Reinigungsrituale, Ruinen und Korean Soulfood - After The Rain von Jinran Kim in der Galerie im Körnerpark

Korea - Ruine - Reinigung

 

Reinigungsrituale, Ruinen und Korean Soulfood
Zur Ausstellung After The Rain von Jinran Kim in der Galerie im Körnerpark 

 

Kennen sie den Körnerpark? Nein, der Körnerpark ist nicht nach dem preußischen Schriftsteller und Kriegslieddichter Theodor Körner (1791-1813) benannt, was in Berlin immer nahe liegt. Der Name kommt auch nicht von früh-ökologischen Parkprogrammen. Der Körner, der den Namen für den Park gestiftet und verfügt hat, war vielmehr ein zu Wohlstand gelangter Kiesgrubenbesitzer um 1900 beim Dorf Rixdorf, das im heutigen Bezirk Neukölln aufgegangen ist. 1916 wurde die ehemalige Kiesgrube als neo-barocker Körnerpark eingeweiht. Reformarchitektur. In den 1970er Jahren entschied sich der Bezirk, den Garten wegen seines alten Baumbestandes zu erhalten und zu revitalisieren. 1983 wurde die Galerie im Körnerpark eröffnet. Sie zeigt gerade eine Werkschau der seit mehreren Jahren in Berlin und Seoul lebenden und arbeitenden Künstlerin Jinran Kim mit dem Titel After The Rain.

Am Freitagabend reinigte passend zum Ausstellungstitel ein heftiger Regenschauer die Luft über dem Körnerpark. Nach dem Regen ist die von Feinstaub und Pollen geschwängerte Berliner Frühjahrsluft wieder rein. Nicht nur Allergiker wissen das zu schätzen. Wie lange hält Reinigung an? Reinigung ist auch ein Akt der Vergeblichkeit. Die Existenz wird immer auch von Schmutz, Schutt, Rückständen, Resten und Ruinen heimgesucht. Reinigung ist ein unterschiedliche Werkgruppen der Künstlerin verknüpfendes Thema. Sie benutzt dafür verschiedene Medien wie Tusche, Asche, Seife, Performance, Skulptur, Video. Reinigungsrituale werden sinnlich mit Gerüchen, Arbeit und Lebenszeit verknüpft. Jinran Kim legt Wert auf eine möglichst intensive Sinnlichkeit, wie die Kuratorin Lena Braun erwähnte.

Mit dem Thema der Reinigung verknüpft Jinran Kim auch das Sujet der Ruine, wie sie nach dem 2. Weltkrieg mit sprichwörtlichen Trümmerlandschaften und Trümmerfrauen, die die Enttrümmerung Berlins vornahmen, die Stadt zeichnete. Sie reinigten Berlin von den Spuren des Krieges, die dennoch so groß waren, dass sie nicht restlos getilgt werden konnten und auch nicht sollten. In Korea ist die Beseitigung der Kriegsschäden aus dem Koreakrieg zwischen 1950 und 1953 mit etwa 3 Millionen getöteten Zivilisten nahezu restlos getilgt.[1] Es gibt keine mit Berlin vergleichbare Ruinen- und Erinnerungskultur in Seoul. Jinran Kim hat nicht nur eine Werkgruppe von Trümmerbildern geschaffen, es gibt darin auch eine mit Trümmerfrauen in koreanischer Kleidung. Die Erinnerung, die in Korea beim Aufstieg von einem der ärmsten Länder Asiens zur Computer- und Technologie-Supermacht getilgt wurde, findet in den Bildern von Kim an einem anderen Ort statt.   

Manchmal kommen koreanisch gekleidete Frauen in Rückansicht in den schwarzen Tuschebildern auf Baumwolle vor. Es sind Frauen der Künste, die zur Unterhaltung der Gäste tanzen, Gedichte rezitieren oder Musik machen – koreanische Geishas. Doch diese minimalistisch angedeuteten koreanischen Frauen in Trümmerlandschaften spielen keine Instrumente zur Unterhaltung. Stattdessen befinden sie sich vereinzelt, allein in einer fremdartigen Landschaft. Schleifen und Stoffe der Kleidung werden von Luftzügen bewegt. Sie kommunizieren nicht miteinander. Sie sind auch Displaced Persons, heimatlose Geister.

