Die wahre Liebe der SPD-Mitglieder gilt heute vor allem einer Statue: Übervater Willy Brandt im Foyer der SPD-Parteizentrale. Auf der Website des Hauses lässt sich nachlesen, wie sich die Partei an den Altkanzler erinnert. Das Bildnis, so steht dort geschrieben, zeige Brandt, "wie er den Menschen gegenübertrat: nachdenklich, herzlich, bisweilen launisch, mit der Bereitschaft zuhören zu wollen, aber auch Proteste herausfordernd, immer mit dem Anspruch zu versammeln und zu führen." So recht einzulösen schien diese Tugenden seither niemand mehr an der Spitze der Partei.

Gerade ist Martin Schulz als Vorsitzender gescheitert – zwar vor allem an sich, aber auch an den unterschiedlichen Erwartungen seiner Partei. Auch Andrea Nahles wird als vermutlich künftige Parteivorsitzende nach innen Brücken bauen und zugleich die SPD an eine sich rasch wandelnde Gesellschaft anpassen müssen. Beides gleichzeitig ist nicht leicht zu schaffen. Für die Vorsitzenden der SPD ist der Spagat sogar schwieriger als für die Chefs der politischen Konkurrenz.

Martin Schulz wurde von seiner Partei nicht nur mit 100 Prozent der Stimmen zum Vorsitzenden gewählt. Er erhielt auch einen kulturellen Vertrauensvorschuss, eine Art sozialdemokratischen Ritterschlag. Es war von "Martin" die Rede, nicht von "dem Schulz". Rechter und linker Flügel der SPD schienen unter dem bodenständig wirkenden Schulz für einen kurzen Moment geeint.

Ein Schulz, viele Projektionen

Doch alle Flügel hatten unterschiedliche und einander teils widersprechende Erwartungen an ihn: Der konservative Seeheimer Kreis, die Pragmatiker und auch die Führungsriege hofften, dass Schulz vor allem der lang ersehnte Charismatiker sei. Aufgrund seiner Beliebtheit könne er es vielleicht mit der übermächtigen Kanzlerin aufnehmen. Man hoffte, dass er den als unfair empfundenen Amtsbonus der Union entzaubern könne, gegen den die SPD seit Längerem keine Chance zu haben glaubte.

Der linke Flügel dagegen sprang auf den Schulz-Zug auf, weil er dachte, er führe weg von Agenda 2010 in Richtung programmatischer Großprojekte wie der Bürgerversicherung. Generell wollte die Basis mit Schulz zurück in die gute alte Zeit der Lagerwahlkämpfe vor der großen Koalition.

Der nun doppelt gescheiterte Kanzlerkandidat und Parteivorsitzende hingegen versuchte, die sozialdemokratische Seele vor allem über Symbole und seine Sprache für sich einzunehmen. Mit Fliesenlegerinnen, Krankenschwestern oder Dachdeckerinnen adressierte er die Berufsgruppen, zu denen die sogenannten einfachen Menschen gehören. Sein Mantra galt seiner Herkunft aus dem kleinen provinziellen Würselen, dessen Bewohnerinnen und Bewohner der Kanzlerkandidat für sich vereinnahmte: als Beleg seiner Authentizität und Bodenständigkeit.

So versuchte er an Mythen der Sozialdemokratie anzuschließen. Doch genau hier liegt auch ein Problem der Partei und insbesondere ihrer Vorsitzenden: Die Arbeiterklasse, zumindest jene, die in den Arbeiterliedern besungen wird, in die Franz Müntefering bis heute auf Parteitagen inbrünstig einstimmt, gibt es nicht mehr.

Die Arbeiteridentität gibt es nicht mehr

Schon die Berufsgruppen, die Martin Schulz anzusprechen versuchte, sind zum Teil gar keine klassischen Arbeiterberufe mehr, sondern Dienstleistungsberufe, die in einer hochtechnisierten und genormten Arbeitswelt ein enormes Basiswissen, schulische Bildung und einen langen Ausbildungsweg erfordern. Hinzu kommt die Individualisierung der Gesellschaft: Identität und Zugehörigkeitsgefühle bilden sich heute nicht mehr so sehr über den Beruf heraus. Einst aber bildeten genau die alten Arbeiterberufe den erzählerischen Kern der Sozialdemokratie.

Im Neoliberalismus gäbe es zwar zahlreiche Themen für die SPD, doch die alten Interessengruppen finden sich nicht mehr. Dachdeckerinnen und Fliesenleger sind heute möglicherweise mehr an einer funktionierenden Wirtschaft, mehr fähigem Personal und der Auftragslage interessiert als an der Ausweitung von Arbeitnehmerrechten. Währenddessen teilen Reinigungskräfte, Lehrpersonal und der Mittelbau an Hochschulen immer stärker das Schicksal prekäre Beschäftigung, aber sie leben dennoch in völlig unterschiedlichen Welten. Und das neue Dienstleistungsproletariat, das meist weiblich ist und in Berufen wie der Pflege arbeitet, bildet kaum noch ein Klassenbewusstsein aus.

Willy Brandt, so sehr ihn die Partei auch als historisches Vorbild verehrt, hatte es als SPD-Vorsitzender einfacher. Zu seinen Zeiten hatten die Liberalisierung und Individualisierung der Gesellschaft erst begonnen; gleichzeitig motivierte der Geist der Neuen Sozialen Bewegungen die Generation der Babyboomer, sozialdemokratisch zu wählen. Sie gehörten zwar selbst immer weniger einer Arbeiterklasse an, wählten aber dennoch die SPD, weil sie in ihr die Kraft der Modernisierung sahen. So kanalisierten sich in Brandt unterschiedliche Hoffnungen, die sich damals noch weniger widersprachen als die Erwartungen an einen SPD-Chef das heute tun. Die Verehrung für Brandt heute entspringt auch einer Verklärung der damaligen Zeit.