Von Heinz Josef Herbort

Am Anfang steht immer eine nicht zu beantwortende Frage – nach dem Ursprung der Welt, des Menschen, des Bösen; nach dem Sinn des Lebens oder dem Grund des Leidens; nach dem Wesen des Schönen oder der Kraft des Weiblichen; nach der Wahrheit. Der erste Schritt dann, der einfachste Versuch einer Antwort führt über den Mythos in die Religion – oder in die Kunst. Homer und sein Logos vom Odysseus und den beiden singenden Wesen auf der Insel am westlichen Rand der Erde: „Und dann sprach sie mit Worten mich an, die Gebieterin Kirke.“ Sie, die auch seine Gefährten in Schweine verwandelte, verriet ihm nun den Trick, wie man an den Sirenen und ihren todbringenden Gesängen vorbeikommt: Wachs in die Ohren der Ruderer, sich selber an den Mast schmieden.

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Zu Beginn der siebziger Jahre ging der Komponist Rolf Riehm mit einem „Sogenannten Linksradikalen Blasorchester“ auf die Straße, um mit plakativen Aktionen ein (politisches) Bewußtsein zu ändern, seines wie das seiner Zuhörer. „Ich halte mich nach wie vor für einen politischen Künstler“, sagt Rolf Riehm heute, wenige Minuten vor der Uraufführung seiner Oper „Das Schweigen der Sirenen“ in der Staatsoper Stuttgart.

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Über Jahrtausende hinweg haben wir den Logos des Homer geglaubt. Aber dann kamen der listige Brecht und der um die Ecke denkende Kafka, stellten die alten Fragen neu und ein paar weitere hinzu – der Entmythologisierung ist nichts heilig. „Diese Geschichte scheint wirklich nicht mehr recht glaubhaft in neuerer Zeit!“ merkte der Stückeschreiber in einer augenzwinkernden Fußnote süffisant an und fragte sich wie uns: „Wer – außer Odysseus – sagt, daß die Sirenen wirklich sangen!“ Denn, nicht wahr: „Sollten diese machtvollen und gewandten Weiber ihre Kunst wirklich an Leute verschwendet haben, die keine Bewegungsfreiheit besaßen?“ Kunst, so lernen wir auf diesem Wege, hat nur dort Platz und Berechtigung, wo der ihr Zuhörende/Zuschauende frei ist, in der Bewegung seines Körpers wie seines Geistes. Dies wollen wir uns gerne merken.

Franz Kafka war noch weiter gegangen. Zum „Beweis dessen, daß auch unzulängliche, ja kindische Mittel zur Rettung dienen können“, machte er uns damit vertraut, daß „die Sirenen eine noch schrecklichere Waffe als den Gesang, nämlich ihr Schweigen“ haben. Da stehen nun der Spekulation Tür und Tor offen. Was ging in den Damen vor, daß sie sich verweigerten und nicht sangen? Kafka rechnete mit zwei Möglichkeiten: „Sei es, daß sie glaubten, diesem Gegner könne nur noch das Schweigen beikommen, sei es, daß der Anblick der Glückseligkeit im Gesichte des Odysseus, der an nichts anderes als an Wachs und Ketten dachte, sie allen Gesang vergessen ließ.“ So können wir nun, an Adorno und Horkheimer geschult oder nicht, Abende lang den Faden weiterstricken, strukturalistisch und freudianisch, anthropomorph auf jeden Fall, aber auch mit Begriffen im Hinterkopf wie „Herrschaft“ und „Bewußtsein“ und „Schein“ und „Täuschung“: Was bleibt von der Funktion der Sirenen? Welche künstlerischen oder intellektuellen Mittel waren denn da zuvor so unzulänglich, ja kindisch? Welche Freiheit ist höher einzuschätzen als die Souveränität? Oder auch, im elfenbeinernen Turm verharrend: Ist das Schweigen vielleicht gar effektiver als das Singen? Sollen wir das mal den zum Sparen verdonnerten Operndirektoren verraten?

