Vom Schrecken der Macht des Einen - Zur Welturaufführung beider Teile von Eisensteins und Prokofjews Ivan Grozny beim Musikfest

Russland – Einheit – Ornament 

 

Vom Schrecken der Macht des Einen 

Zur Welturaufführung beider Teile von Eisensteins und Prokofjews Ivan Grozny beim Musikfest

 

Die Begeisterung im restlos ausverkauften Konzerthaus am Gendarmenmarkt kannte letzten Freitag kaum Grenzen. Bravos und Standing Ovations. Frank Strobel hatte das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, den Rundfunkchor Berlin sowie die exzellenten Solisten Marina Prudenskaja und Alexander Vinogradov live zur Filmvorführung mit der wissenschaftlich rekonstruierten Musik von Sergei Prokofjew für Ivan Grozny/Iwan der Schreckliche dirigiert. Aus Recherchen und Vergleichen hatte Frank Strobel eine Partitur rekonstruiert, die den Intentionen des Komponisten und des Drehbuchautors wie Filmkünstlers Sergei Eisenstein dem jemals Gehörten am nächsten kommt. Im Publikum saßen zahlreiche, internationale Fachleute für das nie zuvor in dieser Weise wahrnehmbare musikalische Filmdrama von 1944/1945.

 

Das zweiteilige, musikalische Filmdrama kursiert im Internet in mehreren Kopien mit schlechter Ton- und Bild- sowie noch schlechterer Klang-Qualität. Seine Rezeptions- und Wahrnehmungsgeschichte ist zum Teil der kursierenden Kopien geworden. Das monumentale Geschichtsthema der politischen Einigung eines großen, russischen Reiches unter einem Zaren, einer überragenden Einigungsfigur wird im musikalisch durchkomponierten Filmdrama entfaltet, fand zunächst begeisterte Aufnahme bei Josef Stalin, um nach der Vorführung des zweiten Teils in tiefste Ungnade und der Zensur bis 1958 anheimzufallen. In der Umschreibung der Figur des Zaren Iwan wird nicht nur psychologisch, sondern philosophisch dekonstruierend das Problem des Einen und der Einheit, der Homogenisierung und der Ornamentalisierung dramatisch heraufbeschworen und verworfen.

 

In der berühmten Schlusseinstellung des ersten Teils bilden 1944 die ornamentalen wie endlosen, niederknienden Pilgerreihen mit dem Profil des Zaren das ultimative Bild grenzenloser, personifizierter Macht über das Volk aus ihm selbst heraus. Die Musik Prokofjews wechselt von einer Art gregorianischem Pilgergesang in eine an Richard Wagners Musikdramen erinnernde mit dem Orchesterapparat ausgesteuerte Apotheose. Das Profil als beispielsweise auf Münzen verbürgtes Bild der Einzelherrschaft wird im Wechsel vom Pilgerchor – „Komm zurück, du unser Zar. Komm zurück! Auf den Knochen der Feinde, auf der Brandstätte, versammelt sich das vereinte Russland.“ – zur Transformation der Massen als gleichmachendes Ornament im Fortissimo des großen Orchesters. 

Glocken, große Trommel, Triangel, Becken, alles schellt und scheppert, wenn die Vision von Großartigkeit um sich greift.[1]

 

Doch mit der Großartigkeit bricht das Bild auch und zerbricht 1944 mit den endlosen Flüchtlings- und Gefangenenzügen nach Westen und Osten. Die Transformation der Macht über ein großes, einiges Russland in das Profil des Zaren durch die Pilger wird in und mit der Musik im kommunistisch-stalinistischen Russland noch bruchlos möglich. Die Kamera wechselt in die starke Untersicht der Unterwerfung, wenn Iwan sich abwendet und die Stufen hinaufsteigt, um mit einem Blick zurück die Übertragung der selbstinszenierten Macht zu quittieren. Iwan IV. (Nikolai Tscherkassow) ist weniger von seiner eigenen Großartigkeit berauscht, als dass er in der Figur des Einen die Leere und Einsamkeit der absoluten Macht aufführt. Es ist ein zutiefst gespaltenes Bild der Macht, die Großartigkeit vorgibt, um sie zum Scheitelpunkt für die Erzählung von der Macht zu machen. Der zweite Teil der Geschichtserzählung über Russland und seine einende Herrscherfigur will nicht gelingen, wird zur Persiflage auf das Eine und die Macht. Bereits am 27. Mai 1959 diskutierte der SPIEGEL unter dem Titel Man sieht nur Stiefel ausführlich Eisensteins Werk und den zweiteiligen Monumentalfilm. Wechselweise wurde die Großartigkeit der Herrscherfigur auf Stalin und als auf Sergei Eisenstein bezogen. Wegen der mangelnden Geschlossenheit unterzog sich Eisenstein einer Selbstkritik. 

