23.07.2012

Die angekündigte Katastrophe

Es hatte Warnungen gegeben: Doch die deutschen Sicherheitsbehörden wollten sich auf das Szenario eines Terroranschlags bei Olympia nicht einlassen. Geheimakten belegen das Versagen der Organisatoren und ihr Bemühen, es zu verschleiern.
Der junge Mann, der als Terrorist Geschichte schrieb, war ein Niemand, bis er Issa und Tony traf. Zweimal durchs Abitur gefallen, arbeitslos; einer von Zehntausenden Palästinensern, die im Flüchtlingslager Schatila, in der libanesischen Hauptstadt Beirut, darauf warteten, dass etwas passieren möge. Irgendetwas, das der Aussichtslosigkeit des Elends ein Ende bereiten würde.
Issa und Tony lebten nicht im Lager. Sie schauten ab und zu im Café Fatah vorbei, wo Mohammed al-Safadi sich die Zeit vertrieb. Sobald Issa und Tony auftauchten, hörte er die Älteren respektvoll raunen. Fedajin seien sie, Kämpfer des "Schwarzen September", einer geheimen Guerillatruppe, benannt nach jenem Monat 1970, in dem die jordanische Armee die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) aus dem Land gedrängt hatte.
An einem Tag im Mai 1971 fasste sich Safadi ein Herz, trat an Issas und Tonys Tisch und bat darum, beim Schwarzen September mitmachen zu dürfen. "Wie kommst du darauf, dass wir dazugehören?", fragte Issa. "Das habe ich gehört", antwortete Safadi. Ohne darauf einzugehen, standen die beiden auf. "Wenn etwas ist, kannst du uns hier im Café erreichen", sagte Issa und ging mit Tony davon.
Ein Jahr später saß der 21-Jährige in einem Sammeltaxi nach Damaskus. Issa und Tony, die in der syrischen Hauptstadt auf ihn warteten, hatten dem jungen Mann mit der Prinz-Eisenherz-Frisur Geld für die Reise gegeben. Zu dritt ging es weiter nach Dscharasch in Jordanien, wo der Schulabbrecher ein Waffentraining durchlaufen sollte.
Doch von Ausbildung konnte, wie Safadi später erzählte, keine Rede sein. Der Rekrut des Schwarzen September verbrachte 14 Tage in einem Zweizimmerhaus, das er nie verlassen durfte. Dort übte er unter Issas Anleitung, wie man eine Kalaschnikow handhabt, sie in ihre Einzelteile zerlegt und wieder zusammenbaut. Nicht einen einzigen Schuss durfte der Guerilla-Novize abfeuern, von einem Training an anderen Waffen, Panzerfäusten, Handgranaten oder Sprengsätzen, ganz zu schweigen.
Vier Monate später, am 5. September 1972, verfolgten 900 Millionen Menschen in 100 Ländern live im Fernsehen, wie der Schmalspur-Fedajin zusammen mit Issa, Tony und fünf weiteren Palästinensern für einen Tag und eine Nacht die Welt in Atem hielt.
Alle Welt konnte sehen, wie Issa mit weißem Hut dem Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher die Bedingungen diktierte; wie ein Komplize mit Strumpfmaske von einem Balkon spähte. Und wie ein ausgebrannter Hubschrauber auf dem Militärflughafen Fürstenfeldbruck zum Symbol polizeilichen Versagens wurde: Neun israelische Geiseln, fünf Terroristen und ein Polizist starben.
Die Bilder des Anschlags auf israelische Sportler und ihre Betreuer während der Olympischen Spiele 1972 geben auch heute noch, 40 Jahre nach der Katastrophe, die Ohnmacht wieder gegenüber jenem Phänomen, für das die Palästinenser Motor, Mentor und Modell waren: der Internationalisierung des Terrors.
Das Attentat von München markierte den ersten Höhepunkt einer Reihe von Anschlägen, mit denen es der PLO gelang, den palästinensisch-israelischen Konflikt gewaltsam auf die Tagesordnung der Weltpolitik zu setzen.
Der Terrorakt gab nicht nur dem Nahost-Konflikt eine neue Dimension. Auch Olympische Spiele waren danach nie mehr jenes unbeschwerte Fest der Jugend aus aller Welt, das in München bis zum Überfall der Palästinenser gefeiert worden war. Sicherheit für Sportler, Funktionäre und Zuschauer ist seit 1972 ein zentraler Bestandteil einer jeden Bewerbung als Gastgeber des großen Spektakels.
Wenn in London in dieser Woche die olympischen Wettbewerbe beginnen, werden 23 000 Sicherheitskräfte im Einsatz sein, davon 13 500 Soldaten, die auch deshalb an die Themse kommandiert wurden, weil die amerikanische Regierung in Zweifel gezogen hatte, dass die Spiele ausreichend gegen Terroranschläge geschützt seien. Ein 17,5 Kilometer langer 5000-Volt-Elektrozaun trennt die Olympiazone nun vom Rest der Stadt.
Als Einsatzzentrale liegt der über 200 Meter lange Hubschrauberträger "HMS Ocean" in Greenwich auf der Themse bereit. Die Beschützer der Olympioniken verfügen unter anderem über Kampfjets und Schnellboote, Scharfschützen sind an Bord, und auf Wohnhäusern wurden Boden-Luft-Raketen stationiert.
Eine Gedenkminute für die in München und Fürstenfeldbruck Ermordeten, wie sie Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Spiele von 1972 gefordert haben, wird es in London wohl nicht geben. IOC-Präsident Jacques Rogge ist dagegen: "Die Atmosphäre bei der Eröffnungsfeier muss von Fröhlichkeit und Feierlichkeit geprägt sein, nicht von Trauer."
