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Atemlos

Sehr geehrte Leserinnen und Leser! Die Dinge überschlagen sich; man kommt kaum nach. Kevin Spacey (der sich an nichts erinnern kann) macht vorsorglich eine Therapie; "Scotland Yard ermittelt"! Premierministerin May veranstaltet Krisensitzungen. Auch in Österreich enden Politiker-Karrieren jäh. Greise Künstler wie Woody Allen, Roman Polanski und Dustin Hoffman werden öffentlich auf großer Flamme geröstet.

"Täglich neue Enthüllungen" präsentieren die Medien und berichten sodann, das soeben Enthüllte sei seit vielen Jahren "branchenbekannt" und ihnen seit je "ein offenes Geheimnis" gewesen. Nicht die offenen Hosen oder zotigen Witze der Bösewichter führen also zum karrierevernichtenden Abscheu der Guten, sondern die Tatsache, dass es in der Zeitung steht.

Es gibt weitere Gründe, am ubiquitär guten Willen zu zweifeln, der einmal mehr durchs Land schwappt. Woher etwa kommt die wundersame Beschränkung der Enthüllungen auf lang zurückliegende Ereignisse? Wieso ist es so dringend, aktuelle Strukturen des Sexismus zu entlarven und bekämpfen, wenn allen, die sich dazu äußern, immer nur verstorbene oder altersbedingt zahn- und machtlose Übeltäter einfallen? Warum fällt die deutsche Presse über den 1977 im Alter von 88 Jahren verblichenen Charlie Chaplin her, lässt aber – nur zum Beispiel – Curd Jürgens gänzlich unerwähnt, den "Lebemann, der den Luxus und die Frauen liebte, das charmante Raubein mit dem Strahleblick", wie wir in topaktuellen Hommagen lesen dürfen? Der Tagesspiegel bejubelte noch 2015 sein Lebenswerk aus dem Blickwinkel des jugendlichen Helden: "Fünf Mal wird er heiraten, die Affären sind ungezählt." Und gab es nicht auch im herzzerreißenden Italien vor langer, langer Zeit einmal den einen oder anderen "Filmmogul", der sich bei den Wahlen zur Miss Rom des Jahrgangs 1950 ein 16-jähriges Mädchen angelte und sie über die Couch zum Weltruhm geleitete?

Bemerkenswerte Ebbe herrscht in der deutschen Jetztzeit: In allen Redaktionen, die dem Thema Sexismus viel-seitige "Nachdenklichkeiten" widmen, kann man sich zwar daran erinnern, dass früher einmal (!) sexistische alte Männer das Sagen hatten und konkurrenzgeprägte Verächtlichkeit das Betriebsklima beherrschte. Unter den heutigen Machtinhabern aber findet sich wundersamerweise kein einziger mehr, an dem man den Tabubruch vorführen, den eigenen Mut erproben und die Solidarität beweisen könnte. Warum dann zugleich ununterbrochen behauptet wird, der frauenverachtende, gewaltaffine Sexismus sei allgegenwärtig, erschließt sich dem Autor nicht wirklich.

 

Zeitverschiebungen

Die derzeit geschäftsführende Bundesfamilienministerin Katarina Barley forderte in einem Interview vor zwei Wochen: "Was körperliche Übergriffe angeht, wie Hand aufs Knie legen, sollten wir juristisch schärfer werden." Sie berichtete, es gebe "bei offiziellen Fototerminen schon den einen oder anderen, der bei der Umarmung oder wenn man eng beieinandersteht, seine Hand mal länger auf der Taille lässt oder fester zugreift."

Dieselbe Ministerin hat im Juni 2016 gemeinsam mit 600 anderen Abgeordneten ein Strafgesetz "zur Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung" verabschiedet. Es ist vor genau einem Jahr in Kraft getreten. Über die dritte und abschließende Lesung des Gesetzentwurfs, der als spontane Tischvorlage (!) von acht AbgeordnetInnen im Rechtsausschuss zustande kam, kann man im Protokoll der Bundestagssitzung vom 30. Juni 2016 Folgendes nachlesen:

Abgeordneter Schauws (Bündnis 90/Die Grünen): "Das ist reine Symbolgesetzgebung (…). Sie setzen das Schuldprinzip in verfassungswidriger Weise ohne Not außer Kraft (…). Wie Sie von der SPD da mitgehen konnten, ist mir wirklich völlig unverständlich." Protokoll: "Beifall bei Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke."

