezu sadistischen Verfolgungsjagd: „Der war lustig, was? [...]
„Die Abwechslung war hübsch, nur zu kurz.“ kommentiert Francis die Tötung;
der Leichnam des Läufers wird kurze Zeit später von einer Drohne mit
Säure aufgelöst.
Es ist ein System von totalitärer
Struktur (was bereits in der räumlichen Abgeschieden- und Abgeschlossenheit
ikonisch dargestellt ist), Freiheiten sind ganz im Sinne von Adornos Verständnis
von Aufklärung als Element von Herrschaft zu verstehen.
Die Läufer sind eine Gemeinschaft,
die über eine „Zuflucht“, auch Sanktuarium genannt, philosophieren. Sanktuarium
bedeutet Altar(raum), was eine der vielen religiös geprägten Vokabeln
des Films darstellt; Logan’s Run fungiert als Erlösungsgeschichte oder
zumindest als Flucht in die Spiritualität vor einer sinnentleerten Realität.
Sanctuary (engl.) steht jedoch auch ganz konnotationsfrei für Asyl, Zuflucht.
Logan erhält vom Computer den Auftrag die Läufer zu infiltrieren und
ihr Sanktuarium auszumachen; dafür wird sein Kristall von 26 auf 30 gestellt,
d. h. sein Leben verkürzt. Die Frage, ob er die verlorenen Jahre zurück
erhält, bleibt unbeantwortet.
Zu Anfang ist er noch ein loyaler
Sandmann, nimmt begeistert am Erneuerungsritual teil und die Tötung von
Läufern mit Beflissenheit wahr: „Ich habe eine Aufgabe und die muss ich
erfüllen. Sandmänner eliminieren Läufer. Das ist unsere Pflicht.“
Er lernt Jessica 6 (Jenny Agutter) kennen, die sich nicht auf das erwünschte
nihilistische Liebesspiel einlassen will, da ihr Freund erneuert wurde und sie
um ihn trauert. Sie bezeichnet dies gegenüber Logan konkret als Tötung,
worauf er noch mit Unverständnis reagiert. Sie ist ihm gegenüber kritisch,
da er ein Sandmann ist und fragt ihn, warum Läufer ausgelöscht werden
müssen, worauf Logan erwidert: „Es ist verboten darüber nachzudenken.
Für diese Frage müsste ich dich melden. [...] Du darfst nur an die
Erneuerung denken.“
Jessica ist Teil der Läuferbewegung
und Logan wird nach einiger Überzeugungsarbeit in deren Gemeinschaft aufgenommen.
Er beginnt allmählich an der vom System prädestinierten Existenz zu
zweifeln. Bei seiner Flucht exekutiert er in der slumähnlichen Vorstadt,
die „Kathedrale“, in die die „Rebellen“ verbannt werden (Logan, noch in seiner
Rolle als Sandmann: „Sie gefährden unseren Staat. Da unsere Gesellschaft
keinen Platz für Außenseiter hat, sind sie dorthin verbannt worden.“),
eine Läuferin nicht, was seinen nicht eingeweihten und systemloyalen Freund
Francis, der ihm auf den Fersen ist, schließlich gegen ihn aufbringt.
Logan will sich nun bei einem Arzt das Gesicht verändern lassen; dieser
erhält indessen den Auftrag, ihn zu töten. Logan kann den Arzt jedoch
überwältigen, ebenso wie Francis und entkommen.
Logan und Jessica setzen ihre
Flucht (durch eine skurrile Liebeshöhle) fort und gelangen in die Katakomben
unterhalb der Stadt.
Dort werden sie von den Sandmännern aufgespürt,
können jedoch erneut entkommen und geraten in einer Eislandschaft in die
Fänge des skurrilen Androiden „Box“, der die Läufer einfriert und
„haltbar“ macht. Sie können diesen niederringen und die Welt außerhalb
der Kuppeln erreichen: Es erwartet sie eine ungewohnte, blutrote, untergehende
Sonne, eine wilde ungezähmte Natur – ein scharfer Kontrast zur hellen und
kalten Eiswelt von Box.
Nach einigen Tagen Fußmarsch,
während dessen die Kristalle ihre Funktion verlieren, erreichen sie die
Überreste einer Stadt, erkennbar als Washington D.C. – zu sehen sind das
Washington Monument und das überwucherte Lincoln Memorial (als prototypisches
Symbol für den Verfall aller (amerikanischen) Werte). Sie treffen schließlich
in einem verfallenen Haus auf einen unter zahlreichen Katzen lebenden alten
Mann (brillant: Peter Ustinov), den sie ob seines Alters fasziniert betrachten
und berühren: Ihnen wird nun die Willkürlichkeit ihres Systems bewusst.
