Zwei Texte haben mir in den letzten Wochen richtig schlechte Laune gemacht. Zwei große Feuilletonaufmacher, einer in der Süddeutschen Zeitung, einer in der ZEIT, beide von Soziologen. Dass es Soziologen waren, ist wichtig, denn die soziologische Perspektive war der eigentliche Grund für die Verstimmung.

Andreas Reckwitz hat, wie die Soziologen das machen, die Deutschen jüngst nach Lebensstilen, Konsumverhalten, Arbeitsverträgen und Globalisierungstüchtigkeit sortiert und dann aus diesem sozialen Tableau (partei)politische Entwicklungen erklärt, auf politische Einstellungen geschlossen und parteiprogrammatische Empfehlungen gegeben (ZEIT Nr. 9/18). Der Münchner Soziologe Stephan Lessenich machte es kurz zuvor andersherum. Er begann bei aktuellen politischen Unzufriedenheiten in Deutschland, die er dann auf die wirtschaftlich-psychologische Situation einer bestimmten sozialen Schicht zurückführte (SZ vom 3. 1. 2018).

Beides provozierte meinen Widerspruch: Ich will nicht stellvertretend für eine sozial-kulturelle Gruppe und auch noch für eine politische Haltung verhaftet werden, die irgendwie kausal mit einem typisierten Lebensentwurf verknüpft sein sollen. Ich werde da irgendwo hingestellt, und dann versteht sich fast von selbst, wie ich denke? Oder empfindet man das nur als Zumutung, wenn man Kant und Fichte gelernt hat? Wenn man glaubt, dass Autonomie – Selbstgesetzgebung nach Gründen – möglich ist? Und dass das Ich ein Ich ist – also mehr als ein Konglomerat aus Materie und sozialen Bedingtheiten?

Es ist paradox: Diese soziologischen Zugriffe nehmen das Individuum nicht ernst, während sie überall Individualisierung und gesellschaftliche Singularitäten sehen. In diesen soziologischen Panoramen sich immer noch weiter individualisierender Einzelner mit ihren hochdifferenzierten Lebensentwürfen (Ist das wirklich so? Melancholisch konservative Gemüter sehen überall Herden) verschwinden Klang und Verheißung von Autonomie in deprimierendster Weise.

Einen Ausweg weist eine etwas aus der Mode gekommene Unterscheidung: die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft. Was viele für einen Gott sei Dank längst abgestreiften Rest unguter deutsch-konservativer Staatsüberhöhung halten, hat der Rechtsphilosoph Ernst-Wolfgang Böckenförde schon vor Jahrzehnten als Bedingung der Sicherung von Freiheit erkannt und verteidigt. Der Staat ist die Sphäre geschützter Freiheit, auch der Freiheit des Denkens und Meinens, und gesicherter Gleichheit – gerade gegen die sozialen Bedingtheiten, die Ungleichheiten und Zwänge der Gesellschaft.

Nimmt man diese Unterscheidung ernst, beginnt sich eine neue befreiende Unterscheidung abzuzeichnen: die Unterscheidung sozusagen von Gesellschaftsbürger und Staatsbürger.

Jene Art Gesellschaftsbürger sortierende Soziologie hat ja Einfluss: Politische Parteien versuchen mit ziselierter Zielgruppentypisierung, des Gesellschaftsbürgers als eines Lifestyle-Wesens habhaft zu werden, anstatt den Staatsbürger als Vernunftwesen anzusprechen. Aber ich behaupte mal: Egal, wie ich lebe (hedonistisch in Berlin-Mitte), ich wähle so, dass ich (subjektiv, nach meinem Urteilsvermögen) das höchstmögliche Gemeinwohl auch für die im Essener Norden im Blick habe; vielleicht sogar vor allem das Wohl derjenigen, die den Staat mehr brauchen, als ich ihn brauche. Und idealerweise ist im politischen Raum die staatsbürgerliche Urteilsbildung eben auch andersherum zu fordern. Zum Beispiel: Wer wirklich Sorge hat, in der Globalisierung unter die Räder zu kommen, der könnte ja auch zu dem Schluss gelangen, dass ihm – und zugleich allen – die FDP da mehr helfen kann als die Linkspartei.

Als Arbeitsloser muss ich nicht die wählen, die höhere Geldleistungen versprechen. Ich kann auch die wählen, die wirtschaftliche Dynamik in Aussicht stellen. Als Wohlhabender muss ich nicht die wählen, die "weniger Erbschaftsteuer" anbieten. Ich kann auch die wählen, die die öffentliche Infrastruktur für alle zu verbessern versprechen und dafür möglicherweise von mir sogar mehr Geld haben wollen. Globalisierungstüchtige Kosmopoliten mögen gleichwohl die Notwendigkeit von kontrollierter Zuwanderung erkennen, von nationalstaatlich reguliertem Sozialstaat und regulierter Wirtschaft, und sie mögen auch präsent-bewusste Gemeinsamkeiten im nationalen Staatsvolk wünschenswert finden (was ja gerade Kosmopoliten überall in der Welt als das Selbstverständliche erleben). Und auch einfache Dienstleistungsbeschäftigte oder kleine Selbstständige können finden, dass Bildung für unser Land sehr wichtig ist, dass Frauen gleiche Rechte haben sollten und Lebensmittel am besten gesund sind – bei Reckwitz kann so nur die akademisch-kulturelle obere Mittelklasse denken.

Aber solche Crossover-Einsichten scheinen in dieser Art Soziologie nicht vorgesehen. Ihr fehlt auch der erwähnte Begriff des Gemeinwohls, der unsere staatsbürgerlichen Kräfte gegen jene gesellschaftsbürgerlichen Gulliver-Fäden weiter steigern kann. Das Gemeinwohl ist die unaufgebbare Orientierungsidee in jeder Res publica. Schon der bloße Gedanke an das Gemeinwohl beginnt den Bürger aus seinem sozioökonomischen Milieu herauszuziehen – genauso wie eine an den klassischen Großbegriffen Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität orientierte politische Debatte.