40 Jahre sind eine Zeitspanne, in der sich der Blick auf Geschehnisse beträchtlich verändern kann. Die politischen Koordinaten haben sich gewandelt, die Einsatzprotokolle sind nicht mehr geheim. Ein Team des SPIEGEL hat deshalb Zehntausende der Öffentlichkeit bislang unbekannte Dokumente ausgewertet - unter anderem im Bundesarchiv in Koblenz, im Politischen Archiv des Auswärtigen Amts sowie im Bayerischen Hauptstaatsarchiv. Außerdem sichteten die Journalisten bislang geheime Vermerke und Berichte der Ermittlungsbehörden, Botschaftsdepeschen und Kabinettsprotokolle, die das Kanzleramt, das Bundesamt für Verfassungsschutz, das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz sowie das Auswärtige Amt auf Antrag des SPIEGEL freigegeben haben.
Die Unterlagen zeigen, dass die Geschichte eines der spektakulärsten Verbrechen der deutschen Nachkriegszeit in wichtigen Teilen bislang falsch dargestellt worden ist - nicht nur deshalb, weil deutsche Neonazis den Palästinensern halfen (SPIEGEL 25/2012). Was die Dokumente vor allem widerlegen, ist das seit Jahrzehnten vorgetragene Mantra vom Anschlag fanatischer Profis, der aus heiterem Himmel kam und gegen den deshalb kein Kraut gewachsen war.
Seit Jahrzehnten halten die damals Verantwortlichen, Hans-Dietrich Genscher (Bundesinnenminister), Bruno Merk (Bayerns Innenminister) und Manfred Schreiber (Münchner Polizeichef) an dieser geschönten Sicht fest. Sie blenden aus, dass der Himmel über der Bundesrepublik in Sachen Terrorismus und Palästinenser schon Jahre vor den Münchner Spielen nicht mehr heiter war - und dass es konkrete Warnungen und Hinweise gab. So konkret, dass kaum nachvollziehbar ist, warum sie ignoriert wurden.
Auch die Mär vom Tod und Teufel verachtenden Terrorkommando ist mit der Freigabe der Akten dahin. Die Attentäter, das belegen nicht nur die Vernehmungsprotokolle, waren schlecht vorbereitete, überforderte Amateure.
Und: Schon Monate vor der Geiselnahme unterliefen deutschen Behörden so gravierende Fehler, dass von einer Unausweichlichkeit der Katastrophe nicht mehr gesprochen werden kann.
Die beschämendste Erkenntnis aus den Unterlagen aber ist, wie unverfroren sich die Verantwortlichen, gleich im Anschluss an das Desaster, von jeglicher Schuld freisprachen. Und wie sie das ganze Ausmaß ihrer Unfähigkeit vertuschten, offenbar bis hin zum Versuch, Belege ihres Versagens verschwinden zu lassen.
Eine bekannte Gefahr
Bereits seit 1968 hatten palästinensische Terrorgruppen israelische und jüdische Ziele weltweit ins Visier genommen. Sie hatten El-Al-Flugzeuge in Italien und Indien entführt und einen Swissair-Jet mit 47 Menschen an Bord auf dem Weg nach Tel Aviv mittels einer Paketbombe gesprengt. Im September 1970 kaperten palästinensische Terroristen Flugzeuge der Gesellschaften Swissair, PanAm, TWA und BOAC. Sie dirigierten drei der Jets nach Dawson's Field, einem ehemaligen britischen Militärflughafen in Jordanien, und sprengten sie in die Luft.
Auch die Bundesrepublik hatten nahöstliche Freischärler schon vor den Olympischen Spielen zum Operationsfeld erkoren. Im September 1969 detonierten Handgranaten an der israelischen Botschaft in Bonn. Im Februar 1970 scheiterten drei Palästinenser auf dem Münchner Flughafen beim Versuch, eine israelische Verkehrsmaschine zu entführen. Sie warfen Handgranaten, töteten einen Israeli und verletzten elf weitere Personen.
Der Jahresbericht 1969/70 des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV) listete eine Reihe palästinensischer Anschläge auf. Ob ein Sprengstoffattentat auf ein Flugzeug der Austrian Airlines auf dem Weg von Frankfurt am Main nach Israel oder die Entführung eines amerikanischen TWA-Jets, dessen Hijacker in Frankfurt an Bord gegangen waren: Immer wieder wiesen die Spuren nahöstlicher Terroristen Richtung Deutschland, wo mehrere tausend Palästinenser arbeiteten oder studierten.
Deren Vereine, etwa die Generalunion Palästinensischer Studenten (Gups), warben offen für Gewalt, bejubelten in ihren Zeitschriften Anschläge gegen Israelis und schickten Studenten in militärische Ausbildungslager im Nahen Osten. Für das BfV war klar: Die Gups "betrachtet die Bundesregierung als Feind des palästinensischen Volkes, da sie Israel militärisch und wirtschaftlich unterstütze".
Auch im Olympiajahr gab es eine Reihe alarmierender Aktionen. Ein Kommando des Schwarzen September ermordete im Februar 1972 fünf Jordanier in Brühl bei Köln, weil sie angeblich Verräter waren. In Hamburg ging ein Sprengsatz in einer Fabrik hoch, die für Israel Relais produzierte. Am 25. Februar endete die Entführung eines Lufthansa-Jumbos mit der Zahlung von fünf Millionen Dollar Lösegeld.
Die Sicherheitsbehörden hatten die Gefahr eines Terroranschlags seitens palästinensischer und anderer Terrorgruppen durchaus im Blick. 1970 sah das Innenministerium in Bonn "Anhaltspunkte" dafür, dass "extremistische Einzeltäter und Tätergruppen des In- und Auslandes" versuchen könnten, die weltweite Aufmerksamkeit während der Spiele für "Störaktionen bis hin zu terroristischen Gewaltakten am Austragungsort" zu nutzen.
Am 1. März 1972 schloss sich das Bayerische Landeskriminalamt dieser Beurteilung an: "Während der Olympischen Spiele bietet sich für politisch extreme Gruppen eine einmalige Gelegenheit, die Weltöffentlichkeit auf ihre Forderungen, Ziele und Ideen aufmerksam zu machen. Es sind deshalb auch terroristische Aktionen zu befürchten."