In Gesprächen mit dem alten
Mann erfahren sie von elementaren menschlichen und gesellschaftlichen Ritualen
und Prozessen, wie Geburt, Heirat oder Begräbnis, die bereits in Vergessenheit
geraten sind. Francis ist ihnen gleichwohl gefolgt und fühlt sich – alle
Zeichen, wie z. B. seine funktionslose Lebensuhr, ignorierend – weiter dem System
verpflichtet. In einem Kampf muss Logan Francis (mit einer amerikanischen Flagge!)
töten.
Allmählich begreifen Logan
und Jessica auch, dass die Zuflucht nur ein Synonym für die Welt außerhalb
ihrer hermetischen Existenz ist. Logan beschließt, in die Stadt zurückzukehren
und die Menschen dort zu informieren, der alte Mann begleitet sie als „Beweis“.
Sie gelangen über einen gigantischen Trichterbrunnen (der in den Fort
Worth Water Gardens, Dallas, Texas zu finden ist) zurück in die Stadt.
Ein erster Versuch, die Bewohner zu überzeugen, misslingt und sie werden
festgenommen. Logan wird vom Computer verhört, bringt das System durch
die Negation einer Zuflucht zum Zusammenbruch („Diese Antwort ist nicht programmiert“),
worauf die computerisierte Stadt kollabiert und die Menschen in Panik davon
rennen müssen. In der Abschlussszene umringen sie erstaunt den alten Mann
im Trichterbrunnen.
Der Film spielt mit der Idee einer
Welt voller Glückseligkeit, die letztlich nur oberflächliches Blendwerk
bleibt. Dahinter steht ein totalitäres System, optisch indiziert durch
ein Leben unter einer abgeschlossen Kuppel und die Kristalle, die jedes Mitglied
der Gesellschaft penetrieren, uniforme Kleidung und Gedanken. Das Hinterfragen
der „Erneuerung“, dem Sinn des Lebens, der Blick aus der Höhle ist verboten:
„Aufklärung hat die klassische Forderung das Denken zu denken [...] beiseite
geschoben.“ (Adorno, Dialektik der Aufklärung) Das System übernimmt
schließlich auch die Reproduktion, Sexualität ist pures Vergnügen,
Selbstzweck; Leben verkommt zum bloßen Vegetieren, wird rationalisiert,
„die Beherrschung der Natur [... wird] zum absoluten Lebenszweck gemacht.“ (Adorno)
Das Zwischenmenschliche verkümmert
und gerade Jessica sehnt sich unter der Kuppel zuerst latent, später umgeben
von der ungezähnten Natur oder Natürlichkeit manifest nach vermeintlich
bourgeoisen Werten wie Zweisamkeit (vs. Polygamie), Liebe (vs. gelebte Sexualität)
und Ehe (vs. freie Liebe). Diese Debatte antizipiert Lebensläufe und Doppelmoral
vieler 68er. Dass ausgerechnet eine Frau diese Werte kolportiert, könnte
man als Wunsch nach einem klassischen KKK-Frauenbild interpretieren, ebenso
aber als positive Darstellung weiblicher Intuition (was unter feministischen
Gesichtspunkten ebenso kritisch ist).
Die neuen „Freiheiten“ fungieren
nur als Vehikel von Herrschaft: Die Annehmlichkeiten dienen nur der Verschleierung,
Aufklärung regrediert zum rudimentären Instrument der Macht, bemüht
Ritus und Mythos. Demokratische Maßstäbe wie persönliche und
politische Freiheiten, Pluralität, politische Partizipation und ein signifikanter
Wettbewerb einer politischen Elite spielen keine Rolle. Die Totalität offenbart
sich in der Allgegenwart von Herrschaft; so wähnt Francis selbst im Angesicht
der wilden Natur, der „Wahrheit“, des funktionslosen Kristalls und des alten
Mannes weiter im Dienst des Systems. Ähnlich verhalten sich nordkoreanische
Flüchtlinge, die trotz Abwesenheit des Unterdrückungsapparats immer
noch den Diktator Kim Jong-il verehren. Francis’ Hingabe reicht so weit, dass
er bereit ist, dafür zu sterben; vielleicht ist dies auch der verzweifelte
Versuch, im Angesicht der Niederlage aufzubegehren. Diese Erfüllung und
das Verständnis von Pflicht stellen darüber hinaus eine Kontinuität
zum Dritten Reich her, gleichermaßen wie die optische Klassifizierung
der Menschen und die Kontrolle durch einen „Apparat“. Teil dieser Analogie ist
auch die euphemistische, verklärende und pseudo-religiöse Rhetorik.