Aus den Trümmerlandschaften schälen sich Ruinen hervor. Die Ruinen werden in einem Moment der Stille und Leere inszeniert. Die koreanischen Geishas in ihren langen Kleidern verstärken eher die Leere, als dass sie sie durchbrechen. Sie machen den Raum nicht urbar oder enttrümmerten ihn. Sie bleiben allein schon wegen ihrer Kleider vor den Ruinen und sind doch mitten drin. Die Ruine in einer Zwischenzeit. Was ist passiert? Was wird passieren? Und was passiert mit dem Betrachter? Ruinen halten sich zwischen einem Nicht-mehr und Noch-nicht.  

Ruinen zeugen von einer Zerstörung, die stattgefunden hat. Aber sie sind noch keine Denkmäler. Mit der zerstörten, von Menschen zerstörten Architektur sind noch tiefer gehende Konstruktionen zerstört worden. Von den Konstruktionen gibt es nunmehr Reste. Wenn einzelne Ruinen enttrümmert sein werden, wenn ganze Ruinenlandschaften im Aufbau verschluckt sein werden, wenn nur noch einzelne Ruinen als Denkmale (re-)konstruiert sein werden, dann wird es die Ruine als Rest von Stahlgerippen nicht mehr geben. Sie wird etwas anderes geworden sein.

In den Jahren nach 1989 sind im Ostteil Berlins abermals viele Ruinen gesichert oder beseitigt worden. Ruinen wurden zum Denkmal erklärt wie die Ruine der Parochialkirche oder die des Grauen Klosters in der Klosterstraße, gesichert oder denkmalgerecht restauriert. Industriegelände, Staatsbauten am Stadtrand andererseits wurden zu Ruinen. Ständig verschwinden Ruinen in der historischen Mitte der Stadt. Oft werden sie restauriert und zu Denkmälern umgewidmet. Als Denkmal werden Ruinen im historischen Kontext erfasst. Die sonderbare Ex-istenz der Ruine wird kontextualisiert. Das hat einerseits dazu geführt, dass man in Berlins Mitte an jeder Straßenecke Text-Tafeln, oft mit historischen Fotos versehen, findet. Andererseits werden Lücken im Straßenbild geschlossen.

Die Lücke, wie sie von Christian Boltanski in der Großen Hamburger Straße 15/16 1990 künstlerisch herausgestellt werden konnte, ist eine Schwester der Ruine. Im Berliner Jargon wurde die Ruine der Kaiser Wilhelm Gedächtniskirche nach 1945 schnell „Der faule Zahn“ genannt. Ein fauler Zahn schmerzt. Lücken im Stadtbild, in der Häuserreihe einer Straße stören. Verschenkter Stadtraum. Renditeloser Baugrund. Um schmerzhafte Lücken in Berlins Mitte offen zu halten, braucht es mittlerweile besonderer, meist künstlerischer Anstrengungen wie sie Christian Boltanski zu seiner Aufgabe gemacht hat.

In der Klosterstraße, wo einige der Ruinen-Bilder von Jinran Kim in ihrem Atelier entstanden sind, gab es zwei prominente Ruinen. Die Ruine der Klosterkirche wurde noch vor 1989 zu einem Denkmal umgewandelt. Die Ruine der Parochialkirche und insbesondere ihrer Gruft existierte noch lange. Mittlerweile ist die Gruft restauriert worden. Die Totenruhe wurde wiederhergestellt. Die Wiederherstellung der Totenruhe ist tief mit der Ruine verschränkt. In Ruinen finden geradezu beispielhaft die Toten keine Ruhe. Oft spukt es in Ruinen.

Geister, die sich nicht fassen lassen, die flüchtig sind, bewohnen häufig Ruinen. Sie kehren oft nur als Geräusch wieder. Sie entziehen sich als Schemen deutlicher Sichtbarkeit. Geister und Ruinen lösen sich an der Rändern auf. Die Wiederherstellung der Totenruhe in der Parochialkirche wurde nicht zuletzt dadurch vollzogen, dass man aufgebrochene Grabkammern wieder verschloss, dass mumifizierte Leichen und Knochen wieder in Särgen und Kammern bestattet wurden und dass die gesamte Gruft so gesichert wurde, dass kein unbefugtes Eindringen von Außen mehr möglich ist.

Die sogenannte historische Mitte von Berlin, die Stadtviertel St. Marien und Heiliggeist[2], hat wie nur wenige andere Orte ein eigentümliches Verhältnis zur Ruine. Sie ist ein prominentes Thema der Stadtentwicklung. Einerseits wurde insbesondere das Areal um das Rathaus zum Schauplatz des Versprechens vom modernen, sozialistischen Menschen. Andererseits wurden Ruinen wie die Marienkirche als Denk- und Mahnmale an die Zivilopfer der Alliierten Luftangriffe auf Berlin von der Staatsführung vereinnahmt und wieder aufgebaut.  

