Palästinensische Staatlichkeit nach Völkerrecht

Legal Fact Sheet

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Es gibt unterschiedliche Theorien im Völkerrecht, um das Vorliegen von Staatlichkeit einer territorialen Einheit zu prüfen. Dementsprechend vielseitig sind die Meinungen unter Völkerrechtlern, ob diese im Falle Palästinas vorliegt. Die deklarative Theorie bejaht die Staatlichkeit einer territorialen Einheit, sofern die rein normativen Vorraussetzungen der Konvention von Montevideo erfüllt sind. Die konstitutive Theorie hingegen verlangt eine Anerkennung dieser Einheit durch andere Staaten. Wieder andere argumentieren unter Heranziehung von historischen Erwägungen.

Attribute der Staatlichkeit nach der Deklarativen Theorie

Artikel 3 Satz 1 der Montevideo-Konvention stellt fest, dass „die politische Existenz eines Staates unabhängig von seiner Anerkennung durch die anderen Staaten ist“. Dies wird dahingehend verstanden, dass die Souveränität eines Staates deklarativ sein soll, d.h. nach rein normativen Grundsätzen und unabhängig von der politischen Anerkennung durch andere Staaten. Folgt man dieser deklarativen Theorie für Staatlichkeit, müssen vier Grundkriterien vorliegen, die nach der Konvention festgelegt wurden. Diese sind:

a) ständige Bevölkerung: Das Kriterium der ständigen Bevölkerung ist unproblematisch und unumstritten für die Palästinensischen Gebiete.

b) definiertes Staatsgebiet: Die Meinungen der Rechtsexperten variieren bezüglich des definierten Staatsgebietes. Die Palästinensischen Gebiete sind unterteilt in das Westjordanland, den Gaza-Streifen und Ost-Jerusalem. Daneben besteht Uneinigkeit bezüglich der Grenze zwischen den Palästinensischen Gebieten und Israel. Es wird daher diskutiert, ob diese Fragmentierung und die Unbestimmtheit der Grenze der Palästinensischen Gebiete die Vorrausetzungen für die territoriale Integrität unterlaufe. Dagegen wird angeführt, dass die territoriale Integrität Palästinas in Resolutionen des VN-Sicherheitsrates, der Generalversammlung und dem Internationalen Gerichtshof anerkannt und bestätigt wurde. Die eingeschränkte Kontrolle über die Gebiete beeinträchtige nicht die Integrität, da sie von einer fremden Besatzung herrühre. Auch seien weder die Fragmentierung der Gebiete noch die Unbestimmtheit seiner Grenzen relevante Kriterien. Fragmentierungen und Exklaven wie die zwischen Gaza, Ost-Jerusalem und dem Westjordanland kennt man auch aus anderen Regionen und Staaten, wie etwa Alaska, Gibraltar und Kaliningrad. Die Unbestimmtheit der Grenze zwischen den Palästinensischen Gebieten und Israel kann schwerlich als Argument gegen ein definiertes Staatsgebiet angeführt werden, da die gleiche unbestimmte Grenze auch für Israel gilt und in diesem Fall kein Problem darstellt.

c) Regierung: Es ist fraglich, ob die Palästinensische Regierung ein im völkerrechtlichen Sinne ausreichendes Maß an Staatsgewalt über ihre Gebiete ausübt. Problematisch ist dabei, dass die Palästinenser nur in Teilen ihrer Gebiete volle Herrschaftsgewalt haben. In den Osloer Verträgen wurde lediglich einem Teil der Palästinensischen Gebiete begrenzte Autonomie eingeräumt. Dagegen sind 83 Prozent des Westjordanlandes unter voller oder teilweiser Kontrolle Israels. Auch im Gaza-Streifen blieb die Kontrolle der äußeren Sicherheit nach Räumung der Siedlung und Rückzug des israelischen Militärs 2005 in der Hand Israels. Umstritten ist jedoch, ob die Regierung überhaupt eine effektive Kontrolle über ihre Gebiete ausüben muss, oder ob das Vorhandensein einer normativen Regierung ausreicht.