Die Autoren der Filmvorlage formulieren
eine deutliche Kritik an der utopischen Vorstellung der 60/70er-Jahre-Hippiebewegung
und deren Werten, die sie quasi als Idealtyp übersteigern: Freie Liebe
resultiert in Kinderlosigkeit resultiert in Brutkammern resultieren in elternlose(r)
Gesellschaft resultiert im Zerfall sozialer Bindungen resultiert letztlich im
Untergang der freien (amerikanischen) Gesellschaft. Hierzu gehört auch
die positive Darstellung der Alten als zentrale Wissensträger gegenüber
einer rebellischen Jugendkultur wie in den 60er-/70er-Jahren, einer Kultur in
der die Handlungsimpulse von jungen Menschen ausgehen, die im Film repräsentiert
ist.
Diskutiert wird auch der Umgang
mit Andersdenkenden: Nonkonforme werden in die „Kathedrale“ abgeschoben oder
gejagt, getötet und vernichtet; überträgt man diese Konstellation
auf die politische Realität (der 70er-Jahre), wird hier also auch der Umgang
der bürgerlichen (US-) Gesellschaft mit Randgruppen wie Hippies, Rockern
oder Punks hinterfragt. Positiv konnotiert wird auch das Verhältnis der
Hippie-Bewegung zur Natur und Natürlichkeit; ganz oberflächlich im
Kontrast der aseptischen Kuppelgesellschaft zur wuchernden Natur außerhalb,
aber auch in der eintretenden Gesinnungsänderung von Logan und Jessica,
die zuerst Teil eines artifiziellen Systems sind, dann aber eine zwanglose und
willensfreie Form der Existenz wählen (dargestellt z. B. durch das Liebesspiel
im Wasser). Nicht das aufklärerische Verständnis im Sinne von „Mitte“
oder „Balance“, sondern „Ursprünglichkeit“ oder „Originalität“ sind
Ausdruck der Natürlichkeit.
Ein weiteres angrenzendes Themenfeld
ist der Kampf Mensch vs. Maschine am Schluss des Films. Der Mensch geht hier
als Sieger hervor, der Computer kollabiert angesichts einer nicht programmierten
Antwort. Zwar waren Heimcomputer 1976 noch wenig leistungsfähig, was sicher
auch das Ende des Films und das Verständnis von Computern allgemein prägte,
allerdings ist davon auszugehen, dass hier der Sieg der Natürlichkeit,
des Individuums, der Menschlichkeit verdeutlicht werden soll.
In Logan’s Run werden zahlreiche Themen diskutiert, darunter zahlreiche politische
und philosophische Diskurse: Grundlegend das Hinterfragen der eigenen Existenz
und deren Umstände, das den Menschen im Zuge der Aufklärung zur Demokratie
geführt hat. Der Film zeigt die Konsequenzen auf, wenn ein System jene
Fragen unterdrückt und unter dem Deckmantel der Rundumversorgung die Rolle
einer rücksichtslosen göttlichen Instanz einnimmt; das Individuum
wird so weit manipuliert, dass es über den Wirkungsradius des Systems hinaus
in dessen Bann bleibt. Von hier aus wird die Debatte weitergeführt zu immanent
politischen Themen wie eine Kritik der Hippiebewegung, der westlichen Gesellschaften
im Allgemeinen und der US-amerikanischen im Besonderen.
Aufklärung wird dabei differenziert
erörtert und selbstkritisch hinterfragt. Die Wirkung des Films resultiert
nicht aus einem plakativen Antagonismus von Freiheit und Zwang, sondern aus
dem komplizierten Mechanismus von unfreier Freiheit und freier Unfreiheit. Eine
motivliche Kontinuität ist in Running Man zu finden.
Philip Baum
Dieser Text ist zuerst erschienen in: cinepolitik.de
Flucht ins 23. Jahrhundert
LOGAN'S RUN
USA - 1976 - 117 min. – Scope - Verleih: CIC, MGM/UA Home (Video)
- Erstaufführung: 4.3.1977 - Produktionsfirma: MGM - Produktion: Saul David
Regie: Michael Anderson
Buch: David Zelag Goodman
Vorlage: nach einem Roman von William F. Nolan und George C. Johnson
Kamera: Ernest Laszlo
Musik: Jerry Goldsmith
Schnitt: Bob Wyman
Special Effects: Glen Robinson, L.B. Abbott, Frank van der Veer,
Matthew Yuricich
Darsteller:
Michael York (Logan)
Jenny Agutter (Jessica)
Peter Ustinov (Alter Mann)
Richard
Jordan (Francis)
Roscoe
Lee Browne (Robot Box)
Farrah
Fawcett-Majors (Holly)
Gary
Morgan (Billy)
Michael Anderson jr. (Doc)
Randolph Roberts (Sancturianer)
Lara Lindsay (Läuferin)
Gary Morgan (Billy)
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