Sodann kam es zur Abstimmung. Vizepräsidentin Roth: "Liebe Kollegen! Abgegebene Stimmen: 601. Mit Ja haben gestimmt: 601." Das Protokoll vermerkt: "Anhaltender Beifall im ganzen Haus. Die Abgeordneten erheben sich."

Die Szene kann im Parlamentsfernsehen angeschaut werden. Der Vizepräsidentin Claudia Roth vibrierte erkennbar die Stimme vor Rührung. Die 601 Abgeordneten feierten eine Sternstunde des Parlaments; viele jubelten und umarmten einander. Unter den vom eigenen guten Willen Berauschten waren auch diejenigen, die noch kurz zuvor bekundet hatten, das Gesetz für verfassungswidrig zu halten.

In dem so beschlossenen Gesetz findet sich der Tatbestand "Sexuelle Belästigung" (Paragraf 184i Strafgesetzbuch). Danach wird bestraft, wer eine andere Person "in sexuell bestimmter Weise berührt und dadurch belästigt". Dabei muss es sich ausdrücklich nicht um eine "sexuelle Handlung" handeln, also ein Verhalten, das die sexuelle Selbstbestimmung "in erheblicher Weise" verletzt. Der Tatbestand soll vielmehr gerade für unerhebliche Handlungen gelten. Als Beispiele werden vom Gesetzgeber genannt: Arm um die Schulter legen, Hand-aufs-Knie-Legen, an der Taille anfassen. Für solche Verbrechen hagelt es Freiheitsstrafen bis zu zwei Jahren. In "besonders schweren Fällen" des unerheblichen (!) Berührens sind Freiheitsstrafen bis zu fünf (!) Jahren zu verhängen. Das ist übrigens die Höchststrafe, die noch bis vor ein paar Jahren für "Totschlag im minder schweren Fall" angedroht war.

Unsere amtierende Bundesministerin forderte also ein Gesetz, das sie selbst bereits mitbeschlossen hat und das seit einem Jahr in Kraft ist. Fast die gesamte Presse hat darüber berichtet, ohne dass einem der tief betroffenen Fachjournalisten aufgefallen wäre, dass "Hand-aufs-Knie-Legen" bereits strafbar ist.

Zugleich erklärte die Bundesministerin ihrem Volk, sie werde bei offiziellen Fototerminen "von dem einen oder anderen" begrabscht. Aber sie berichtet nichts darüber, dass sie – eine Frau auf führendem Posten – "den einen oder den anderen" zur Rede gestellt oder ihm eins auf die Ohren gehauen habe. Stattdessen dient sie sich der Presse als jammerndes Opfer an. Ein recht erbärmliches (Vor-)Bild, wie ich meine!

Der Teufel kommt aus einem magischen Ort

 Große Wellen

Noch zwei weitere Politiker sollen hier zu Wort kommen. Bundesministerin von der Leyen erklärte: "Viele Frauen haben Belästigungen erlebt und äußern dies nun auch. Besonders schlimm sind Übergriffe, die in einem Abhängigkeitsverhältnis stattfinden." Und Jürgen Trittin rief in der Passauer Neuen Presse dazu auf, die Sexismus-Debatte ernst zu nehmen. Sie zeige, dass es eine Nachdenklichkeit über das gebe, was sich Frauen in der Gesellschaft immer noch gefallen lassen müssten.

Das ist wohl richtig. Stammt allerdings nicht aus dem #MeToo-Zusammenhang 2017, sondern aus dem Brüderle-Jahr 2013. Das war, als der stern, berühmtes Leitmedium für Frauenrechte, mit einjähriger Verspätung enthüllte, dass der Politiker Rainer Brüderle (66) im Jahr 2012 einer ihm im Zuge einer Langzeitstudie an die nächtliche Hotelbar gefolgten Journalistin (28) – wie es hieß: "weinselige" – Avancen gemacht haben sollte. Die Dame war so schockiert, dass sie erst nach einem Jahr – gottlob rechtzeitig zur Wahl – die Kraft zur Offenbarung fand.