Der Fernsehturm als technologisches Monument des Sozialismus für ein geplantes „Forum der Nation“[3] überragt bei weitem die wieder aufgebaute St. Marien-Kirche. Der Schauplatz mit den historischen Versatzstücken von Neptunbrunnen, Rathaus und St. Marien musste für die neue Anschauung enttrümmert werden. Andererseits werden heute bei Bauarbeiten wie beispielsweise der Verlängerung der U 5 verschüttete Ruinen zufällig freigelegt. Sie werden archäologisch gesichert und oft rasch in Denkmale umgewidmet. Architekturpläne werden abgewandelt und schließen ruinenartige Fragmente ein.

Man muss an dieses Verschwinden der Ruine(n) und Lücke(n) in der historischen Mitte Berlins – Stadtviertel St. Marien, Heiliggeist, St. Petri und St. Nikolai, Schlossplatz und Dominikanerkloster - erinnern, wenn man Jinran Kims malerische Arbeit an der Ruine würdigen will. Die Ruine ist in sich selbst eine äußerst flüchtige Erscheinung, die auf vielfältige Weise vom Verschwinden bedroht wird. Der Modus des Zerfalls macht die Ruine aus. Doch dafür gibt es weder Zeit noch Raum in einer Metropole. Ein Lufthauch der Geschichte nur - und schon wird die Ruine gewesen sein.

Die Ruine ist nicht zuletzt der Geschichte wie bei Walter Benjamins Engel der Geschichte ausgesetzt. Vom Engel der Geschichte heißt es bei Walter Benjamin, dass er „das Antlitz der Vergangenheit zugewendet“ hat.  

Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.

Bereits 1925 schreibt Walter Benjamin im Ursprung des deutschen Trauerspiels über die Ruine und verkoppelt sie mit der Schrift. Es ist der Modus der „Vergängnis“ mit dem die Ruine bildlich erscheint. 

Wenn mit dem Trauerspiel die Geschichte in den Schauplatz hineinwan­dert, so tut sie es als Schrift. Auf dem Antlitz der Natur steht »Geschichte« in der Zeichenschrift der Vergängnis. Die allegorische Physiognomie der Natur-Geschichte, die auf der Bühne durch das Trauerspiel gestellt wird, ist wirklich gegenwärtig als Ruine.

 

Für Benjamin ist die Schrift, kein narrativer Gestus, der die Natur im Trauerspiel zur »Geschichte« macht: „Auf dem Antlitz der Natur steht »Geschichte« in der Zeichenschrift der Vergängnis.“ Benjamins merkwürdige Formulierung von einer „Vergängnis“ statt Vergänglichkeit hebt das Prozesshafte der Ruine hervor. Mit der Ruine erscheint auf dem Schauplatz der Schrift das Vergangene und das Vergehen. Denn die Ruine funktioniert auch als Zeugnis für ein Vergehen, durch das etwas zerstört worden ist.  

Ruinen sind medial weniger mit der Malerei als vielmehr mit dem Medium der Photographie verknüpft. Photos sind immer auch kleine Ruinen. Photos von Ruinen, insbesondere wenn sie menschenleer sind – Geister mögen sich darin bewegen, aber keine Menschen -, wiederholen die Flüchtigkeit der Ruine. Wenn die Landschaften enttrümmert sein werden, dann werden nur noch Photos an Trümmerlandschaften erinnern. Doch als Ruinen rufen Ruinen eben auch immer eine Erzählung an, woran nicht zuletzt Droits de regards von Jacques Derrida erinnert, wenn er fragt, welche Geschichten er sich noch alle hätte erzählen können.

In der europäischen Kunstgeschichte taucht die Ruine ikonographisch zunächst vehement als ein verlorener Ort, den es wieder zu gewinnen gilt, auf. Um 1510 malt Luca Signorelli (um 1445/53-1523) das Portrait eines älteren Mannes mit einer römischen Ruine als Monument [4] im Hintergrund. In Leonardo da Vincis (1452-1519) unvollendeter Anbetung der Heiligen Drei Könige (zwischen 1481 und 1482) erscheint sie geradezu konkurrierend und rekonstruiert als antike Architektur. Das Monument der Antike trifft auf die sakrale Malerei und wird in dieser Kombination verworfen. Die Ruine als Monument passt eher ins Bild des Portraits, könnte man sagen.