Die Befürworter einer Staatlichkeit Palästinas argumentieren, dass in der Montevideo-Konvention der Begriff „Regierung“ nicht durch „Effektivität“ qualifiziert sei. Vielmehr wird auf eine neue Staatenpraxis verwiesen, wonach auch solche territorialen Einheiten als Staaten anerkannt worden sind, die zu dem Zeitpunkt ihrer Anerkennung nicht über die volle Staatsgewalt verfügten. So etwa die Demokratische Republik Kongo, Bosnien-Herzegowina, Ost-Timor, Kosovo und Guinea-Bissau. Gleichzeitig sei anderen territorialen Einheiten internationale Anerkennung trotz Vorliegen von Staatsgewalt verweigert worden, da hier das Selbstbestimmungsrecht gefehlt habe (so etwa Rhodesien). Es wird daher vorgeschlagen, das international anerkannte Recht auf Selbstbestimmung als ausgleichendes Element für das Fehlen von effektiver Staatsgewalt anzuwenden.

Das Recht auf Selbstbestimmung ist ein unveräußerliches Recht, das allen Völkern gleichermaßen zusteht. Als solches wird es auch in Artikel 1 Absatz 2 der Charta der Vereinten Nationen festgelegt. Dieses Recht wurde den Palästinensern in einer Reihe von VN-Resolutionen zugesprochen. Weiter wird angeführt, die Staatseigenschaft Palästinas könne nicht vom Willen Israels abhängig gemacht werden. Eine Besatzung habe keine Auswirkung auf die Souveränität einer Regierung.

Dagegen wird argumentiert, das Westjordanland und der Gaza-Streifen seien auch vor der Besetzung durch Israel nicht souverän gewesen, daher sei die Annahme, dass die Besatzung keine Auswirkung auf die Souveränität habe, in diesem Fall nicht anwendbar.

d) Fähigkeit, in Beziehung mit anderen Staaten zu treten: Uneinigkeit besteht auch darüber, ob Palästina die Fähigkeit besitzt, in Beziehung mit anderen Staaten zu treten. Einerseits wird angeführt, die Palästinenser hätten diverse internationale Abkommen unterzeichnet und ratifiziert, wie etwa die Arabische Menschenrechtscharta und die UNESCO Welterbekonvention. Zudem befände sich die Palästinensische Regierung in Verhandlungen mit anderen Staaten. Dagegen wird argumentiert, dass grundlegende Funktionen der Staatlichkeit von dem Verantwortungsbereich der Palästinensischen Regierung in den Osloer Verträgen ausgeschlossen wurden. So z.B. die Entscheidung über die Einrichtung von palästinensischen diplomatischen Missionen im Ausland oder internationalen diplomatischen Missionen im Westjordanland und dem Gaza-Streifen.

Anerkennung durch andere Staaten

Diese rein deklarative Theorie wird jedoch vielseitig hinterfragt. Ein Land, das zwar die Vorrausetzungen der Montevideo-Konvention erfüllt, jedoch international nicht anerkannt wird, ist de facto bedeutungslos. Die „konstitutive Theorie der Souveränität“ verlangt daher zudem die Anerkennung durch andere Staaten als Vorraussetzung für Staatlichkeit.

Teilweise wird darauf verwiesen, dass Palästina bereits von einer Vielzahl von Staaten (zum Zeitpunkt des Verfassens des Fact Sheets am 21. Februar 2012 sind es 129 Staaten) anerkannt wurde, Mitglied in zahlreichen Internationalen Organisationen ist und in diversen Ländern diplomatischen Status erhalten hat. Auch die Tatsache, dass die Generalversammlung der VN in Resolution 43/177 die Unabhängigkeitserklärung des Palästinensischen Nationalrates vom 15. November 1988 anerkannt hat, belege eine internationale Anerkennung des Staates Palästinas. Lediglich die USA und Israel hatten dagegen gestimmt, Deutschland hatte sich enthalten. Als Gegenargument wird angeführt, dass noch immer eine bedeutende Anzahl von staatlichen Anerkennungen durch die internationale Gemeinschaft fehle. Zudem müsse die betreffende territoriale Einheit Staatlichkeit für sich beanspruchen. Die Palästinensische Autonomiebehörde sei jedoch selber nicht von ihrer Staatlichkeit überzeugt. Vielmehr benutze sie den Begriff Staatlichkeit als einen für die Zukunft angestrebten Zustand.