Ein verhängnisvolles Konzept
Doch solche Erkenntnisse blieben ohne Folgen für das Sicherheitskonzept, das Manfred Schreiber entworfen hatte, der selbstbewusste, joviale Münchner Polizeipräsident, der im Organisationskomitee der Spiele für Sicherheitsfragen verantwortlich war. Niemand verlangte, den nur zwei Meter hohen Maschendrahtzaun um das Olympische Dorf zu sichern, den jeder halbwegs sportliche Zeitgenosse leicht überwinden konnte. Niemand kam auf die Idee, strenge Zugangskontrollen durchzuführen. Niemand stellte Wachen vor das israelische Quartier.
Denn Schreiber orientierte sich nicht an der neuen Herausforderung des internationalen Terrorismus, sondern war berauscht vom Erfolg der sogenannten Münchner Linie - seiner Linie. Die Polizei hatte mit einem weitgehenden Verzicht auf Zwangsmaßnahmen und mit psychologisch geschulten Beamten Sit-ins, Rockkonzerte und Massendemonstrationen in den Griff bekommen. Und war bundesweit für ihr zurückhaltendes Auftreten gelobt worden.
Der Polizeichef war ein Sozialdemokrat und enger Gefolgsmann des Münchner Oberbürgermeisters und späteren SPD-Vorsitzenden Hans-Jochen Vogel. Dessen größte Angst im Hinblick auf die Spiele bestand offenbar darin, dass eine deutliche Polizeipräsenz Erinnerungen an die Uniform-Olympiade der Nazis 1936 wachrufen könnte.
Denn noch immer lastete Hitlers Schatten auf dem seit 1969 sozial-liberal regierten Land. Vom Ostblock wurde die Bundesrepublik als Hort des Revanchismus gegeißelt. Die Studentenbewegung sah den Bonner Staat als kryptofaschistisches Gebilde, in dem ehemalige NSDAP-Mitglieder in höchste Ämter gekommen waren. Die Tatsache, dass mit Willy Brandt ein ehemaliger Hitler-Gegner regierte, hatte diese Sicht kaum ändern können.
Vor allem deshalb argumentierte Vogel, dass ein Einsatz staatlicher Zwangsmittel alte Vorurteile bestätigen und den Erfolg der Spiele gefährden könne. Nichts sollte an 1936 erinnern. Keine Mauern, keine Wachhunde, kein Stacheldraht. Weltoffen, heiter und bunt, das war die Devise. "Waffen, bei Gott, kommen überhaupt nicht in Frage, auch nicht andere Hilfsmittel wie Gummiknüppel", so hatte es Schreiber schon 1970 via Münchner "Abendzeitung" der Welt kundgetan.
Die rund 15 000 Mann der regulären Polizei standen überwiegend außerhalb des Geländes in Reserve. Im Olympiapark und im Olympischen Dorf hingegen sahen rund 2000 Männer und Frauen des Ordnungsdienstes nach dem Rechten: Angehörige des Bundesgrenzschutzes und anderer Polizeibehörden. Unbewaffnet, im hellblauen Anzug, den der französische Modedesigner André Courrèges entworfen hatte, sollten sie, wie Schreiber sagte, "möglichst schmissig mit Blazer und Hut oder so" für Ordnung sorgen.
Eine sympathische Herangehensweise. Aber bereits 1972 ziemlich weltfremd. Und vor den Olympischen Spielen geradezu grob fahrlässig.
Vergebliche Warnungen
Zu Schreibers Mitarbeitern zählte auch Georg Sieber, Leiter der "Studiengruppe für Politologie, Psychologie und Kommunikationsforschung". Der heute 77-Jährige schulte den Olympiaordnungsdienst und hatte dafür 26 mögliche Konfliktsituationen entworfen, im Polizeijargon "Lagen" genannt. Die Szenarien orientierten sich an den Abläufen von Anschlägen vergangener Jahre. Diese mussten sich mindestens fünfmal - so oder so ähnlich - ereignet haben, um in Siebers Lagen-Sammlung aufgenommen zu werden.
Darunter auch Lage 21: der Angriff eines palästinensischen Terrorkommandos auf das Olympische Dorf. Attentäter, die im Morgengrauen über den Zaun klettern und Geiseln nehmen, um "Gefangene im Austausch freizupressen". Kompromissbereitschaft sei nicht zu erwarten: "Mit einer Aufgabe ist unter keinen Umständen zu rechnen."
Schreiber habe, wie Sieber sich noch heute erinnert, seinen Lagen-Vortrag auf einer Sitzung im Februar 1972 nach wenigen Minuten unterbrochen und ihn mit zwei Sätzen abgekanzelt: "Herr Kamerad, das steht jetzt hier nicht auf der Agenda. Das brauchen wir nicht."
Im Mai war es Ernst-Thomas Strecker, der Sicherheitschef des Olympischen Dorfes, der in einer Besprechung noch einmal einen Vorstoß wagte, wie sich Zeitzeugen erinnern. Der Bundeswehroffizier habe in Anwesenheit von Willi Daume, dem Präsidenten des Nationalen Olympischen Komitees, dafür plädiert, das Dorf stärker zu sichern. Daume antwortete: "Herr Strecker, wir sind hier nicht im KZ."
27 Jahre nach dem Untergang des "Dritten Reichs" sollte nichts an die braune Vergangenheit erinnern. Für den Imagegewinn der Deutschen zahlten die Israelis mit elf Toten. Allenfalls die Geheimdienste hätten die Verantwortlichen noch sensibilisieren können. Doch auch die versagten. Vom Bundesnachrichtendienst und vom Militärischen Abschirmdienst seien "im allgemeinen wenig verwertbare Erkenntnisse eingegangen", ätzten im Nachhinein die bayerischen Verfassungsschützer, deren Bilanz genauso erbärmlich ausfiel. Sie hatten vor dem Anschlag keinen einzigen Palästinenser auf dem Radar.
Wie der langjährige Leiter des Hamburger Verfassungsschutzes, Hans Josef Horchem, später berichtete, operierten nur die Geheimdienste in West-Berlin und in der Hansestadt "im Bereich der Palästinenser". Allerdings bekamen auch sie keinen Zugang ins Umfeld der Attentäter: Weder unter den Werbern noch unter den Agentenführern fand sich ein Geheimdienstler, der Arabisch sprach.
