Bin ich ein schlechter Mensch, wenn ich meine Eltern nicht pflegen will? Eine Philosophin sagt: Nein, nicht unbedingt. Und erklärt, welche Pflichten Kinder haben.
ZEIT Campus ONLINE: Frau Bleisch, wenn mein Vater morgen durch einen Unfall plötzlich pflegebedürftig oder meine Mutter schwer krank würde – muss ich mich dann um sie kümmern?
Barbara Bleisch: Auf jeden Fall nicht, weil sie deren Sohn oder Tochter sind. Kinder müssen ihren Eltern nichts zurückgeben, weil diese sie aufgezogen haben oder ihnen das Leben geschenkt haben. Diese Sichtweise hat zwar eine lange philosophische Tradition. Mich überzeugt sie aber nicht.
ZEIT Campus ONLINE: Was ist Ihre Sicht?
Bleisch: Kind zu sein ist keine Erbschuld, mit der wir auf die Welt kommen und die wir gegenüber den Eltern begleichen müssten. Allein weil sich die Eltern um ihr Kind gekümmert haben, als es klein war, muss das Kind sich im Alter nicht um seine Eltern kümmern.
ZEIT Campus ONLINE: Wieso?
Bleisch: Das Kind konnte in diese Fürsorge und selbst ins Leben nicht einwilligen. Und Eltern zu sein, heißt nun einmal, sich um sein Kind auch zu kümmern. Allein dafür, dass andere ihrer Pflicht nachkommen, müssen wir ihnen nichts zurückgeben oder dankbar sein. Viele Kinder empfinden dennoch Dankbarkeit, weil ihre Eltern etwa besonders liebevoll waren. Daran ist nichts falsch, im Gegenteil! Aber es ist nicht Ausdruck einer Pflicht, sondern Ausdruck einer gelungenen Beziehung.
ZEIT Campus ONLINE: Müssen wir uns also gar nicht um unsere Eltern kümmern?
Bleisch: Natürlich sollten Sie dies tun – aber eben nicht, weil Sie das Kind Ihrer Eltern sind. Dann müssten sich selbst Kinder, die von ihren Eltern gequält oder vernachlässigt wurden, sich lebenslang um ihre Eltern bemühen, und das scheint mir eine falsche Vorstellung. Ihre ganz persönliche Beziehung zu Ihren Eltern kann Ihnen aber sehr wohl ganz viele Gründe geben, sich um sie zu kümmern, genauso wie Freunde Grund haben, einander zur Seite zu stehen. Wobei die Familienbande ein anderes Verhältnis ist als eine Freundschaft.
ZEIT Campus ONLINE: Inwiefern?
Bleisch:
Anders
als Freunde können wir uns unsere Eltern nicht aussuchen, und wir können die
Beziehung auch nicht aufkündigen oder versanden lassen. Diese Beziehung ist
unfreiwillig, unkündbar und exklusiv. Es gibt Ex-Männer, aber es gibt keine
Ex-Eltern. Diese ganz spezielle Verwobenheit in der Kernfamilie macht alle
Beteiligten auch speziell verletzlich.
ZEIT Campus ONLINE: Wann ist man eine Rabentochter oder ein Rabensohn?
Bleisch: Rabentöchter und Rabensöhne gehen achtlos mit dieser Verletzlichkeit um. Sie negieren, dass man sich in Familien besonders wehtun kann – weil man beispielsweise so viel übereinander weiß, weil man eine ganz besondere Stellung im Leben des anderen besetzt. Es ist verständlich, dass sich viele Eltern wünschen, in regem Austausch mit ihren erwachsenen Kindern zu stehen. Kinder sollten ihren Eltern signalisieren, dass sie dieses Bedürfnis respektieren. Sie müssen deswegen aber nicht ihre eigenen Pläne und Ziele gänzlich aufgeben. Denn Kinder haben ein Recht darauf, ihr eigenes Leben zu leben.
Kommentare
Jeder muss selbst mit sich vereinbaren können, ob er die Menschen, die ihm im Regelfall alles ermöglicht haben, pflegt oder nicht.
Nicht alle Eltern haben gut für ihre Kinder gesorgt. Allein daher sollte es schon keine Verpflichtung geben.
Obwohl ich zur älteren Generation gehöre und drei leibliche Kinder habe, ich möchte denen keine Pflicht bezüglich einer kommenden Pflege aufbürden. Es war meine Entscheidung, die in die Welt zu setzen und nicht deren, geboren zu werden. Auf der anderen Seite, werde ich auch mein Eigentum so lange wie möglich verwalten und habe eine Vorsorgeverfügung für eine Person außerhalb der Familie.
Sehr schöner Kommentar. Ich denke, dass insbesondere viele heutige Helikopteltern, die ihre Kinder allein zur Kompensation persönlicher Probleme auf die Welt gebracht haben, fest davon ausgehen, dass die lieben Kleinen sie später pflegen werden.
Ja, ich fände es auch sehr schön und respektvoll, wenn sich die Kinder um ihre Eltern im Alter kümmern. Dafür muss man sie aber zuerst als eigene Persönlichkeiten sehen und wie Sie ganz richtig anmerken "Es war meine Entscheidung, die in die Welt zu setzen und nicht deren, geboren zu werden. "
Mag sein, dass das die moralische Sichtweise ist. Juristisch müssen Kinder aber sehr wohl für die Pflegekosten ihrer Eltern umkommen, unter bestimmten Voraussetzungen zumindest.
Korrekt und merkwürdig, dass das keinerlei Erwähnung findet, bloss weil es philosophisch vllt. nicht begründbar ist.
Auch die moralische Argumentation ist mir etwas zu pomadig. Als wenn es wirklich ernsthaften Bedarf gäbe, sich erklären zu lassen, was man seinen Eltern gegenüber fühlen darf oder auch nicht.
Und wieder wird etwas Eigenverantwortung an die "Gemeinschaft" abgeschoben!
Ist halt superbequem!
Wozu Pflegeversicherung, wenn nicht gepflegt werden soll?