Vor allem aber: Was werden wir heute von Kafkas damaligen Fragen halten, für wie dringlich werden wir sie erachten – wenn wir am Morgen hören, welche Kräfte sich auf anderen Inseln sammeln, auf Haiti beispielsweise; an anderen Stränden, in Kuwait etwa; in anderen Straßen, in Magdeburg vielleicht; vor anderen Reisenden, in der Berliner S-Bahn wie vergangenen Sonntag nachts zwischen eins und vier? Wie kommen wir an denen vorbei, mit welcher Sorte Wachs? Überhaupt: Wie kam uns das ins Haus? Wer, Herr Schönhuber, lehrte diese Sirenen ihre Weisen? Was, Herr Schäuble, ist so attraktiv am nationalen Ton, am markigen Gesang, an der heiseren Kehle? Was hat damals die seirenes gelüstet, auf grüner Wiese sitzend das Orakel zu befragen, aber zugleich auch inmitten von modernden Menschengebeinen und trocknenden Menschenhäuten den Tod zu verkünden? Und was gelüstet heute die Skinheads, gröhlend einen Afrikaner aus dem fahrenden Zug zu werfen? Mit wieviel Schönklang umgarnen uns bis zum Sonntag die Partei-Sirenen in den Medien aller Art mit ihren versprecherischen Wahl- und Werbesprüchen – und mit welchen brutalen, aber dann ehrlichen Reaktionen, Spar-Verordnungen, Leistungs-Restriktionen werden sie uns (nicht sich selber und ihr Tun, das walte Hugo) ab Montag konfrontieren, mit welchen Realitäten werden wir zu rechnen haben? Wird auch dann noch das Schweigen eine noch schrecklichere Waffe sein?

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Der Besetzungszettel sorgt für erste Verwirrung: kein Odysseus, keine Sirenen, keine Gefährten. Dafür: fünf als „Nr. 1 bis 5“ bezeichnete Sängerinnen, zwei Tänzer (besser nennte man sie Akteure), eine Griechin (was verständlich scheint als Erinnerung an Ursprung und Ort der Handlung oder an den Autor des ersten Logos – allein: mit solchen Interpretationen wären wir einer falschen Fährte gefolgt), ein Japaner (wie kommt nun der ins Stück? Und warum hat er seinen Auftritt im Publikum – wie übrigens auch ein Solotrompeter, der zeitweise vom ersten Rang hinab zu blasen hat?). „Das ist ein zentraler Aspekt“, sagt Rolf Riehm, „daß ich gerne die Seelen der Leute verwirren möchte.“

Sechs Takte lang hat das volle Orchester in ständig wechselndem Taktmaß chromatisch absteigende Akkorde gespielt, dergestalt, daß jeder Klang eine andere „Hüllkurve“ erhielt, mal „breit“, mal „flüchtig“, mal „sehr gehalten“ (aber dies nur über einen Teil seiner Dauer), dann stark beschleunigt und sofort wieder verlangsamt. „Ackordschub“ heißt diese Passage, und sie gehört zum „Intro“. An ihrem Ende nun beginnt eine Stimme aus einem Portal-Lautsprecher zu zitieren: „Sie aber...“, doch die Stimme bricht ab. Es folgen ein Chorus I und II, dann ein „Klangschrund“, ein „Strecken und Drehen“ mit einem erneuten Ansatz „Sie aber...“, dann eine „Ackordstarre“ mit einem dreifachen „Akkordfluß“ – bei Takt 94 ein dritter Versuch des Textsprechers: Zwei Takte später kann der endlich seine Information loswerden, nun freilich als wie nebenher heruntergehaspelte Wort-Kaskade: „Sie aber – schöner als jemals – streckten und drehten sich ... Sie wollten nicht mehr verführen.“ Da wissen wir nun, wo wir sind: beim Schluß von Kafkas Text und dem als „überlieferter Anhang“ hinzugefügten satirischen Verdacht, daß der listige Odysseus eventuell diesen ganzen Vorgang den Göttern nur vorgespielt habe – Kafkas doppelte Volte, das nochmalige In-Frage-Stellen des zuvor schon Vagen und damit die erneute Verunsicherung des eben erst konvertierten Lesers/Zuschauers.