Dabei hatte das Bundesinnenministerium ein halbes Jahr vor den Spielen doch noch seine Sorge ausgedrückt: Die vorliegenden Erkenntnisse seien "sehr lückenhaft" und bedürften einer "erheblichen Konkretisierung". Das Bundesamt für Verfassungsschutz solle "die notwendigen Ermittlungen führen".
Beinahe hätte dieser Weckruf noch gewirkt. Allein in den fünf Wochen vor dem Überfall auf die israelischen Sportler trafen 17 Hinweise auf "palästinensische Terrorplanungen" beim BfV ein, sie stammten überwiegend von ausländischen Geheimdiensten.
Offenbar gab es sogar Hinweise auf die richtigen Leute. Auf einer Liste des Bundesgrenzschutzes mit Namen von Verdächtigen, denen die Einreise verwehrt werden sollte, stand mit Fachri al-Omari einer der Hintermänner des Attentats. Zudem hatte das Bundesverkehrsministerium im August die Lufthansa vor "arabischen Terroristengruppen" gewarnt.
Mindestens zweimal hätten die Alarmsirenen heulen müssen: Am 14. August 1972 meldete die Botschaft in Beirut, ein libanesischer Journalist und Vertrauensmann der Deutschen habe gehört, dass "von palästinensischer Seite während der Olympischen Spiele in München ein Zwischenfall inszeniert wird".
Vier Tage später leitete das Außenministerium die Warnung an den Verfassungsschutz in Bayern weiter - samt der Empfehlung, "alle im Rahmen des Möglichen liegenden Sicherheitsmaßnahmen zu ergreifen". Die Warnung verpuffte.
Und dann war da noch jenes Telex der Dortmunder Polizei, das der SPIEGEL vor einigen Wochen öffentlich machte. Schon in der Betreff-Zeile stand: "Vermutlich konspirative Tätigkeit palästinensischer Terroristen".
Der Chef des damaligen deutschen Neonazis Willi Pohl hatte sich an die Polizei gewandt, weil sein Angestellter ihn bestohlen hatte. Den Ermittlern berichtete er, dass Pohl sich zum radikalen Flügel der PLO bekenne und sich mit einem Mann "arabischen Aussehens" getroffen habe, der im Dortmunder Hotel Römischer Kaiser logierte.
Wie die Polizei herausfand, war dort ein gewisser "Saad Walli" untergekommen. Saad Walli war der Deckname von Abu Daud, dem wichtigsten Hintermann des Münchner Terroranschlags. In den jetzt freigegebenen Unterlagen gibt es keinen Hinweis darauf, dass die von den Dortmunder Fahndern informierten Landeskriminalämter, das BKA oder das BfV etwas unternommen hätten, um den verdächtigen Walli zu finden. Und so konnte Abu Daud alias Saad Walli nach Aktenlage im Vorfeld des Anschlags unbehelligt im Münchner Eden Hotel Wolff wohnen, von dort mit seinen Kumpanen in Libyen und in Tunesien telefonieren und sich mit den Kommandomitgliedern treffen.
Die Sicherheitsbehörden registrierten nicht einmal, was in Zeitungen zu lesen war. So berichtete am 2. September 1972, drei Tage vor der Geiselnahme, die italienische Illustrierte "Gente", der Schwarze September wolle den September 1972 durch Anschläge zum "Feuermonat" machen. Geplant sei auch "eine aufsehenerregende Tat bei den Olympischen Spielen". Erst zwei Tage nach dem Anschlag nahmen die Geheimen den Artikel zur Kenntnis, nach einem Hinweis der Hamburger Kripo.
Zerstörte Illusionen
Am Tag, als "Gente" erschien, erreichte Safadi, der Terror-Novize aus dem Flüchtlingslager Schatila, die Olympiastadt. Er war, wie er später seinen Vernehmern erzählte, gegen sechs Uhr morgens mit dem Zug aus Belgrad gekommen. Ende August hatten Issa und Tony ihn nach Damaskus beordert. Dort erzählten sie ihm, es gebe "Arbeit" für ihn in Deutschland. Safadi bekam ein Flugticket nach Belgrad und den Befehl, sich am 3. September um 18 Uhr an einer U-Bahn-Station in der Nähe des Olympiageländes einzufinden.
Die 36 Stunden bis zum Treffen verbummelte Safadi rund um den Bahnhof, auf sich allein gestellt und ohne Schlaf. Seine späteren Komplizen waren auf mehrere Hotels verteilt. Der ursprüngliche Plan, gemeinsam unterzukommen, war in der überfüllten Olympiastadt nicht realisierbar. Tony hatte sogar eine Anzeige in der "Süddeutschen Zeitung" schalten müssen, um ein Zimmer zu finden: "Looking for living with family".
Die Logisfrage blieb nicht die einzige, bei der das Terrorkommando dilettantisch agierte. Eine der Legenden, die sich seit Jahrzehnten halten, ist jene von der akribischen Planung des Anschlags. Issa und Tony hätten angeblich über Wochen "undercover" im Olympischen Dorf gearbeitet, um sich mit den Örtlichkeiten vertraut zu machen.
Abu Ijad, Chef des PLO-Geheimdienstes Rasd und einer der Drahtzieher des Schwarzen September, förderte diese Legende nach Kräften. In seiner 1978 erschienenen Autobiografie "My Home, My Land" behauptet er sogar, Issa habe "das gesamte Dorf systematisch inspiziert" und Skizzen der Pavillons angefertigt; "insbesondere von jenem, der den Israelis zugewiesen war, mitsamt möglichen Fluchtwegen".
Das Motiv einer solchen Desinformation liegt auf der Hand: Die Aktion in München war nicht, wie es im Nachhinein schien, der kühl kalkulierte Erfolg eines skrupellos-mörderischen Kommandos. In Wahrheit war sie das Desaster einer Chaostruppe, die im Moment der Niederlage von ihren Hintermännern im Stich gelassen und geopfert wurde.