Was folgte, war ein #aufschrei (stern-Titel Januar 2013: "Die Frau schreit auf"), sodann das Einsetzen einer Expertenkommission durch den immerzu kampfbereiten Bundesjustizminister Heiko M. mit dem Ziel einer Reform des Sexualstrafrechts, dann die "Kölner Silvesterereignisse", sodann ein ganz schneller weiterer Gesetzentwurf, der dann aber seinerseits schon wieder durch das Gesetz vom November 2016 überholt wurde. Die Sachverständigenkommission durfte ihr Gutachten im Sommer dieses Jahres noch nachreichen. Es interessierte außer ein paar Professoren kein Schwein mehr, am allerwenigsten die Presse, die sich, aus fachlichen Gründen natürlich, so sehr darauf gefreut hatte.

Nun also die nächste Welle. Diesmal kommt der Teufel von höchster Stelle, also aus "Hollywood". Das ist ein magischer Ort, dem die Medien gemeinhin einen eigenen Willen und Gesamtcharakter zuschreiben ("Hollywood schweigt"; "Hat Hollywood Mitschuld?"). Der deutsche Moralist ahnte dank fleißiger Recherchearbeit frauenfreundlicher Medien und weitverbreiteter Spezialveröffentlichungen ("Hollywood Babylon", seit 1977 in deutscher Übersetzung) von jeher das Schlimmste und erfreute sich doch an den lustigen Abenteuern von Clark Gable, Alfred Hitchcock, Grace Kelly und Joan Crawford. Mit der größtmöglichen Häme deutscher Frauen und Männer wird hingegen jedes germanische "Sternchen" verfolgt, das es unternimmt, "in Hollywood" Karriere zu machen, dabei aber scheitert und an die Seite von Hannes Jaenicke ins deutsche Vorabendprogramm zurückkriechen muss.

 

Relativierungen

Relativierung ist die Mutter der Verhältnismäßigkeit. Ein Mückenstich ist unangenehm; der Angriff eines Eisbären ist es auch. Um zu entscheiden, auf welches der beiden Tiere man schießen soll, muss man die Sache aber relativieren, denn sonst vergeudet man Munition für Löcher in die warme Luft und hat keine übrig für eiskalte Raubtiere.

Relativierung und Verhältnismäßigkeit sind jedoch nicht das Mittel der Wahl in der "sozialen" Kommunikation des Jahres 2017. Und um irgendwie mitzuhalten, stürzen sich auch die professionellen Medien ins Getümmel des "Sozialen", als gelte es, das Twitter-Geschrei noch zu übertreffen. Das Narrativ der Blödheit funktioniert dabei so, dass das bloße Nacherzählen des Online-Wahnsinns schon wieder als Sensation im Qualitätsjournalismus gilt, wenn es nur schnell genug ist.

Der Tonfall der neuen Welle ist gegenüber der letzten noch schriller und vernichtungsgeneigter geworden. Die – mit Ausnahmen – für ihren sensiblen Sprachduktus berühmte FAZ schreibt, wenn sie das größte Hollywood-Schwein aller Zeiten meint, von "Weinsteins Visage" (!) und lässt eine Journalistin den Männern mit dem "Zahltag" drohen: "Nun büßen Männer." Und nach einem Monat Dauerklagen und einer Begeisterungswelle sondergleichen über Hunderttausende anonyme Beschuldigungen und Geschichten aus alten Zeiten kommt der stern am 9. November allen Ernstes mit der Titelankündigung "Frauen aus ganz Deutschland brechen ihr Schweigen" heraus. Soll das ein Witz sein?

Am Aufregerfall Spacey ist verwirrend, dass 1. in der Story keine einzige Frau vorkommt, 2. die Traumatisierung des Opfers satte 31 Jahre zurückliegt und 3. "allgemein bekannt" war, dass sich schöne junge Männer von Herrn Spacey lieber etwas entfernt halten sollten.