Bei Sandro Botticelli (1445-1510) wird die Ruine zunächst im christlich-bürgerlichen Kontext der Stadt Florenz zur Staffage. In der Anbetung Marias (zwischen 1470-1475), der sogenannten „Geburtsruine“ überschneiden sich das Florentiner Bürgertum, Heiligenbild und eine Ruine, die bereits durch ein Spitzdach zur Kirche als Schauplatz umgedeutet wird. Die Ruine wird bei Botticelli reine Konstruktion im Dienste der Sakralmalerei. In der alttestamentarischen Bestrafung des Korah und die Steinigung von Moses und Aron (1481 und 1482) inszeniert Botticelli auf 570 cm Breite und 348,5 cm Höhe in der Sixtinischen Kapelle eine Ruinenkulisse als Schauplatz eines Gottesgerichts vor einer Bucht, an deren Ufern gleichzeitig eine mittelalterliche Kirche, ein Hafen mit Schiffen und eine mittelalterliche Stadt auftauchen, um so eine überzeitliche Gültigkeit des Gottesurteils hervorzurufen.  

Im späten Barock arrangieren Maler wie Giovanni Paolo Pannini (1691-1765) ganze Ruinen-Landschaften als Monumente wie sein Capriccio com o Coliseu e o Arco de Constantino, in dem auch eine überwucherte Pyramide oder beschädigte antike Statuen nicht fehlen dürfen, oder Römische Ruinen mit Propheten (1651). Bei Giovanni Battista Piranesi (1720-1778) wird die Ruine zur Wiedergabe einer verfallenden Architektur. Er zeichnet und sticht Veduten. Ihre Funktion als Monument ist nunmehr derart verankert, dass sie im Modus der Druckgrafik ohne Kontextualisierung zum Genre Portrait oder zur Sakralmalerei allein zu stehen vermag.

Im 18. Jahrhundert wird die Ruine zum Topos der rückeroberten Klassik und antiklerikaler Moderne. Nicht zuletzt geht dies einher mit den Reisen englischer Adeliger nach Rom als Höhepunkt und Zielort der Grand Tour als klassisches Bildungsprogramm. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts setzt indessen ein erster intensiver Rom-Tourismus ein, der das Monument bereits zum Souvenir macht. Das Monument der Antike wird zum Möbel des Bürgertums.

Um 1800 wandelt sich die Ruine insbesondere mit Caspar David Friedrich (1774-1840) zum romantischen Topos einer verlorenen Zeit und einer Verlassenheit des Individuums. Die Ruine löst sich als Monument antiken Wissens auf. In seinen Bildern von der Klosterruine Eldena um 1810 wird die Ruine zum Sinnbild für die Verlassenheit des Individuums. Denn die einstige Größe der gotischen Kathedrale ist nur noch Erinnerung, vielleicht eines einzelnen Mönches, und schließt längst nicht mehr an die Macht der Kirche im Mittelalter an. Während die Kirche Gemeinschaft versprach, gibt es um 1810 nur noch einzelne, fast winzige Mönche vor der Ruine oder auf einer Düne am Meer.

Prinz Carl von Preußen (1801-1883) richtet sich nach seiner Rückkehr aus Italien 1823 Schloss Glienicke als italienische Villa mit Resten und Ruinen aus Italien ein. Die Ruine als Souvenir wird endgültig zum Lifestyle der Moderne. Sie wird begleitet vom Berliner Eisenguss unter prä-industriellen Bedingungen aus der 1805 gegründeten Königlich Preußischen Eisengießerei in der Invalidenstraße. Friedrich Schinkel (1781-1841) entwirft antikisierte Schmuckschalen, eine Stürzende Amazone und einen Geflügelten Genius [5] sowie Grabmale im Typ der Ara [6] aus Eisen. Die Ruine des Klosters Chorin wird zum Ausflugsziel am Wochenende für Berliner.  

Bei Jinran Kim kommen die Ruinen anders ins Bild. Das hat nicht zuletzt etwas mit der Verschränkung von Photographie und Ruine zu tun. Jinran Kim kennt die Trümmerlandschaften von Berlin überwiegend nur von Photos. Doch die Ruinen, die Kim als Denkmäler in Berlin begegnet sind, haben die Photos für sie auf rätselhafte Weise lebendig gemacht. Die Ruinen sind ihr als Künstlerin sozusagen nahe gekommen und haben einen kreativen Prozess zwischen Photographie, Tuschmalerei und Erinnerung in Gang gesetzt. Sie malt sogar mit Asche. Kims Ruinen wirken seltsam präsent und abwesend zugleich. Die schwankende Präsenz der Ruinen hält sich in einem Spannungsraum von photorealistischer Wiedergabe und surrealer Bildfindung.