 

Steffen Georgi schreibt im Programmheft zur Aufführung den Historienfilm quasi zu einer „unvollendeten Götterdämmerung“ und „Filmoper“ um. Den Antagonismus des Einen, wie er von Eisenstein und Prokofjew aus der Produktion des Films selbst entwickelt wird, sieht er nicht. Er liegt interessanter Weise unter der Psychologie der Herrscherfigur. Das heißt, dass Iwan Grosnij als Herrscherfigur genau das verdeckt, was sich im zweiten Teil zur Persiflage verkehrt. Iwan setzt sich und wird vom Volk an die Stelle Gottes gesetzt, der er im streng kommunistisch-stalinistischen Machtverständnis nicht sein darf. Und Gott in seiner einigenden Allmacht wird durch seinen Zwang, immer nur auf Anfeindungen reagieren zu müssen, lächerlich. Iwan Grosnij ist das Projekt einer neuen Geschichtsschreibung, die Josef Stalin zum positiven Iwan IV. umschreiben sollte, was gründlich misslang, wie die Literaturwissenschaftlerin Lilia Antipow es mit einer Schlüsselsequenz im zweiten Teil formuliert hat: 

Statt Iwan als Allegorie des ,sozialistischen Übermenschen‘ begegnete man einem emanzipierten und autonomen Individuum der russischen Moderne. Kein ,Kulturträger‘ mehr, veranstaltete er üppige Gelage, die – begleitet von Völlerei, Besäufnis, dem sexuell konnotierten Männertanz der Opritschniki und der Travestie des androgynen Fjodor Basmanow – einer Orgie und einem Exzess glichen.[2]

 

Geht es in Ivan Grozny um das Verhältnis von Individuum und Staat in der Herrscherfigur? Zweifellos ist die Sequenz der feiernden Opritschniki gegen Ende des zweiten Teils eine besondere. Sie fällt auch aus dem Film, seiner Musik und Erzählung heraus. Es ist eine ausgelassene Feier, die Ivan und Fjodor Basmanow (Michail Kusnezow) nicht zuletzt für den von der Bojarin Jefrosina Starizkaja (Serafima Birman) zum Zarenmord angestifteten Wladimir Starizkiji (Pawel Kadotschnikow) inszeniert wird. Der „Männertanz der Opritschniki“, mit dem die Frage nach dem Individuum besonders stark verkoppelt wird, ist außerordentlich vielschichtig. Er gehört zu den musikalisch vielleicht eindrücklichsten Gesangs- und Tanzszenen. Und zum ersten Mal verwendet Eisenstein Farbfilmmaterial.

 

Das Farbfilmmaterial, das dann wieder von einer Schwarz-Weiß-Sequenz abgeschnitten wird, bleibt fremd im Film. Ein Zufall? Ein Versuch? Was ist passiert? Sollte Eisenstein, der große Konstrukteur und russische Konstruktivist, die Farbfilmsequenz nicht kalkuliert haben? Als Sergei Eisenstein verstarb, soll er an einer Theorie des Farbfilms gearbeitet haben. Es ist Siegerfilmmaterial in bester Farbqualität aus dem eroberten Berlin. Und natürlich hatte Eisenstein beim Farbfilm auch das amerikanische Film-Musical im Auge. Die vielfach konnotierte Orgie ist nicht zuletzt eine, wenn nicht die Siegesfeier über Hitler-Deutschland im Historiengemälde des Films überhaupt. Eisenstein hatte schon früher nach Jacques Rancière die Alternative zwischen „wirklichen Tatsachen“ und erfundenen umgekehrt. 

Die künstlerische Arbeit an den zu erzeugenden Eindrücken als bürgerlichen Trödelkram zu verunglimpfen, bedeutet, sich selbst dann zu verurteilen die bürgerlichste Kunst zu produzieren, die Kunst von Künstlern, die ihre Eindrücke aufschreiben und ihre Empfindungen übersetzen.[3]

 