Diese Argumente mögen heute jedoch nicht mehr überzeugen, da die Palästinenser eben jenen Zustand mit dem Antrag auf Aufnahme und Anerkennung an die Vereinten Nationen zu ändern suchen.

Historische Erwägungen

Weitere Argumente für oder gegen eine Staatlichkeit Palästinas beziehen sich auf historische Erwägungen. Es wird argumentiert, Palästina hätte bereits mit dem Ende der Ottomanen Mandatszeit Staatshoheit erhalten. Unter der darauf folgenden Britischen Mandatszeit wurde Palästina gemäß Artikel 22 des Versailler Vertrages unter einem Mandat der Klasse A geführt, einer Kategorie, die für unabhängige Nationen vorgesehen ist. Artikel 22 des Vertrages von 1919 lautet: „Gewisse Gemeinwesen, die ehemals zum Türkischen Reiche gehörten, haben eine solche Entwicklungsstufe erreicht, dass sie in ihrem Dasein als unabhängige Nationen vorläufig anerkannt werden können, unter der Bedingung, dass die Ratschläge und die Unterstützung eines Mandatars ihre Verwaltung bis zu dem Zeitpunkt leiten, wo sie imstande sein werden, sich selbst zu leiten. Bei der Wahl des Mandatars sind in erster Linie die Wünsche eines jenes Gemeinwesens zu berücksichtigen.“ Darüber hinaus haben Palästinenser zu diesem Zeitpunkt erstmalig eine eigene Nationalität und palästinensische Reisepässe erhalten. Die Staatshoheit sei auch durch die Resolution 181 der VN-Generalversammlung 1947 bestätigt worden, welche den Teilungsplan für die das historische Palästina beschließt und die Gründung von zwei Staaten vorsieht. Die Unabhängigkeitserklärung Palästinas von 1988 sei daher lediglich deklarativ für den bereits vor 1948 bestehenden Staat gewesen.

Andere argumentieren hingegen, eine vorläufige Anerkennung von Souveränität, wie es durch Artikel 22 des Vertrages von Versailles erfolgt ist, konstituiere keine aktuelle Staatlichkeit.

Staat oder Nicht-Staat?

Die Komplexität der Diskussionen um Staat oder Nicht-Staat ergibt sich aus der Tatsache, dass es kein allgemein gültiges und anerkanntes internationales Regelwerk gibt, unter welches sich die Frage der Staatlichkeit subsumieren ließe. Es ist allgemein anerkannt, dass weder das Vorliegen der Vorraussetzungen der Montevideo-Konvention alleine noch die vielseitigen Theorien zur Anerkennung durch andere Staaten die Frage nach dem staatlichen Status einer Territorialen Einheit abschließend beantworten können. Weder das Vorliegen der normativen Vorrausetzung noch die Anerkennung als Staat alleine kann einen neuen Staat kreieren. Vielmehr erscheint die Frage nach Staatlichkeit ein rein tatsächliches Phänomen zu sein, das sich aus der Analyse des Verhaltens von Staaten gegenüber der jeweiligen Territorialen Einheit herleiten lässt. Hierzu zählen etwa die Aufnahme in Internationale Organisationen (wie etwa die Vereinten Nationen), diplomatische Anerkennung, und die Unterzeichnung von internationalen Verträgen. James Crawford argumentiert, obwohl internationale Anerkennung nicht unwichtig sei und zu einer Festigung des Status führen könne, sei die Gründung von Staaten in heutiger Zeit eine Frage von Recht und Effektivität, z.B. die Fähigkeit eines Staates, Funktionen auszuführen und Verantwortungen zu übernehmen, welche mit Staatlichkeit zusammenhängen. Kurzum: Wer sich wie ein Staat benimmt und wie ein Staat behandelt wird, ist ein Staat. An einem scheitert es jedenfalls nicht: an den internen Vorraussetzungen für einen Staat. Sowohl die Vereinten Nationen als auch die Weltbank haben es den Palästinensern bescheinigt: Die Autonomiebehörde ist in der Lage, einen stabilen Palästinenserstaat zu regieren. Laut dem am 12. April 2011 veröffentlichten Bericht des UN-Koordinators für den Nahost-Friedensprozess, Robert Serry, „funktioniert die palästinensische Autonomiebehörde in allen Bereichen wie Gesundheit, Erziehung, Energie, Justiz und Sicherheit wie ein Staat“. Die Weltbank erklärte Anfang April, die Palästinenserführung habe die Finanzverwaltung verbessert und das Gesundheits- sowie das Bildungssystem seien auf dem Niveau anderer Staaten der Region.