In einem Gespräch hat Kim gesagt, dass sie die Ruinen in Berlin auch deshalb interessieren, weil es beispielsweise in Seoul gar keine Ruinen gibt. Eine Ruine, wie die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, die wahrscheinlich wie kein anderes Monument zumindest bis 1989 ein Symbol für West-Berlin nach 1945 geworden ist, wird es in Seoul nicht geben. Die West-Berliner nannten die Ruine der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche vieldeutig „Der faule Zahn“. Das habe ich schon lange nicht mehr gehört. Denn ein fauler Zahn tut weh.

Faule Zähne gibt es im Stadtbild Seouls sicher nicht, schon weil der Baugrund zu teuer ist. Von Shanghai lässt sich aus eigener Anschauung berichten, dass Hochhäuser, die Mitte der 90er Jahre der Stolz ganzer Stadtviertel waren, mittlerweile abgerissen und durch höhere ersetzt wurden. Aber man muss nicht einmal so weit fahren. Dorothea Carl und Claudia Reiche haben mit demo_lition (2011) einen Film über den Abrisswahn in der Freien und Hansestadt Hamburg gedreht. Ständig verschwinden Häuser, die unrentable geworden sind, und werden an deren Stelle neue gebaut, die eine höhere Rendite versprechen. Ruinen haben da ganz und gar keinen Platz. Die Ruine von St. Nikolai an der Willy-Brandt-Straße ist so ziemlich die einzige Ruine mit Förderverein, die sich Hamburg leistet.

Ruinen bringen keine Rendite. Ruinen als Denkmäler sind sogar im Unterhalt sehr teuer, wie man in Berlin vom Ruinen-Monument der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche oder St. Nikolai in Hamburg weiß. Heute werden modernste Materialien und Techniken eingesetzt, um den Verfall von Ruinen zu stoppen. In Seoul gibt es die Kultur der Ruine nicht. Sie stellt keinen Wert dar. Sie ist nicht nur wertlos, sondern verhindert ein finanztechnisches Renditestreben. Damit macht Jinran Kim mit ihren Ruinen-Bildern auf zwei Bewegungen aufmerksam. Sie rückt die Ruine als Ruine den Betrachtern wieder vor Augen. Nicht Sentimentalität oder Horror lösen die Ruinen aus, sondern ein Innehalten. In einer zweiten Bewegung bekommt die Ruine etwas Sperriges, Widerständiges. Und sie widerstrebt der Ideologie der Rendite.

Insofern als die Ruinen, auf die Jinran Kim in verschiedenen Bild- und Perspektivtechniken wie 2013 mit Trümmerlandschaft in chinesischer Tuschbildweise immer wieder anders zurückgekommen ist, oszillieren sie zwischen Erinnerungsarbeit und Reinigungsritual. Die Erinnerungsarbeit, die in Korea weit weniger praktiziert, um nicht zu sagen verdrängt, wird, wäre auch für eine Reinigung notwendig. In diesen Kontext der Erinnerungsarbeit gehören ebenso die Last Mattresses, für die Jinran Kim 2010 in einem Interview das Erinnern im Produktionsprozess betont hat. Und last but not least gehört dazu die Performance Exercise in Futility, die Jinran Kim entwickelt hat.

Die Performance Übung in Vergeblichkeit/Exercise in Futility wurde zur Vernissage am Freitag aufgeführt und wird nur 4 weitere Male zu 48 Stunden Neukölln am 27., 28. und 29. Juni 2014 wiederholt werden. Vielleicht lässt sich genau von dieser auch paradoxen Performance Kims Konzept von Reinigung erhellen. Insofern sie nämlich eine Frau mit Musikbegleitung und Video einen Boden aus Seifenstücke schrubben lässt, also auch ein Boden geschrubbt wird, der nicht gereinigt werden müsste, der aber durch das Reinigungsritual einen angenehmen Duft entfaltet, Seifenblasen entstehen lässt und auch eine Art Zeitvertreib ist, wird die Reinigung gleichfalls zwecklos.