Der Film als farbiges Historiengemälde, in dem das Sowjet-Volk sich und seinen Herrscher Josef Stalin wiedererkennen soll, nimmt in der überschwänglichen Feier eine katastrophale Wendung. In der Sequenz, in der es um die Macht geht und die Herrschaftsfigur des Zaren, also die personifizierte Macht, taucht das sexuelle Begehren als homoerotisches offensiv in schweren stampfenden Rhythmen auf. Erstens wird damit auf die geschlechtlichen Praktiken und insbesondere Travestien in allen rein männlichen Armeen im Überschwang des Sieges angespielt. Das heißt, von einem Schnitt auf den anderen, springt auch eine Realität der Truppenunterhaltung in Farbe, dem Publikum und Stalin entgegen. Wie die Ausstellung MEIN KAMERAD – DIE DIVA Theater an der Front und in Gefangenlagern des Ersten Weltkrieges im Schwulen Museum 2014 in Erinnerung gerufen hat, gehört die Travestie zur Truppenunterhaltung und ihrer sexuellen Praxis. Zweitens wird das Bild der Männlichkeit mit Wladimir Starizkiji ebenfalls als von seiner Mutter – Russland – gesteuert schwer in Frage gestellt.

 

Man kann die Geschichte sehr wahrscheinlich dahingehend abwandeln, dass Sergei Eisenstein sich, durch Heimkehrer-Erzählungen ermutigt, zu der Sequenz veranlasst sah. Genaueres ist dazu nicht überliefert worden. Zumal eben die Heimkehrer in eine Gesellschaftsstruktur heimkehren wollten und mussten, die die Kriegserinnerungen bis heute unter Wladimir Putin als Herrscherfigur narzisstisch ordnete, verordnete, mit Orden versah und normalisierte. Die Regulierung des sexuellen Begehrens ist nach wie vor und in einem entscheidenden Maße gerade beim sogenannten Islamischen Staat ein zentrales Problem von Männergesellschaften und ihren Armeen. Auf diese Weise verwirklicht sich weniger ein „emanzipierte(s) und autonome(s) Individuum der russischen Moderne“ in der Sequenz, sondern es brechen gerade Macht- und Befehlsstrukturen der Geschlechtspraktiken auf unheimliche Weise auf. Wer sollte denn das beispielhafte Individuum in dieser Sequenz sein? Iwan? Fjodor? Oder gar Wladimir? Trunken himmelt der „Muttersohn“ Wladimir den Zaren an und vergisst seinen Mordauftrag.

 

Die Sequenz gefährdet die Staatsordnung, weil für einen Moment der Antagonismus der Ordnung aufgeführt wird. Das ändert alles. Die Ordnung verkehrt sich im Moment des Sieges in eine Art Ausnahmezustand. Im Ausnahmezustand des Sieges bricht noch einmal die Ordnung auf, die im Ausnahmezustand des Krieges alles durchdrungen hat und die nun vergessen werden muss, um eine Normalität herzustellen. Eisenstein und Prokofjew haben sich von der Logik der Macht für Einen offenbar so sehr leiten und faszinieren lassen, dass ihnen ein geradezu tödlicher Fehler unterläuft. Nämlich die Logik der Macht und der Ordnung in einem Moment von der gleichsam anderen Seite des Genießens zu zeigen. Was genießen die Opritschniki? Der harte, schnelle Rhythmus des Tanzes steht am anderen Ende eines geordneten Marsches.

 

Das Lied des Fjodor Basmanow und der Opritschniki besingt in einer deliranten Zeitlichkeit die Ermordung der Bojaren als Feinde der Einmannherrschaft durch den Zaren. Innerhalb des Liedes, das im Perfekt beginnt – Gäste kamen zu den Bojaren auf die Höfe! –, wechselt es immer wieder in den Imperativ – Mit den Äxten schlagt sie nieder! Es ist insbesondere der Imperativ als Befehl und Aufforderung zur Handlung durchs sprechen, die das Lied wie den Rhythmus antreiben. „Fjodor, Chor Hojda, hojda, sprecht, sprecht, verdammt sie. Fjodor Mit den Äxten schlagt sie nieder![4] Anders gesagt: die rauschhafte Gegenwart wird durch eine Erzählung von Vergangenem generiert, das durch den Imperativ in die unmittelbare Zukunft transformiert wird. Man könnte das eine Zeitlichkeit des Genießens nennen. Denn aus dem Präsenz heraus lässt sich nicht genießen. Der Rausch muss versprochen werden, damit er gleichsam pornopoetisch eintritt: „Fjodor Und mit was für einem Rausch gingen die Gäste nach Haus.[5]  

 

Die Rekonstruktion von Iwan Grozny durch Frank Strobel und seinen Mitarbeitern aus dem Sikorski Musikverlag wie den Produktionsteams von Europäischer Filmphilharmonie, ZDF/ARTE und Deutschlandradio Kultur berücksichtigt insbesondere die Frage der Produktionspraxis des Films im Unterschied zur „Urtextausgabe (offensichtlich eine exakte Abschrift des Prokofjewschen Manuskripts)“[6], die bislang als verbindlich galt. Das ist ein entscheidender praxeologischer Wechsel. Ähnlich wie es John Wilson für seine Hollywood-Filmpartituren praktiziert, wird damit eine Verschiebung für die Musikliteratur vorgenommen.[7] Anders als für Eisensteins Oktober mit der Musik von Edmund Meisel, die Frank Strobel 2012 bei der Berlinale mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin aufgeführt hatte, entsteht die Partitur allererst mit dem Film. 