Von Präzision, wie sie Abu Ijad beschreibt, findet sich in den Akten keine Spur. Im Gegenteil: Issa und ein weiteres Kommandomitglied liefen am frühen Morgen des 5. September zunächst an den Apartments der Israelis im Haus Connollystraße 31 vorbei. In einer der oberen Etagen trafen sie in einer Wohnung auf Sportler aus Hongkong. Zwei von ihnen blieben mehrere Stunden in der Gewalt der Palästinenser.
"Issa nahm nämlich an, dass die Israelis ganz oben wohnen würden", gab Ibrahim Badran, einer der überlebenden Attentäter, nach seiner Festnahme zu Protokoll. Als Issa seinen Fehler bemerkt habe, sei er zu den im Keller wartenden Komplizen zurückgekehrt. Badran: "Nun ging Tony ins Erdgeschoss hinauf und las dort die Namensschilder an den Türen. Bei seiner Rückkehr in den Keller sagte er, er habe sieben Namen gelesen, von denen er annehme, dass es sich um Israelis handle."
In der am 19. September 1972 veröffentlichten "Dokumentation der Bundesregierung und des Freistaats Bayern zum Überfall auf die israelische Olympiamannschaft" fehlt jeder Hinweis auf die Panne. Stattdessen ist auch dort von der "Präzision" die Rede, mit der die Attentäter "ihr Vorhaben ausgeführt" hätten.
Erst im April 1974 stellte die Münchner Kripo in ihrer "Analytischen Auswertung" des Terroranschlags fest: "Die Tatsache, dass die Terroristen bei dem Überfall zuerst ein Stockwerk zu hoch gingen, beweist, dass vor dem Angriff keine präzise Erkundung betrieben worden war. Außerdem war den Terroristen zunächst nicht bekannt, dass ein Teil der Mannschaft in einer anderen Wohnung untergebracht war." Doch davon erfuhr die Öffentlichkeit nichts.
Auch die Geiselnahme selbst lief schon zu Beginn aus dem Ruder. Denn Issa und seine Kumpane hatten keineswegs Nachschlüssel zum Apartment der Israelis, wie oft kolportiert wurde, sondern klingelten und klopften gegen 4.15 Uhr an der Tür. Dabei postierten sie sich so ungeschickt, dass Josef Gutfreund, der zaghaft öffnete, schon durch den Spalt die Waffen der Eindringlinge sehen konnte.
Der 1,95 Meter große, bullige Ringkampf-Schiedsrichter warf sich mit aller Kraft gegen die Tür. "Gleichzeitig hatte der Israeli irgendetwas geschrien, worauf ein zweiter kam und ihm beim Zuhalten der Tür half", wie Badran seinen Vernehmern erzählte. "Durch den Lärm waren auch unsere Kameraden aus dem Keller herausgekommen und versuchten, uns beim Aufdrücken der Tür zu helfen. Als es uns jetzt noch immer nicht gelang, die Tür zu öffnen, sagte Issa: 'Schießen!' Es war ein Befehl."
Ein Palästinenser feuerte durch den Spalt. Danach war die Tür frei, das Kommando stürmte die Unterkunft. Der Widerstand der Israelis war damit indes noch nicht gebrochen. Mosche Weinberg und Josef Romano versuchten später, den Terroristen die Waffen zu entreißen. Beide bezahlten dafür mit dem Leben.
Auf Gegenwehr zu stoßen, damit hatten offenbar weder die Kommandomitglieder noch ihre Hintermänner gerechnet. Es sei ihr Auftrag gewesen, "die israelischen Sportler zu entführen, und zwar ohne Blutvergießen", erklärte Safadi nach seiner Festnahme, "wir waren sicher, dass die Aktion gut verläuft".
Anführer Tony muss dies ähnlich gesehen haben. Beim Auschecken aus dem Hotel bedrängte er die Tochter des Hoteliers, ihm ihre Privatadresse zu geben. Er wolle ihr Weihnachten eine Karte schicken. Als Polizisten später das Reisegepäck der Terroristen filzten, fanden sie weitere Indizien für den Optimismus der Palästinenser: ein "rot-braun-grün kariertes Damenkleid mit zwei aufgesetzten Taschen und seitlichem Reißverschluss" - wohl als Mitbringsel gedacht - und einen "Prospekt für Ferienreisen in Spanien".
Die Kommandoebene des Schwarzen September teilte offenbar die Illusionen ihrer Kämpfer. Schließlich hatte Abu Ijad alles in die Wege geleitet, um den sicher geglaubten Erfolg in Wien auf einer Pressekonferenz zu feiern. Der Neonazi Willi Pohl, der Abu Daud, den Drahtzieher des Anschlags, im Sommer quer durch Deutschland chauffiert hatte, sollte in der österreichischen Hauptstadt gemeinsam mit einem ehemaligen Gups-Funktionär und PLO-Geheimdienstmann um Verständnis für die Aktion werben.
"Ende August, Wochen nachdem ich im Nahen Osten abgetaucht war, wollte Abu Ijad von mir wissen, wie Westdeutschlands Bevölkerung auf eine spektakuläre Operation in ihrem Land reagieren würde", erinnert sich Pohl, der sich vor Jahrzehnten vom Terrorismus losgesagt hat und seitdem unter anderem Namen als Krimi-Autor arbeitet.
"Als ich fragte, ob sich die Aktion gegen Deutsche richten solle, schüttelte Abu Ijad den Kopf. Nimm an, ein Kommando besetzt ein Gebäude, in dem sich 20 Israelis befinden. Nimm weiter an, mit dieser Aktion sollen ungefähr 200 in Israel einsitzende Fedajin befreit werden. Und gehen wir davon aus, dass kein Blut fließen wird. Kann man dann damit rechnen, dass die westdeutsche Bevölkerung die Operation verstehen wird?"
Doch nun war Blut geflossen, gleich zu Beginn der Geiselnahme. Der Plan der Palästinenser, 200 Fedajin freizupressen und den Erfolg propagandistisch auszuschlachten, war früh gescheitert.