Exercise in Futility ist kombiniert mit Last Mattress an der Wand und einem komplexen Sideboard mit Reinigungsutensilien eine äußerst vielschichtige Produktion. Denn sie spielt ebenso auf die Rolle der Frau in Süd-Korea und anderen zu Wohlstand und Bildung gekommenen südostasiatischen Ländern an. Vor kurzem berichtete ein Dossier der ZEIT von Frauen aus Vietnam ─ Die gekaufte Braut ─, die von Südkoreanern geheiratet werden, weil südkoreanische Frauen heute nicht mehr heiraten und die Rolle der Haus- und Ehefrau übernehmen wollen. Ähnliche Entwicklungen gibt es ebenso in Taiwan oder Japan. 2006 hat sie die Performance in Tokio gezeigt. Tawanische Männer bevorzugen Frauen von den Philippien, soweit bekannt ist, die sich dann häufig ziemlich rechtlos in Land und Kultur zurechtfinden müssen.

Zwischen Reinigungsritual, Erinnerungsarbeit und feministischer Gesellschaftskritik entfaltet sich das Werk von Jinran Kim, das noch bis 27. Juli 2014 in der Galerie im Körnerpark zu sehen. Der Körnerkiez kann damit Punkten. Und gleich um die Ecke gibt es dann für das perfekte Korea-Feeling Ban Ban Kitchen auf der Hermannstraße 205. Absolut empfehlenswert, super hipp und beim Ban Ban Ninja Chicken Burger mit Sesamkörnern auf dem Brötchen für 4,50 € nicht ganz billig, aber super lecker. Wer hätte gedacht, dass es so viel Süd-Korea ausgerechnet in Neukölln gibt. 

 

Torsten Flüh 

 

Galerie im Körnerpark 

Jinran Kim 

After The Rain 

bis 27. Juli 2014 

Dienstag bis Sonntag 10:00 bis 18:00 Uhr

 

Katalogpräsentation

1. Juni 2014, 15:00 bis 16:00 Uhr

 

48 Stunden Neukölln 

Exercise in Futility 

Fr, 27.06.2014, 21:00 Uhr 

Sa, 28.06.2014, 16:00 und 21:00 Uhr 

So, 29.06.2014 16:00 Uhr

 

Ban Ban Kitchen 

KOREAN SOULFOOD 

Hermannstraße 205 

Mo. bis So. 17:00 bis 22:00 Uhr 

Mittwoch geschlossen 

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[1] Anm: Nordkorea hatte mit der Hilfe der Volksrepublik China am 25. Juni 1950 angegriffen und konnte zunächst fast die gesamte südkoreanische Halbinsel erobern. Ende 1950 hatte Süd-Korea mit Hilfe der Amerikaner fast den gesamten Norden erobert. Schließlich wurde der 38. Breitengrad bei Friedensschluss zu einer Demarkationslinie erklärt.

[2] Vgl. dazu: von Kieseritzky, Wolther: Berlins historische Stadtviertel St. Marien und Heiliggeist. In: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte Berlins. 106. Jahrgang, Heft 1, Januar 2010. S. 290/291

[3] Vgl. dazu: Kahler, Susanne: Zwischen Spree und Alexanderplatz – Stadtgestaltung der DDR. In: Mitteilungen … S. 292 ff, insbesondere Abb. S. 294

[4]Anm.: Stefan Weppelmann macht die „antikisierende(n) Monumente, die wohl auf Rom verweisen“, zum Ausgangspunkt seiner Portrait-Interpretation. (S. 147) Die Ruinen des Forum Romanum dokumentieren den Machtanspruch des Auftraggebers aus Siena. Damit wird der Ruine ikonologisch in der Renaissance bereits eine Funktion zugewiesen, die sie in ein Monument, also einem Zu-erinnernden-Sinn, verwandeln. Erinnert werden soll an die Größe und genealogische Herkunft des Portraitierten aus einer antiken, römischen Senatorenfamilie. Vgl. Weppelmann, Stefan: Kat. 37 Luca Signorelli … Portrait eines älteren Mannes (Pandolfo Petrucci?) In: Gesichter der Renaissance – Meisterwerke intalienischer Portrait-Kunst, hrsg. von Keith Christiansen und Stefan Weppelmann (Museumsausgabe) Berlin 2011. S. 147-149

[5]Vgl. Barthel, Elisabeth u. a.: Die Königliche Eisen-Giesserei zu Berlin 1804-1874. Die Sammlung Preußischer Eisenguß in der Stiftung Stadtmuseum Berlin. Berlin 2004. S. 95

[6]Ebenda S. 48 und 49