Offenbar wurden während der Musikaufnahmen und z.T. auch während des Anlegens der Musik an den Film Änderungen an der Komposition vorgenommen. Dieses Vorgehen entspricht auch heute der gängigen Praxis. So fehlen in der überlieferten Musikaufnahme einzelne Takte, Phrasierungen und Dynamikangaben sind geändert, manche Passagen werden von anderen als den ursprünglich vorgesehenen Instrumenten gespielt, notierte Schlagzeugrhythmen werden durch freie Improvisationen ergänzt usw.[8]

 

Während der Proben und Aufnahmen im Haus des Rundfunks an der Masurenallee ließ sich gut beobachten, wie genau Frank Strobel mit dem Orchester, dem Chor und den Solisten an der symphonisch-dramatischen Filmmusik arbeitet. Im Konzerthaus musste die Musik aus den Proben und der Professionalität für einmal ohne Unterbrechung entstehen. Während in der ursprünglichen Praxis vieles auch auf Verfahren der Montage hindeutet, ist das einmalige Filmkonzert von besonderer Faszination wegen seiner Aktualität. Eisenstein und Prokofjew haben nicht zuletzt in einem wechselseitigen Produktionsprozess auf geradezu experimentelle Weise an dem Film gearbeitet. Im „Filmton“ verschränkt sich der Produktionsprozess zwischen Komponist und Regisseur auf einmalige und spannende Weise. Eine Verzahnung der Sinne und der Sinnlichkeit im Filmton, der sich einer theoretischen Eindeutigkeit entzieht. 

Dieser ist ja gleichsam das klanggewordene Dokument des Ringens zwischen dem Komponisten Prokofjew, dem Regisseur Eisenstein, dem Dirigenten Stassewitsch und dem Tonmeister Wolski um die bestmögliche Verzahnung von akustischen und visuellen Elementen.[9]

 

Die musikalische Filmerzählung wird nach dem Prolog — Das blaue Meer gesungen von Marina Prudenskaja — mit der Krönung Ivan IV. eröffnet. Hier wie über den gesamten Film sind es keine vermeintlichen Originalschauplätze, sondern die Studiobauten in Alma Ata, heute Almaty in Kasachstan, wohin Eisenstein mit den Filmschaffenden 1941 vor der deutschen Wehrmacht aus Moskau fliehen musste. Die Studioarchitekturen schwanken zwischen expressionistischen und surrealistischen Architekturen der Macht. Sie sind ebenso großartig, wie dass Durchgänge stets verlangen, dass sich die Machtakteure bücken müssen. In der Krönungsszene wird Ivan aus zwei großen Schalen mit Gold- oder Rubelstücken überschüttet. Bereits dieser Moment der Einigung und Übertragung der Macht auf eine Herrschaftsfigur ist widersprüchlich. Denn die Macht wird dem ersten Zaren nur dadurch zuteil, dass sie ihm von den Bojaren durch einen Geldregen auf- und übertragen wird. 

 

Torsten Flüh 

 

ARTE strahlt Iwan, der Schreckliche mit der neuen Filmmusik am 7. November 2016 um 23:00 Uhr aus.

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[1] Steffen Georgi: Eine unvollendete Götterdämmerung. Gedanken zu Eisensteins und Prokofjews Iwan Grosnij. In: Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin: 16. September 2015 Frank Strobel. Berlin 2016, S. 22.

[2] Zitiert nach ebenda S. 21.

[3] Jacques Ranière: Aisthesis. Vierzehn Szenen. Wien: Passagen Verlag, 2013, S. 295.

[4] Zitiert nach Steffen Georgi S. 21.

[5] Ebenda.

[6] Ulrich Wünschel: „Iwan“ zum Klingen bringen. In: Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin: 16. September … [wie Anm. 1] S. 7.

[7] Vgl.: Torsten Flüh: Auf die MGM Musicals versessen. Zum Deutschland-Debüt von The John Wilson Orchestra mit MGM Film Musicals. In: NIGHT OUT @ BERLIN 10. September 2016 21:47.

[8] Ulrich Wünschel: „Iwan“ … [wie Anm. 6].

[9] Ebenda s. S. 8.