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DIE WELT

Annika Walter im Blindflug ins neue Lebensgefühl

| Lesedauer: 4 Minuten
Rostocker Turmspringerin beendet ihre Karriere

Es ist furchtbar schwül im Foyer des Prefectural Pools in Fukuoka. Schweiß läuft in Rinnsalen den Rücken hinab und macht das Hemd allmählich transparent. Ein Häuflein deutscher Journalisten wartet beharrlich auf Annika Walter. "Wenn die sich nicht ausgezogen hätte, würden wir nie im Leben hier stehen", behauptet ein Kollege. Und wenn man ehrlich ist, hat er wohl recht. Annika Walter kommt. Sie trägt kurze Hosen, Badelatschen, ein blaues Sweatshirt mit zu langen Ärmeln und eine Brille. Deren Gläser sind nicht ganz so dick wie ein Flaschenboden, aber auch nicht so schmal wie die Lupe eines Schweizer Taschenmessers. 2,75 Dioptrin - ohne die Brille verschwimmt die Welt um sie herum. Und das ist auch gut so. Denn die 26-Jährige muss jeden Tag auf den Zehn-Meter-Turm klettern und wieder runterspringen, hat aber Höhenangst. "Da krieg ich Fracksausen", sagt sie. Sie müsse schon "ziemlich betrunken sein", bevor sie sich überhaupt auf einen Balkon wage. In ihrem angestammten Metier hat die Rostockerin daher eine simple Vorkehrung getroffen: Sie springt stets ohne Brille. "Dann", sagt sie, "wird alles um mich herum ein verschwommener Farbrausch."

Einmal sei sie aus Neugierde mit Brille auf den Turm geklettert. Was sie da erstmals sah, "war furchtbar". Annika Walter kann jeden gut verstehen, der sich nicht da hinauf und - vor allem - nicht hinunter traut. "Ich sehe es nicht als Notwendigkeit an, von einem Zehn-Meter-Turm zu springen." Seit gestern weniger denn je. Bei der Weltmeisterschaft in Fukuoka tauchte sie in Japan zum letzten Mal aus zehn Meter Höhe ins Chlorwasser ein. Mit Platz sieben zog Annika Walter den Schlussstrich unter ihre internationale Laufbahn. Bei den Deutschen Meisterschaften im Winter macht sie noch mal mit. Das war's dann.

Erwähnenswerte Arbeitsnachweise datieren nur aus den Jahren 1996 und '97. Verdammt lang her. Eine Silbermedaille bei den Olympischen Spielen, ein weiterer zweiter Platz bei den Europameisterschaften in Sevilla. "Danach", erinnert sie sich, "hat mir ein bisschen die richtige Einstellung gefehlt." Das war im Jahr ihres größten Triumphes freilich anders. Der zweite Platz bei den Olympischen Spielen überraschte die Experten und vor allem sie selbst. Fortan durfte sie in Roger Willemsens gleichnamiger Plauschrunde einen Handstand auf dem Tisch machen oder branchenfremden Zeitschriften große Interviews geben. Der "Super-Illu" erzählte sie, dass sie sich im "Playboy" gegebenenfalls auch ohne Badeanzug zeigen würde. Eine Steilvorlage für das Magazin, das ja angeblich weiß, was Männern alles Spaß macht. Walter sagte zu und zog sich aus. "Eine Woche L. A. auf Kosten anderer Leute" fand sie "nicht schlecht - finanziell waren die Bilder ein Segen". Und so richtig nackt sei sie ja gar nicht gewesen, "ich hatte zwei Kilo Make-up drauf". Dass sie ihren Busen für den angestammten Fotografen von Pamela Anderson freilegen durfte, "hat mir geschmeichelt". Derartige Enthüllungen waren vor fünf Jahren noch eine Pioniertat. Seitdem war es den meisten gleichgültig, wie Annika Walter sprang. Die erotische Leibesübung hatte sie per se zur Vorspringerin der Nation gemacht, obwohl die Kolleginnen längst erfolgreicher vom Turm federten.

Die, so hat Walter geortet, hätten ihr das nie krumm genommen. "So eine Subprominenz ist ja immer personengebunden", sagt sie. Das klingt, als habe sie sich bereits eingehend mit ihrem Berühmtwerden befasst. Dass sich immer noch so viele für sie interessieren, wundert sie zwar. Aber warum das so sei, sagt sie, "wissen wahrscheinlich alle".

Ihr neuer Lebensabschnitt beginnt am 4. August. Dann wird sie mit ihrem Freund in Rostock das "Café Kiwi" eröffnen. Den Namen fanden beide ziemlich passend. Der Kiwi sei ein Vogel, der kaum fliegen kann "und halb blind ist - so wie wir", sagt Walter. Ihr Freund plagt sich mit acht Dioptrin herum. Annika Walter will keinen Sportler- oder Promitreff aus ihrem Laden machen. Deshalb werden dort auch keine Erinnerungsstücke an ihre Springerkarriere auftauchen. "Außerdem find ich mich nicht so wichtig, dass ich da mein Bild aufhängen muss." Zum Abschied sagt sie noch: "Wir sehen uns", nimmt die Brille ab und lacht: "Oder auch nicht."

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