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Rezension – Michael Bakunin: Ausgewählte Schriften. Band 1 und 2

Michael Bakunin: Ausgewählte Schriften. Hrsg. von Wolfgang Eckhardt. Band 1: Gott und der Staat (1871). Einleitung Paul Avrich. Band 2: »Barrikadenwetter« und »Revolutionshimmel« (1849). Artikel in der ›Dresdner Zeitung‹. Einleitung Boris Nikolaevskij. Karin Kramer Verlag, Berlin 1995.

Rezensent: André Fischer

Erschienen in: Anares Info, Nr. 51, 1997.

 

Band 1: Gott und der StaatBand 2: »Barrikadenwetter« und »Revolutionshimmel«

Statt einer Buchbesprechung

Interviewer: Michael, welche Einschätzungen hast Du zur Gegenwart und Zukunft des Anarchismus?

Bakunin: Zunächst finde ich Deine Idee, mich anläßlich einer Buchbesprechung auferstehen zu lassen, vollkommen religiös. Weil das aber auf ein Aufleben des Anarchismus hindeuten könnte, werde ich Stellung beziehen.

I.: Der Herausgeber Deiner neuen Werkausgabe »Ausgewählte Schriften in zwölf Bänden« weist in seiner Vorbemerkung zu Band 1 auf die Gefahr hin, daß »nach dem Zusammenbruch der parteikommunistischen Herrschaftssysteme in Osteuropa heute sämtliche Ideen und Vorstellungen, die einen emanzipatorischen Gesellschaftsentwurf beinhalten, gleichermaßen hinfällig erscheinen«.

B.: Daran könnt Ihr sehen, welche Illusionen die sogenannte Westlinke hat oder was sie war. Abgesehen davon gärte vor dem Crash im Osten im Westen selbst eine Krise, nur weniger augenscheinlich, weil Ihr so viele Pseudofreiheiten habt. Ihr denkt wie Euer Fernsehen. Dort seht Ihr nur, wie die anderen leben, lieben, streben, leiden, hungern und bemerkt nicht, daß Eure eigene »Freiheit« gar keine ist, auch wenn Ihr genug zu essen habt. Euer Lebenshunger ist zugeschüttet.

I.: Im ersten Band schreibst Du auf S. 40 in bezug auf Religion, daß »es keinen Sinn macht, sich das Unsinnige zu erklären«. Läßt sich dieser Aphorismus auf Herrschaft überhaupt ausdehnen?

B.: Ja, Herrschaft von Menschen über Menschen erklären zu wollen, egal welche Ursache sie haben mag, bedeutet, die eigene Haltung und Einstellung zu überspringen. Ich kann nicht vernünftig erklären, was nicht vernünftig ist, ohne selbst unvernünftig zu werden. Da hilft auch kein Ausweichen auf psychologische Erklärungen und, wenn die nicht hinreichen, soziologische usw.

Ich bin nach wie vor Materialist, darunter verstehe ich Wirklichkeitsbeschreibung. Dazu gehören sowohl das Aufdecken von ökonomischen Interessen, die hinter manchem Ideal stecken, als auch die lebendigen Wünsche und Bedürfnisse, die sich von Idealen nicht immer trennen lassen.

I.: Bakunin und die Wissenschaft. Auf S. 85 schreibst Du, ich zitiere: »Die Wissenschaft ist der Kompaß des Lebens, aber sie ist nicht das Leben«.

B.: Horkheimer, Adorno schreiben in der »Dialektik der Aufklärung« vergleichsweise zum Thema: »Klassifikation ist Bedingung von Erkenntnis, nicht sie selbst, und Erkenntnis löst die Klassifikation wiederum auf.«

Alle, die gegen die Barbarei und für die Freiheit etwas tun können, also auch die Wissenschaftler, kommen gelegentlich zu Ergebnissen, die der anarchistischen Kritik zum Verwechseln ähnlich sind. Das beschert uns eine gewisse Genugtuung, ich möchte nur an Paul Feyerabend erinnern: Für eine anarchistische Erkenntnistheorie.

I.: Trotz Deiner Herrschaftskritik hast Du einen differenzierten Autoritätsbegriff. Auf S. 59 f. schreibst Du ...

B.: ... auch hier kann ich einen Vergleich zur modernen Soziologie ziehen. Die Soziologen unterscheiden Funktionsautorität, das sind nur Chefs, charismatische Autorität, die gibts in allen Farben, und Fachautorität, die, die was können.

I.: Auf S. 92 psychologisierst Du darüber, daß die perfideste Herrschaftsstrategie nicht darüber hinwegtäuschen kann, daß die Menschen selbst so etwas wie eine freiwillige Unterwerfung praktizieren. In Band 2, S. 112, wirst Du von dem menschewistischen Historiker Nikolaevskij zitiert, der die Einleitung verfaßt hat: Sinngemäß beschreibst Du die Abreaktion aus dem »dumpfgrollenden Unwillen der Betrogenen, aus der Raserei und Fanatismus entstehen kann«.

B.: Das steht für sich. Mein Zeitgenosse Max Stirner hat diese Fragen ausführlich erhellt, tiefer noch als Etienne de la Boëtie.

Ich bleibe aber Kollektivist. Beim Individualist Stirner liegt Verständnis und Mißverständnis von Freiheit und Willkür manchmal zu nahe beieinander, die Wirklichkeit ist eine Gemengelage; es ist besser, sich viel mit anderen auszutauschen, um nicht zu verstiegene Theorien aufzustellen. Wichtig ist natürlich, daß diejenigen, mit denen ich mich austausche, selbst Individuen sind.

I.: Die technische Entwicklung hat unser Leben stark verändert. Ist der Anarchismus überholt?