Die durch Spaceys wundersame Beteuerung, er erinnere sich an nichts, werde aber erst einmal eine Therapie machen (gegen welche Erkrankung?), ausgelöste Schwachsinnsdebatte, ob #MeToo auch Männer beschützen dürfe und ob Lesben und Schwule dadurch beleidigt sein könnten, dass Kevin Spacey seine Neigung zu Übergriffen irgendwie mit seiner sexuellen Identität in Verbindung brachte, verdeckt das eigentlich Wichtige.

Wir lesen in der Süddeutschen Zeitung, es sei nicht nur naheliegend, dass Spacey keinen dritten Oscar mehr erhält, sondern auch gut möglich, dass man ihm die beiden, die er schon hat, nachträglich aberkennt. Das könnte eine schöne Parallele zum Fall Lance Armstrong sein, hätte Spacey sich seine Oscars durch sexuelle Verstöße gegen die Oscar-Regeln erschwindelt. Hat er aber nicht. Es handelt sich also um einen "Zahltag" der ganz großen, persönlichkeitsübergreifenden, moralischen Sorte. Von ähnlicher Qualität sind die moralischen Zwangsvollstreckungen, von denen wir aus England und Österreich hören.

Sehr interessant! Darf man das kombinieren mit der verbreiteten banalen Feststellung, das Vorliegen eines Übels mache ein anderes nicht besser, weshalb Übergriffe gegen Frauen kein bisschen weniger verachtenswert seien, bloß weil Gewalttätigkeiten gegen Kinder jedes Geschlechts es auch sind?

Fragen wir also einmal ganz direkt in unsere Parlamente, Vorstände, Chefredaktionen und Regierungen hinein: Wer von den Damen und Herren hat im Verlauf der letzten 31 Jahre einmal ein Kind geschlagen, mit Gewalt bedroht oder in Angst versetzt, das von ihr oder ihm abhängig und machtlos war? Wann gedenken diese Herrschaften von ihren Ämtern zurückzutreten? Wie viele Plätze bleiben dann im aktuellen Bundestag besetzt?

Eine etwas weiter reichende Frage: Wem sollten wir was "aberkennen", weil sie oder er ein "Arschloch" ist oder sein könnte? Ein feministisches Kampfblatt aus Köln schreibt: "Gegen Woody Allen ist Weinstein ein Lamm", aber "Hollywood schweigt". Der Beleg für diesen Vernichtungsfuror besteht darin, dass vor 25 Jahren in einem sehr weit entfernten Scheidungsverfahren festgestellt wurde, ein behaupteter früherer sexueller Missbrauch durch den Schauspieler sei "möglich, aber nicht beweisbar".

Wenn das also ausreicht, bin ich wirklich sehr gespannt, welche Ehrungen, Denkmale, Zuwendungen, Genehmigungen, Förderungen, Boni und Orden man nun all jenen nachträglich entziehen und aberkennen wird, die sich in Deutschland in den vergangenen 80 Jahren der Menschen- oder Frauenverachtung schuldig gemacht haben!

Was unterscheidet uns vom Bonobo?

 Die Latte der Moral

Die Moral kennt keine Grenzen mehr: Dem Regisseur Roman Polanski wird aus dem Kölner Frauenturm mitgeteilt, seine Ghetto- und KZ-Biografie schütze ihn keineswegs vor dem Zahltag eines 40 Jahre zurückliegenden möglichen sexuellen Missbrauchs. Da liegt, so muss man sagen, die Latte der Moral wirklich sehr hoch! Sie wurde aufgelegt von einer Journalistin, die kürzlich selbst wegen einiger Unregelmäßigkeiten in ihren Steuerunterlagen rechtskräftig verurteilt wurde. Es handelte sich, anders als bei den ihr besonders am Herzen liegenden Fällen, nicht um unbewiesene Verdachtsfälle, sondern um veritable Straftaten. Im Unterschied dazu waren die oasengestützten "Steuervermeidungen", die in dieser Woche (zu Recht) als über alle Maßen verachtenswertes, asoziales Verhalten gegeißelt werden, überwiegend ganz legal.