Ilona-Margarita Stettner

Quellen:

  • Alain Pellet, The Palestinian Declaration and the Jurisdiction of the International Criminal Court, in: Journal of International Criminal Justice, 8 (2010) 4; S. 981-999 ; John Quigley, The Palestine Declaration to the International Criminal Court: The Statehood Issue, In: Rutgers Law Record, 35 (2009).
  • Dr. Hans Köchler, The Palestine Problem in the Framework of International Law. Sovereignty as the Crucial Issue of a Peaceful Settlement of the Palestinian-Israeli Conflict, I.P.O. Research Papers, vorgelegt am 30. September 2010 in Madrid während der Konferenz “1991-2000: The Palestinian-Israeli Peace Process – A critical evaluation of ten years of negotiations between the Palestinian Authority and Israel” organisiert durch das by the Arab Cause Solidarity Committee.
  • James Crawford, The Creation of States in International Law (Oxford: Oxford University Press, 2006) S. 421 ff.
  • Jean D’Aspremont, Kosovo and International Law: A Divided Legal Scholarship (ESIL Interest Group on Peace and Security (IGPS), debate with O. Corten, P. d’Argent and M. Kohen, March 2008), S 2
  • John Quigley, The Palestine Declaration to the International Criminal Court: The Statehood Issue, in: Rutgers Law Record, 35 (2009).
  • Legal Consequences of the Construction of a Wall in the Occupied Palestinian Territory, Advisory Opinion, I. C. J. Reports 2004, p. 136, §§ 87-88.
  • Office Of The United Nations Special Coordinator for the Middle East Peace Process (Hrsg.), Palestinian State-Building: A Decisive Period (Brüssel: Ad Hoc Liaison Committee Meeting, April 2011).
  • Oslo-Verträge, http://www.mfa.gov.il/MFA/Peace+Process/Guide+to+the+Peace+Process/THE+ISRAELI-PALESTINIAN+INTERIM+AGREEMENT.htm, (27. Juni 2011)
  • Robert Weston Ash, Is Palestine A “State”? A Response to Professor John Quigley's Article, “The Palestine Declaration to the International Criminal Court: The Statehood Issue”, in: Rutgers Law Record, 36 (2009).
  • United Nations General Assembly (Hrsg.), The right of the Palestinian people to self-determination, A/RES/58/163 (22. Dezember 2003)
  • United Nations General Assembly (Hrsg.), Question of Palestine, A/RES/43/177 (15. Dezember 1988).
  • United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (OCHA) (Hrsg.), Restrictions on Palestinian Access to the West Bank, June 2010.
  • Weston Ash, “Is Palestine A State?”, n. 8.
  • Weltbank (Hrsg.), Building the Palestinian State: Sustaining Growth, Institutions, and Service Delivery. Economic Monitoring Report to the Ad Hoc Liaison Committee (Brüssel: Ad Hoc Liaison Committee Meeting, April 2011).