Der Dilettantismus der deutschen Behörden stand dem des Kommandos in nichts nach. Ab 8 Uhr morgens saßen der bayerische Innenminister Bruno Merk, Bundesinnenminister Genscher und Polizeichef Schreiber zusammen und dachten über "Schritte für eine gewaltlose Befreiung der Geiseln" nach.
So steht es in der offiziellen Darstellung der Bundesregierung. Tatsächlich war konzentriertes Arbeiten im Krisenstab jedoch kaum möglich, wie aus handschriftlichen Aufzeichnungen Merks im Bayerischen Hauptstaatsarchiv hervorgeht: Mehrfach musste die Einsatzleitung umziehen, weil zu viele Personen in "die bereits verstopften Zimmer" des Verwaltungsgebäudes drängten.
Auch das Büro von Walther Tröger, dem Bürgermeister des Olympischen Dorfes, in das der Krisenstab zwischenzeitlich wechselte, habe bald schon "einem Bienenkorb" geglichen, schrieb Merk. Der Polizeipsychologe Sieber erinnert sich ähnlich: "Das war alles völlig unkoordiniert. Jeder machte irgendetwas." Offenbar gab es nicht mal einen Alarmplan, der in nichtterroristischen Krisensituationen geregelt hätte, wer wann für was zuständig war.
Schon früh war Sieber aufgefallen, dass sich ein Fernsehteam auf einem Gebäude gegenüber der Connollystraße 31 postierte. Eines jener Teams, deren Bilder später live übertragen wurden und so auch die Terroristen informierten, dass Polizeieinheiten rund um das Gebäude eine Befreiungsaktion vorbereiteten.
Sieber: "Da bin ich zu Schreiber und habe gesagt, das mit dem Fernsehteam gehe gar nicht. Das müssen wir unterbinden. Dann kam Schreibers Referent auf mich zu und sagte: 'Herr Sieber, ich glaube, das hier ist nichts für Psychologen. Herr Dr. Schreiber bittet Sie, sofort den Raum zu verlassen.'"
Um 11.15 Uhr meldete der israelische Botschafter, seine Regierung lehne eine Freilassung palästinensischer Gefangener kategorisch ab. Zu diesem Zeitpunkt war bereits das erste von den Terroristen gesetzte Ultimatum verstrichen, ohne dass - wie angedroht - weitere Geiseln erschossen worden waren.
Mehrfach rief Issa vom israelischen Mannschaftsquartier aus Anschlüsse in Libyen und im Libanon an, um hohe PLO-Funktionäre ans Telefon zu bekommen; offenbar wollte er sich Rat holen und weitere Schritte abstimmen.
Gegen 13 Uhr bot Genscher sich selbst, seinen bayerischen Kollegen Merk und Polizeichef Schreiber als Austauschgeiseln an. Kommandoführer Issa verlängerte das dritte von insgesamt sechs Ultimaten, wählte die Nummer 27 62 77 in Tunis und fragte nach Major Talal.
Der Mann am anderen Ende der Leitung hieß zwar Talal, kannte aber keinen Major und beschied den Anrufer, er sei wohl falsch verbunden. Wie der Verfassungsschutz später in Erfahrung brachte, wollte Issa offenbar Talal al-Mutlak sprechen, einen hochrangigen Kommandeur der Fatah.
In den Memoiren des PLO-Geheimdienstchefs Abu Ijad erwächst aus dem ergebnislosen Tunis-Telefonat eine Schlüsselszene des Olympia-Anschlags. Genschers Angebot sei vielversprechend gewesen und habe allen Beteiligten den Vorteil geboten, ihr Gesicht zu wahren.
"Unglücklicherweise" sei jener Kommandeur, den Issa sprechen wollte, wegen Visaproblemen am Flughafen festgehalten worden. Später habe Major Talal ihm erzählt, er hätte den vorgeschlagenen Deal "ohne Zögern als ehrenvollen Ausweg aus der Sackgasse akzeptiert". Klingt plausibel, ist aber ebenso wahrscheinlich Propaganda wie Ijads Ausführungen über Issas angeblich so präzises Auskundschaften des Olympischen Dorfes.
Denn nicht nur in Tunis geriet der Mann mit dem weißen Hut an die Falschen. Im Fatah-Büro der libyschen Hauptstadt Tripolis fand Issa keinen Ansprechpartner, ebenso wenig in Beirut und auch nicht im hessischen Langen. Dort wollte er Abdallah Frangi erreichen, den damaligen Gups-Funktionär und späteren PLO-Vertreter in der Bundesrepublik.
Und Issa war nicht der Einzige, der an diesem Tag versuchte, Hilfe von der PLO-Führung zu bekommen. In Wien wartete Willi Pohl auf ein Signal für die Pressekonferenz. Welche Aktion er dort überhaupt erläutern sollte, so Pohl, sei ihm erst klargeworden, als er gegen Mittag die Kärntner Straße entlangschlenderte.
"Vor einem Fernsehgeschäft standen jede Menge Leute. Als ich denen über die Schultern schaute, sah ich diesen Issa auf dem Balkon und hörte, wie der österreichische Reporter mit einer geradezu hysterischen Stimme von diesem Anschlag berichtete. Da habe ich schlagartig begriffen, was los war."
Die von Geheimdienstboss Abu Ijad geplante Pressekonferenz war durch die Morde in München obsolet geworden. Pohl rannte in sein Hotel und telefonierte alle Nummern ab, die er vom PLO-Geheimdienst für Notfälle wie diesen erhalten hatte: "Da hob jemand ab und sagte: 'Es gibt hier niemanden mit diesem Namen. Rufen Sie bitte nicht wieder an!' Bei der anderen Nummer genau das Gleiche. Es war eine Frau dran: 'Nein, die Nummer stimmt nicht, da müssen Sie sich irren.' Ich bekam keinen Kontakt; nicht in Beirut, nicht in Tunis."
Allem Anschein nach wollten die Kader des Schwarzen September und der Fatah mit der verunglückten Operation nichts mehr zu tun haben. Das Fußvolk des Terrors war nun auf sich allein gestellt.