Ich versichere an dieser Stelle: Die Mehrzahl der verbalen sexistischen Herabwürdigungen von Frauen, die ich in den letzten 20 Jahren gehört habe, stammten von Frauen. Bei Männern schwingt ja, sofern sie nicht vollständig blöd sind, bekanntlich immer ein Moment der Furcht vor den Vamps aus ihren Fantasien und vor der eigenen Impotenz mit; ihre Scherze sind daher oft von bemitleidenswert selbstentlarvender Erbärmlichkeit. Frauen hingegen sind, was Frauen betrifft, wesentlich sachkundiger und kälter. Kein Wunder: Auch Männer erkennen die Schwächlinge und Verlierer unter den Männern leichter, als es Frauen vermögen, und ihre sexistischen Bemerkungen über männliche Konkurrenten sind in jeder Hinsicht treffender.

 

Dirndl und Co.

Bitte gestatten Sie mir an dieser Stelle noch ein paar Anmerkungen zum historischen Dirndl-Fall des Abgeordneten Brüderle: Ein Dirndl ist ein Kleidungsstück, das auf sehr spezielle Weise sekundäre Geschlechtsmerkmale von Frauen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken soll und dem dies auch gelingt. Wer es nicht glaubt, möge ein sogenanntes Oktoberfest besuchen.

Wozu dient – hier stellen wir uns einmal ganz dumm – die Darbietung nach oben geschnürter weiblicher Brüste im sozialen Alltag? Es handelt sich, wie wir ahnen, nicht um verborgene Werbung für Babynahrung, sondern um eine gänzlich unübersehbare Werbung für die Dirndl-Trägerin: Schau her, das hab ich zu bieten! Nichts anderes gilt für die öffentliche Präsentation makellos enthaarter nackter Beine, leuchtend rot bemalter Münder oder sorgsam gestraffter Haut, die im allgemein-sexistischen Sprachgebrauch als "gepflegt" bezeichnet wird.

Natürlich möchte nicht eine jede Dame aus der Maritim-Bar, dass ihr ein jeder türkischstämmige Müllwerker ein konkretes Angebot macht; aber im Grundsatz ist das nun einmal so – so wie die aus Schilf gefertigten Penis-Verlängerungsattrappen unserer lieben Naturvölker oder die künstlich aufgeblähten Hosen unserer Blechbüchsenarmeen aller Zeiten.

Haben Sie, liebe Leserinnen und Leser, in den letzten vier Wochen ein deutsches Kaufhaus durchschritten? Sind Ihnen dort möglicherweise die allenthalben aufgestellten Skulpturen nackter Frauen-Unterkörper aufgefallen, bekleidet mit den wunderbarsten neuen Erfindungen der Unternehmen Wolford, Nur Die und Ergee? Möglicherweise ist die Anzahl der Männer, denen schon der Anblick solcher Attrappen unvergessliche erotische Momente beschert, gering. Der eine oder andere neu zugezogene Bauer aus Afghanistan mag sich aber bereits im Paradies wähnen; und der Unterschied zur aufblasbar-schweigsamen Herzensdame ist ja auch nur der zwischen digital und analog.

Die entscheidende Frage ist: Was soll’s? Welchem Zwecke dienen die makellos enthaarten Beine, die gepushten Oberkörper, die sorgsam geröteten Signalfelder, die uns 24 Stunden am Tag entgegengereckt werden? Sagen wir’s schlicht, mit den Pavianen: Sie dienen der Anbahnung von Sexualkontakten oder ihrer Simulation. Deshalb halte ich es doch für überraschend, zu behaupten, das Eintreten von derart offenkundig erwünschten Reaktionen eines zwangsläufig begattungsfreudigen Männchens sei eine auf keinen Fall tolerable Unverschämtheit.

