Fixpoetry

Wir reden über Literatur
Anzeige
x
Kritik

Diese kalte fraktale Grammatik

Die Faszination einer Struktur, die so fein ist, als wäre sie lebendig, als hätte sie gehört von unserer Geometrie – aber die Fliehkraft in der kalten Luft, die das Wassertröpfchen zur Metamorphose zwingt, ist doch kein Organismus, die Teile wissen nicht voneinander. Schneeflocken mögen einander ähneln, sobald man etwas von Geometrie gehört hat, aber die eine erklärt nicht die andere. Das Faszinosum ist die Unähnlichkeit der Flocken, entgegen der Ruhe und Selbstähnlichkeit einer geschlossenen Schneedecke, so geschlossen in sich, dass sie alle unsere Sinne ins Wanken bringt. Es wäre zu einfach, die Individualität des Einzelnen und die Gemeinsamkeit des Verbunds als Metapher auf eine Anthologie umzulegen, selbst auf jene der Schneegedichte, die Ron Winkler im Verlagshaus Schöffling & Co. herausgegeben hat.

Aus den letzten gut hundert Jahren hat Winkler gut hundert Autoren versammelt und jene Rechnung beginnt, das ist eine der Qualitäten der Anthologie, wirklich in der unmittelbaren Gegenwart rückwärts zu gehen: Das Buch reicht in seiner Auswahl bis in das Jahr 2011 hinein. Es gibt wohl wenige Herausgeber, die wie Winkler einen solchen Überblick haben, dass selbst unter dem engen thematischen Kriterium eine solch stattliche Publikation entsteht. Versammelt ist in sieben Kapiteln und auf gut zweihundert Seiten alles, was Rang und Namen hat und gut und teuer ist. Je länger man liest, desto mehr erstaunt die Vielfalt der Funktionen und Ausdrucksqualitäten, die alle durch die Nennung des Schnees erzielt werden: das reicht von Paul Celans rätselhaft verschatteter Gnomik, „Du darfst mich getrost / mit Schnee bewirten“, bis hin zu Ernst Jandls von ermüdeter Melancholie weichgeklopftem Sarkasmus: „auf dem heimweg der schnee / hat mich berührt / durch die undichten schuhe.“

Es fühlt sich an wie ein Glücksfall, dass Winkler es sich herausgenommen hat, als Herausgeber auch ein eigenes Schnee-Gedicht in die Anthologie aufzunehmen: nicht nur, weil es gut ist, sondern auch, weil man sich Aufschluss verspricht. So leicht geht ja der gefrorene Kristall aus den Fugen, wenn Analyse ihre erhitzten Fingerkuppen auch nur annähert. Gerade die Sprache der Analyse ist es, die bei Winkler zurückgehoben wird in die Schwebe des lyrischen Ausdrucks; die Klingen des Vokabulars werden dadurch nicht stumpf, sondern es wird spannender, wohin sie schneiden. So heißt es in Winklers Gedicht „surrounding Schnee“ mit einer Anapher des Begründungszusammenhangs: „wir lieben diese kalte fraktale Grammatik. // das feingliedrige Taumeln des Schnees in der Luft. // (...) wir lieben diese komplizierte Intensivstation / eines besonderes Klimas. // ihre unaufdringliche Kompliziertheit. // die Anschaulichkeit von spezifisches Ungleichgewicht. // wir lieben die sich selbst beweisende Turbulenz.“ Gewiss ist dieses lyrische Ich nicht glattweg mit Winkler gleichzusetzen, schon ehrenhalber. Aber es muss ein Ich wie in diesem schneeliebenden Gedicht sein, das auf die Idee kommt, dem Schnee eine so qualitätvolle, vielstimmige Anthologie zu widmen.

Allerdings muss gesagt werden, dass das Buch vom Verlag nicht nur sehr schön gestaltet worden ist, sondern dass es fast schon zu schön gestaltet worden ist, um noch mit dem Ernst des Inhalts zu korrespondieren. Gebunden in dunkelblaues Velours, übersät mit (natürlich!) weißen Pünktchen, ist das Bändchen so hübsch und schmeichelnd in der Hand, dass man es aus schierer Sinnlichkeit kaum aufschlagen mag. Die Gefahr liegt nahe: es braucht hartgesottene, ernsthafte Leser, die dieses Buch nicht nur auf die Coffee-Table legen oder verschenken. Es ist, kurz gesagt, ausgesprochen schade, dass dieses Buch ausgerechnet im Winter erscheinen musste.

Ron Winkler · Ron Winkler (Hg.)
Schneegedichte
Schöffling & Co.
2011 · 208 Seiten · 14,95 Euro
ISBN:
978-3-895612152

Fixpoetry 2012
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Letzte Feuilleton-Beiträge