Das muss auch den Anführern des Münchner Kommandos klargeworden sein. Kurz vor 17 Uhr forderten sie plötzlich, mit ihren Geiseln ausgeflogen zu werden. Wenig später durften Genscher und zwei Begleiter das Quartier der Israelis betreten, um die Geiseln zu fragen, ob sie einer Ausreise nach Ägypten zustimmten.
"In erkennbarer Todesangst", wie es in einem Papier der Münchner Staatsanwaltschaft heißt, "bestätigten es die Geiseln als ihren Wunsch, nach Kairo ausgeflogen zu werden, mit der Begründung, dass sie keine große Hoffnung hätten, aus der gegenwärtigen Situation unverletzt befreit werden zu können." Was weder Genscher noch die Geiseln zu diesem Zeitpunkt wussten: Issas Forderung war eine aus der Verzweiflung geborene Idee, ohne Vorbereitung und ohne Chance auf Verwirklichung. Der ägyptische Premierminister ließ Bundeskanzler Brandt später am Telefon wissen, sein Land wolle "in die ganze Angelegenheit nicht verwickelt werden".
Die deutschen Krisenmanager ließen Geiselnehmer und Geiseln dennoch in dem Glauben, sie würden nach Ägypten ausgeflogen - und bereiteten derweil eine Befreiungsaktion auf dem Militärflughafen Fürstenfeldbruck vor.
Fast scheint es, als habe Issa dies gespürt. Eine Kriminalhauptmeisterin, die den ganzen Tag lang wiederholt mit dem Palästinenser verhandelt hatte, letztmalig gegen 19 Uhr, gab der Staatsanwaltschaft zu Protokoll: "Er sagte zu mir, dass er den Leuten nicht so richtig traue und dass sie möglicherweise mit ihm spielen. Er war so pessimistisch, dass er mit mir eine Wette eingehen wollte. Und zwar sagte er, sein Leben gegen 20 Mark, wenn heute nicht doch noch etwas passieren würde. Ich versuchte, ihn immer wieder zu beruhigen, und erklärte ihm, dass ein Minister mit Sicherheit sein Wort halten und alles in Ordnung gehen würde."
Doch es lief alles schief. Der Versuch, die Geiseln gewaltsam zu befreien, endete in einer Katastrophe.
Mit zwei Hubschraubern waren Geiselnehmer und Geiseln nach Fürstenfeldbruck geflogen. Dort wartete eine Lufthansa-Maschine, angeblich startbereit für den Trip nach Kairo. Schreiber wollte die Attentäter in das Flugzeug locken, als Besatzungsmitglieder verkleidete Polizisten sollten die Palästinenser dann überwältigen. Doch kurz bevor es losgehen sollte, bekamen die Einsatzkräfte Angst. Sie baten um Erlaubnis, abhauen zu dürfen - und erhielten sie auch. Als Issa und Tony die Lufthansa-Maschine inspizierten, fanden sie diese leer vor.
Die beiden Kommandoführer liefen über die Rollbahn zu den rund einhundert Meter entfernt parkenden Hubschraubern, wo sich ihre Komplizen mit den Geiseln befanden. In diesem Augenblick eröffneten Scharfschützen das Feuer.
Fast zweieinhalb Stunden dauerte das Gefecht. Am Ende waren alle neun Geiseln, fünf Terroristen und ein Polizist tot.
Mehrmals wurde behauptet, ein Grund des Fiaskos sei gewesen, dass man die Zahl der Terroristen unterschätzt habe. Die Einsatzleitung sei von fünf Palästinensern ausgegangen und habe deshalb nur fünf Scharfschützen postiert, die schließlich acht Geiselnehmern gegenübergestanden hätten.
In den jetzt freigegebenen Akten liest sich das anders: Der Einsatzleiter habe angenommen, so die Staatsanwaltschaft, dass sich die Terroristen "höchstens zu viert" zeigen würden, weshalb er die Zahl der Schützen habe "überschaubar" halten wollen. Eine ähnliche Argumentation findet sich in den handschriftlichen Aufzeichnungen des bayerischen Innenministers Merk: "Zahl der Scharfschützen: Nicht zuviele! Keine Steuerung mehr!"
Doch die Vorstellung, weniger Schützen seien leichter zu koordinieren, war nicht nur Unsinn, sondern verstieß auch gegen damals geltende Polizeistandards. Denen zufolge hätten je zwei Scharfschützen für ein Ziel zur Verfügung stehen müssen. 16 Schützen für 8 Terroristen.
Die standen - zumindest theoretisch - auch bereit: Doch neun Scharfschützen waren, so die Staatsanwaltschaft, im Olympischen Dorf geblieben. Zwei weitere Beamte, "die als Scharfschützen ausgebildet" waren, hatten "weder ihre FN-Gewehre noch die Zielfernrohre dabei", wie Polizeihauptmeister B. wenige Stunden vor der missglückten Befreiungsaktion in einer "Aktennotiz" mit Durchschlag festhielt.
Als das Palästinenserkommando mit seinen Geiseln gegen 22.35 Uhr in zwei Hubschraubern des Bundesgrenzschutzes in Fürstenfeldbruck landete, war die Katastrophe programmiert. In einem Papier aus dem Februar 1973 hält die Münchner Staatsanwaltschaft fest, zum Zeitpunkt des Feuerbefehls hätten sich "sechs der acht Terroristen außerhalb der Hubschrauber" befunden - einer mehr als Scharfschützen im Einsatz waren.
Vier Monate zuvor hatten die Autoren der offiziellen Regierungsdokumentation noch behauptet, nur vier der acht Palästinenser seien im Schussfeld der Polizei gewesen. "Bei der Präzision, mit der die Attentäter bis dahin ihr Vorhaben ausgeführt hatten, hätte nicht die geringste Chance bestanden, dass sich diese Zahl noch erhöhen würde." Daher sei der Zeitpunkt der Feuereröffnung "der einzig richtige und mögliche" gewesen.
Es war der falsche.
Die Polizei hatte zwei Palästinenser schlicht übersehen. Einer war der Schmalspur-Guerillero Mohammed al-Safadi. Er hatte in dieser Nacht seine Feuertaufe - und wurde zum Mörder. Während die Scharfschützen und seine Komplizen sich einen erbitterten Schusswechsel lieferten, feuerte er mit seiner Kalaschnikow auf fünf Geiseln, die gefesselt in einem der Hubschrauber saßen. Kugel um Kugel, bis sich keiner mehr rührte.