Hier wandert nun wieder – wir ahnten es – der Zeiger des Empörungsmessers in den roten Bereich: "Rechtfertigung von Gewalt" oder "Selbst schuld"! Aber das stimmt nicht. Vom Bonobo, einem erklärtermaßen unmoralisch durchsexualisierten Tierwesen, unterscheidet uns immerhin ein Prozent unserer Erbanlagen und Selbsterkenntnisse. Wir sind deshalb zu Recht überzeugt, dass wir unser Sein, Müssen und Handeln in unvergleichlich höherem Maß reflektieren als der moralferne Bonobo-Mensch. Wir haben Moralvorstellungen und Ethiken entwickelt, die ihm unerreichbar sind. Eine davon ist die Abstraktion des Zusammenhangs von Gewalt und Gesellschaft. Aber auch das ist nicht "Natur": Das Unrecht der Vergewaltigung war vor gar nicht langer Zeit "das Begatten fremder Weibchen", also ein Verbrechen gegen andere Männchen (!). Heute ist es die Verletzung höchstpersönlichen Menschenrechts auf Selbstbestimmung.

Geht es überhaupt noch um "Frauen und Männer"?

Bestimmung über das Selbst

Das klingt einfach, sehr vielen Menschen sogar selbstverständlich, da sie sich mit Entwicklungen und Abstraktionen nicht befassen und daher schon von schlichten Fantasieaufgaben überfordert sind. Ihnen ist alles eins, der Pharao und der Kaiser, Konrad Adenauer und Katharina die Große (diesmal kein machtgeiles Sex-Schwein, sondern, wie Emma verrät: "eine sinnliche junge Frau"). Sie möchten Kevin Spacey die Oscars aberkennen, weil er sich vor 31 Jahren in betrunkenem Zustand "in sexuell bestimmter Weise" auf einen 14-Jährigen gelegt hat. Und wenn morgen gefordert würde, man möge die Texte pädophiler griechischer Philosophen löschen oder die Romane des knabenliebenden Oscar Wilde verbrennen, könnte man dafür sicher eine Twitter-Mehrheit erreichen, wenn man es schlau anstellt. Oder?

Was ist es, das uns so quält? Ich glaube nicht, dass es die objektivierbare Missachtung von "Frauen" ist. Verzeihung, wenn ich das Wort in Anführungszeichen setze! Aber wie Sie wissen, ist "Frau" in den fortschrittlichsten Abteilungen der Diskussion ja nur mehr eine Art Vorschlag, ein Bild, eine Selbstdefinition: "Geschlecht", sagen die im Selbstverständnis Avanciertesten der Menscherläuterung, sei ohnehin nichts als ein soziales Konstrukt.

Wenn das stimmte, ginge es ja am Ende gar nicht um "Frauen und Männer"! Wir lesen und hören, unterschwellig, immerzu: Sexismus sei eigentlich Machtpolitik, Geschlechtlichkeit sei Unter- und Überordnung, Weltaneignung und Unterwerfung. Am Ende hätte dann gar Karl Marx, der zauselbärtige jüdische Dienstmädchen-Schwängerer, doch einen Zipfel Wahrheit erwischt!

Das ist das eigentlich Interessante: In einer Welt, in der das Selbst, das Ich, das furchterregende Alleinsein zur einzig legitimen Existenzform erklärt wurde, in welcher der – wie auch immer geschlechtliche – Mensch für gar nichts (!) mehr verantwortlich ist außer für die eigene "Selbstoptimierung" vom Vorschulalter bis zum Tod; in dieser Welt, die als rätselhafte Vermischung von 1984 und Brave New World, Matrix und Leon der Profi, Hungersnot und Paradise Papers zu uns transportiert wird von geil gestylten ModeratorInnen des Untergangs, in dieser Welt wird der Mensch in seiner äußeren Existenz, seiner Form, seinem Verhalten, fast unwichtig. Es geht bei dieser Vermarktungsstrategie nicht mehr um Pyramidenbau und Stahlwerke, sondern nur noch um "Innerlichkeit". Vor der Unermesslichkeit der Weltmaschine wird alles eins, und die pure Gier gebiert als Zentrum der Menschlichkeit das Gefühl: das winzigste aller denkbaren Ichs.