Mit der Peripetie, dem Höhe- und Umschlagpunkt des Dramas zu beginnen – ein ungewöhnliches Verfahren. Aber das offenbart bereits ein Wesentliches in Rolf Riehms strukturellem Denken: Die consecutio temporum des Dramas, die scheinbar gottgegebene Ordnung von Zeit und Raum, existiert nicht. Schwer auszumachen, wie oft Kafkas ja kaum eine Seite langer Text in diesem Stück zitiert wird, komplett oder nur in Fragmenten – es ist unwichtig. Der Text wird „wieder und immer wieder gelesen“, befragt, projiziert in die Vergangenheit wie in die Zukunft,

Das heißt natürlich auch: Es wird keine Geschichte erzählt, keine Fabel – kein Mythos. Es gibt keine Katharsis, weil es auch weder Furcht noch Mitleid gibt. Wir hören, wir hören zu. Wir verstehen nicht, was die Sängerinnen mitzuteilen haben, wenn sie nur Phoneme artikulieren. Wir erfahren nicht, was sie einander berichten, während sie wie durch ein Schlüsselloch betrachten, daß ein Nashorn in einem Heißgeschirr pendelt. Wir vernehmen einen musikalischen Gestus – und während wir hören, öffnen sich unsere Ohren (oder verschließen sich, auch damit müssen der Autor und seine Ausführenden rechnen).

Aber „Oper“ ist ja nicht eindimensional, und so sehen wir in einer Art zeit- und raumverschobener Synästhesie Bilder, die sich zwar an der Partitur und deren Strukturen orientieren, aber ihr nicht minutiös folgen, das Klangliche nicht synchronisiert optisch verdoppeln, sondern ihre Eigendynamik besitzen. So läßt der Regisseur Christoph Nel etwa ein Bild sich selber aufbauen und dadurch lebendig werden, indem er die beiden „Akteure“ mit Scheinwerfern Schatten der Sängerinnen auf die kahl-weiße Bühnenrückwand projizieren läßt: die Erschaffung von Figuren, aber doch nur von zweidimensionalen Schemen, die zwar in ihrer nun überdimensionalen Höhe das Geschehen dominieren könnten, die aber profillos bleiben und kaum zu ihrer fabelhaften Macht finden können. So hat der Tier- und Photokünstler Johannes Brus beispielsweise den fünf quicken Sängerinnen fünf Adler entgegengestellt, maskiert zunächst, dann unbeweglich an der Rampe sitzend; hat umgekehrt Sequenzen aus statischen Bildern so geschickt überblendet, daß daraus Video-ähnliche Passagen entstanden, die wiederum der Musik folgen, sie aber weder illustrieren noch hermeneutisch festlegen, sondern gewissermaßen in einer anderen Dimension ergänzen, zumindest die Ohren öffnen für die klanglichen Vorgänge. Freilich sollten wir uns auch nicht Augen oder Ohren mit welchem philosophischen Wachs auch immer verkleben lassen: Nicht alles ist zu szenischem Gold geworden, was hier in Frankfurter Schul-Klasse er-dacht ward.

So hat, umgekehrt, der Dirigent Bernhard Kontarsky nicht nur die unterschiedlichen Klangschichten, die heterogenen Klangräume organisiert, sondern auch die akustische Komponente zum Partner einer optischen gemacht, die nicht eo ipso dominiert, sondern auch zurücktreten kann in dieser partnerschaftlichen Ko-Produktion. So haben, schließlich, die Damen des Vokalquintetts (Susan Roberts, Urszula Koszut, Silvia Learna, Sandra Graham, Lani Poulson) sich in die Unpersönlichkeit eines Ensembles begeben, das kaum je Gelegenheit gibt, sich besonders zu profilieren, das aber die unterschiedlichen Färbungen benötigt in einer, so darf man sagen, autonomen Musik, die sich nur einem Ziel verschrieben hat: hellhörig zu werden und zu machen.

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Und so kommen wir am Ende doch wieder auf den Mythos und seine unbeantwortbaren Fragen nach den Ursprüngen und dem Wesentlichen zurück. Die Ambivalenz zwischen letalem Ausgang und Konfirmation, die sowohl dem Sehen als auch dem Hören anhaftet, in entsprechender Weise zu nutzen – wenn das kein politischer Vorgang ist! Was uns freilich nicht von der brennenden Notwendigkeit entbindet, uns entscheiden zu müssen, was wir morgen tun werden, wenn in Haiti und Kuwait, in Magdeburg und Berlin – oder auch in Bonn – Fragen gestellt werden, die nicht nur heute entstanden sind, sondern einem jahrtausendealten Mythos folgen. Werden wir dort eine immer noch schrecklichere Waffe hervorziehen – oder genügt es, nicht mehr zu singen, sondern zu schweigen?