Das Schweige-Kartell
Zwei Tage später, am 7. September, einen Tag nach der Trauerfeier für die Opfer, traf sich das Bundeskabinett zu einer Sondersitzung. Auf dem Tisch lag eine Sammlung von Vorschlägen aus Ministerien und anderen Behörden über "kurzfristige und längerfristige Maßnahmen" zur Bekämpfung des Terrorismus.
Ein Vertreter des Bundespresseamts warnte darin unter anderem "vor dem allgemein gehaltenen Begriff 'die Araber'", man müsse da differenzieren. Außerdem regte er an, die Familien der Ermordeten zu unterstützen. Eine Möglichkeit sei dabei die Gründung einer Stiftung, eben "positive Maßnahmen, die vor der Öffentlichkeit 'verkauft' werden können". Ein Vertreter des Auswärtigen Amts gab schließlich jene Linie vor, die fortan die Maxime der Regierungen in Bonn und München sein sollte: "Gegenseitige Beschuldigungen müssen vermieden werden. Auch keine Selbstkritik."
Innenminister Genscher wahrte Kabinettsdisziplin. Am 19. September 1972 schrieb er an "Herrn Abteilungsleiter ÖS (Öffentliche Sicherheit -Red.) im Hause" einen Brief: "Die Olympischen Spiele sind zu Ende. Trotz der tragischen Ereignisse vom 5. September bleibt die Gewissheit, dass unsere gemeinsamen Anstrengungen für die Völkerverständigung nicht umsonst gewesen sind. Dieser Erfolg ist nicht zuletzt den Bediensteten Ihrer Abteilung zu verdanken, die durch ihren tatkräftigen Einsatz zu dem Gelingen der Spiele beigetragen haben."
Auch die bayerische Polizei schritt kurz vor Ende der Spiele noch einmal entschlossen zur Tat: Ein Kriminaloberkommissar erschien im Hause des Polizeipsychologen Sieber und beschlagnahmte dessen 26 Krisenszenarien.
Als das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz nach dem Material fragte, brauchte Kriminalamtsrat Hörtreiter geschlagene zwei Wochen, ehe er "I. A." - im Auftrag - antwortete: "Es ist zwar richtig, dass von Herrn Sieber im Rahmen der Vorbereitungsseminare und Besprechungen Thesen und Hypothesen verschiedenster Art aufgezeigt worden sind und mit den Beteiligten auch besprochen wurden. Schriftliche Unterlagen darüber sind jedoch beim Polizeipräsidium München nicht vorhanden." Sie sind bis heute unauffindbar.
Am 25. September übergaben Genscher und sein Kollege Merk dem Bundespräsidenten Gustav Heinemann die offizielle Dokumentation beider Regierungen zum Terroranschlag von München. Im Licht der jetzt zugänglichen Akten eine Sammlung von Halbwahrheiten, Beschönigungen und Desinformationen, mit der das wahre Ausmaß des Versagens der Deutschen vertuscht wurde.
Doch Heinemann hatte gute Nachrichten für seine Gäste. Er hätte "auch ohne gesetzliche Grundlage" eine eigene Untersuchungskommission einsetzen können. "Das Thema sei aber erledigt", wie in einem Vermerk aus dem persönlichen Büro des Bundespräsidenten zu lesen ist.
Merk ging auf seine Art in die Offensive: Er beschwerte sich über die Kritik am Polizeieinsatz, die er als "teilweise ungerecht" empfand. Die Bevölkerung "sei durch James-Bond-Filme daran gewöhnt, dass 'unfehlbare' Polizisten mit den schwierigsten Situationen leicht fertig würden". Dass gegen Polizeipräsident Schreiber und seinen Einsatzleiter ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung anhängig war, ließen Merk und Genscher unerwähnt. Auch in der Dokumentation fand sich dazu keine Zeile.
Erstaunliche zwei Seiten aber war den Autoren die angebliche Mitverantwortung der Israelis für den Tod ihrer Sportler wert. Kern der Argumentation: Das deutsche Sicherheitskonzept sei den Israelis bis ins Detail vorgestellt worden. Einwände, gleich welcher Art, habe es nicht gegeben. Das ist nur bedingt richtig. Delegationschef Schmuel Lalkin hatte nach einer Visite, wenige Wochen vor den Spielen, Sicherheitsbedenken geäußert - gegenüber israelischen Behörden.
Doch beim Inlandsgeheimdienst Schabak fühlte sich niemand zuständig. Die für Sport verantwortlichen Beamten des Erziehungsministeriums reichten die Angelegenheit an das Außenministerium weiter, das den Sicherheitsbeauftragten der israelischen Botschaft in Bonn in die Olympiastadt schickte.
Als der Diplomat im August in München mit der Polizei die für die israelischen Sportler vorgesehenen Unterkünfte inspizierte, vermittelten ihm die Deutschen offenbar den Eindruck, das Olympische Dorf werde während der Spiele hermetisch abgeriegelt. So meldete es der Botschaftsmann weiter.
Die Ermittlungen gegen Polizeichef Schreiber und seinen Einsatzleiter endeten mit einer Einstellungsverfügung. Am 5. Februar 1973 schrieb Oberstaatsanwalt Otto Heindl, die Beschuldigten seien für den Tod von 17 Menschen nicht "in strafrechtlich vorwerfbarer Weise verantwortlich". Auch "die Polizei eines anderen Staates" hätte "den durch die Terroristen unmittelbar bedrohten Geiseln kein größeres Maß an Sicherheit gewährleisten können als die deutsche Polizei".
(*) Münchens Polizeichef Manfred Schreiber (2. v. l.), Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher (3. v. l.), bayerischer Innenminister Bruno Merk (2. v. r.), 1972.
Von Felix Bohr, Axel Frohn, Gunther Latsch, Conny Neumann und Klaus Wiegrefe

DER SPIEGEL 30/2012
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