Zum Schluss: Vermutungen

Deshalb und aus keinem anderen Grund – und erst recht nicht aus Gründen des philosophischen Fortschritts – ist es heute beinahe egal, ob sich "Sexualverbrechen" beweisen lassen oder nicht und ob es "Gewalt" heißen soll, wenn eine Ministerin an der Hüfte angefasst oder eine potenzielle Dirndl-Trägerin an der Bar schmierig angequatscht wird. Das kommt nicht aus Zufall. Es ist Wirklichkeit und Traum zugleich. Die rührenden, religiös anmutenden Aufklärer-Attitüden über Banalitäten ebenso wie der offenbar als existenziell erlebte Wille, sich unbedingt auf einer "richtigen" Seite, der "Opfer"-Seite einzuordnen und hieran die Welt teilhaben zu lassen, sind nicht böse Absicht oder Verschwörung. Wille und Fähigkeit zum Mitleid sind nicht an sich verächtlich. Aber in höchstem Maß variabel, manipulierbar und von (eigenem) Interesse bestimmt.

Damit werden viele Dinge durcheinandergebracht und Grenzen verwischt. Die absurde Inflation des Wortes "Gewalt" ist ein äußeres Zeichen dafür, der unsinnige Umgang mit nicht verstandenen Statistiken ein anderes. Gerade gestern wurde in einer Talkshow der ARD wieder mehrfach behauptet, nur acht Prozent der angeklagten Vergewaltigungen führten zu einer Verurteilung: Das ist schlicht dummes Zeug. Genauso wie die Wahlkampf-Behauptung des bayerischen Innenministers, die Anzahl der Vergewaltigungen in Bayern habe im letzten Jahr um 45 Prozent zugenommen. Ebenso fernliegend ist die immer weiter verbreitete Behauptung, "die Justiz" gehe mit AnzeigeerstatterInnen und Opfern von Sexualdelikten besonders unfreundlich, ungläubig oder respektlos um. Das ist, mit Verlaub, reiner Quatsch, und glauben kann das eigentlich nur, wer in Wahrheit die Garantien der Strafprozessordnung, den Schuldgrundsatz und die Unschuldsvermutung komplett außer Kraft setzen will, sobald es um irgendwelche sexuellen Anschuldigungen geht.

Wenn Sie wirklich erleben möchten, wie die Justiz Anzeigeerstatter abwimmelt, können Sie ja mal Strafanzeige wegen schwerwiegender Beleidigungen erstatten oder der Polizei erzählen, Ihre Chefin habe Sie durch versteckte Drohungen mit einer schlechten Beurteilung dazu genötigt, Ihren Rest-Jahresurlaub verfallen zu lassen. Da müssen Sie schon Aufsichtsbeschwerde erheben, bevor überhaupt das Anzeigeformular aus der Schublade geholt wird.

Das Sexualstrafrecht ist heute bis an den äußersten Rand des Möglichen ausgedehnt. Arbeitsrecht, öffentliches Dienstrecht und allgemeines Zivilrecht gewähren weitestreichende Möglichkeiten, unterhalb der Schwelle des Strafrechts gegen – sexuell oder sonst wie motivierte – Nachstellungen vorzugehen. Eine angebliche "Kultur des Schweigens" oder eine gesamtgesellschaftliche Verharmlosung von sexuellen Nötigungen (mit Gewalt oder Drohungen) gibt es nicht.

Was derzeit einmal mehr auf niedrigem Niveau verhandelt wird, ist nicht "Frauen gegen Männer", sondern "Arm gegen Reich", also die Aneignung der Welt. Die öffentliche Kommunikation ist bis zum Äußersten in sich verdreht, sie steigert das Unwichtige ins Absurde und vergisst das wirklich Wichtige (oder verschiebt es in ein Feld der unverbindlichen, "unlösbaren" Großprobleme).

Es wäre doch ganz einfach, 100 Millionen im Elend lebenden Frauen in Afrika zu helfen, "Tanzjungen" aus Afghanistan zu Lokführern auszubilden oder Prostituierte aus Kolkata zu Mechatronikerinnen. Man müsste bloß wollen. Wir wollen aber nicht. Auch nicht all die eifrigen Frauenschützerinnen in den Talkshows. Wir wollen, dass die letzten Thunfische dieser Welt für uns reserviert sind und die letzten SUVs von uns gefahren werden. Und wenn die schönsten Silikonbrüste und die längsten Jachten dieser Welt 100.000 oder 100 Millionen Euro kosten, dann durchschauert es uns aus lauter Freude. Harvey Weinsteins Visage sei mit uns!