B.: Ob Faustkeil oder Computer, entscheidend ist, ob Technik für Herrschaft oder für Freiheit benutzt wird. Technik allein sagt gar nichts.

I.: Früher gab es kein fließendes Wasser in den Wohnungen, so daß man immer gezwungen war, zum Brünnlein vor dem Tore zu laufen, auch wenn es dort manch schöne Begegnung gab. Ist es da heute nicht vorteilhafter, daß das Wasser in meiner Wohnung fließt und habe ich dadurch nicht mehr Zeit für anderes?

B.: Hast Du mehr Zeit?

I.: ... ähm ...

B.: Du hast mehr Zeit für andere Pflichten. Vor dem Hintergrund des aufgezwungenen Tausches hast Du ein Privileg eingeheimst, indem Du Dich qualifizierter unterwerfen kannst.

Weil nicht nur sinnige Bedürfnisse befriedigt werden, sondern auch ein Haufen Schnickschnack und Flitterkram, der Gift und Gefahr erzeugt, bleibt neben dem »Wozu Technik?« die Frage: »Wem nutzts?« Sie bezieht sich auf die Politik hinter der Technik und nicht allein auf Technik.

I.: Sind die Anarchisten prüde Verzichtler, am Ende die besseren Menschen?

B.: Wer einsieht, daß man seinen persönlichen Lebensweg nur sehr selten von der Gesellschaft, in der man lebt, abtrennen kann, wird keinen Hehl daraus machen, ein freieres Leben zu wollen. Meine persönliche Freiheit wächst je freier die Gesellschaft wird und umgekehrt.

Wer aber glaubt, daß man sein Leben von der Gesellschaft separieren kann, wird von den Monstern der Unfreiheit eingeholt, auch wenn mans nicht wahrhaben will.

I.: Hast Du dem Teufel ins Auge gesehen?

B.: Der Teufel ist ein aufrührerischer Mythos wie Prometheus, der den Göttern das Feuer stahl. Die Schöpfer der Mythen haben in weiser Voraussicht die falsche Opposition gleich mitgeliefert.

I.: Ich dachte, ich krieg jetzt eine schöne Satire von Marx in der Hölle, von den Produktivkräften der Höllenmaschinerie ...

B.: Pech gehabt.

I.: Im zweiten Band gehts um Deine Zeit in Dresden, Deine Beteiligung am Dresdener Maiaufstand im Jahre 1849. Wie ist Dein Verhältnis zur Gewalt?

B.: In seinem umfassenden Anmerkungsapparat, der noch nicht so umfangreich ist wie ein Buch, aber so lesenswert, zitiert mich der Herausgeber Eckhardt zum Thema Gewalt aus der »Beichte«: »Die sächsischen wie die preußischen Soldaten machten sich ein Vergnügen daraus, auf unschuldige, aus den Fenstern heraussehende Frauen zu schießen, und niemand war darüber erstaunt. Als aber die sächsischen Demokraten zu ihrer eigenen Verteidigung ein Haus anzündeten, schrien alle über Barbarei.« Da soll sich jeder selbst einen Reim drauf machen und mit heute vergleichen.

Für die gegenwärtigen Verhältnisse wäre die gewaltige Stärke einer angenommenen sozialen Bewegung ihre schiere Zahl und die breite Verankerung in der Gesellschaft, vielleicht so wie es uns die mexikanischen Zapatisten vorführen, die sich mit der Parole des Anarchisten Magón erhoben haben.

I.: Wie findest Du die Einleitung Nikolaevskijs über Dich in Band 2?

B.: Als Einleitung zu lang, das ist ja fast der ganze 2. Band, aber inhaltlich gut. Da, wo er schwach ist, wird er von den neuesten Forschungen der Berliner Bakunin-Arbeitsgemeinschaft durch die Feder Eckhardts korrigiert.

I.: In welcher Zeitung würdest Du heute wirken?

B.: Im allgemeinen habe ich meine Aktivitäten auf die Situation abgestimmt, das würde bedeuten mal da mal dort, das kommt darauf an.

I.: Du sprichst oft von »ehrenwerten Männern«. Warum läßt Du die Frauen aus?

B.: Ehrenwert war die Sprache der Zeit, heute würde man vielleicht »cool« sagen.

I.: Nein, ich glaube das bezeichnet etwas anderes, so ungefähr wie »nicht berührt«.

B.: Es geht um Menschen, die ihre Grundsätze nicht verraten können, weil sie sie fühlen. Was die Frauen angeht, auch sie sind mittlerweile zahlreicher als zu meiner Zeit aus dem Schatten ihrer Rolle herausgetreten. Was aber heute manche Frauen unter Emanzipation verstehen, ist eine Karikatur. Schon die ehrenwerte Emma Goldman hat aufgezeigt, wie jene Irrtümer dem eigentlichen Anliegen schaden.

I.: Du und die freie Liebe?

B.: Die besitzanzeigenden Fürworte »mein, dein, sein« schmecken mir nicht, wollte man mit ihnen nicht nur in meiner Biographie das Liebesleben charakterisieren. Die oft gewünschte emotionale Sicherheit, die von ökonomischen Motiven durchdrungen und getrennt ist, gibt es übrigens nie oder nur solange, wie ein ehrenwerter Mann und eine ehrenwerte Frau sich eben lieben.

I.: Zu welchen Fragen haben die Anarchisten heute viel zu sagen?

B.: Dazu, daß das Bestehende gewollt ist und daß man sich nicht mit Reden um den heißen Brei davon stehlen kann.

I.: Bürger Bakunin, ich danke Dir für dieses Gespräch ... ah, noch eins, wo hältst Du Dich auf?

B.: An den Orten der Erinnerung zwischen den Zeiten.

André Fischer

 

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