Politisches Beben Schröder will Neuwahlen
Berlin - Für die dramatische Erklärung am Abend brauchte der Kanzler keine zwei Minuten. Mit versteinerter Miene, dunklem Anzug und rot-grüner Krawatte trat er um Punkt 20 Uhr - pünktlich für die "Tagesschau" - im Kanzleramt vor die Presse und las seine Erklärung Wort für Wort von zwei Manuskriptseiten ab. Durch das "bittere Wahlergebnis" von Nordrhein-Westfalens sei die Grundlage für die Fortsetzung der bisherigen Arbeit der Koalition in Frage gestellt, sagte Gerhard Schröder. "Für die aus meiner Sicht notwendige Fortsetzung der Reformen halte ich eine klare Unterstützung durch eine Mehrheit der Deutschen für unabdingbar."
Deswegen halte er es für seine Pflicht und Verantwortung, "darauf hinzuwirken dass der Herr Bundespräsident von den Möglichkeiten des Grundgesetzes Gebrauch machen kann, um so rasch wie möglich - also realistischerweise für den Herbst dieses Jahres - Neuwahlen zum Deutschen Bundestag herbeizuführen".
Er suche eine klare Unterstützung für seine Politik. Erste Erfolge auf dem Weg zu mehr Wachstum und Beschäftigung seien zwar erkennbar. Bis die Erfolge für jeden einzelnen spürbar seien, brauche es aber Zeit. "Vor allem aber braucht es die Unterstützung der Bürgerinnen und Bürger für eine solche Politik", betonte der Kanzler.
"Es war seine Entscheidung"
Dem sensationellen Coup im Regierungszentrum waren am Nachmittag mehrere Krisensitzungen im kleinsten Kreis vorausgegangen. Schon gegen 15.30 Uhr, kurz nachdem die Parteien vorab über die ersten Prognosen der Wahlergebnisse informiert worden waren, trafen sich der Kanzler und Müntefering zum Vieraugengespräch. Regierungssprecher Bela Anda betonte am Abend, dass die Idee für die vorgezogenen Neuwahlen vom Kanzler selber gekommen sei. Bereits im Vorfeld der Wahlen sei die nun verkündete Variante im kleinsten Kreis überlegt worden. Dabei habe es sich jedoch eher um Gedankenspiele gehandelt.
Nach etwas anderthalb Stunden Zwiegespräch zwischen Schröder und SPD-Chef Franz Müntefering hätten die beiden SPD-Strategen auch Außenminister Joschka Fischer von den Grünen telefonisch informiert, hieß es im Kanzleramt. Dabei habe es sofort Einigkeit gegeben, dass die Neuwahlen unumgänglich seien. Erst dann habe der Kanzler mit Bundespräsident Horst Köhler telefoniert und die Entscheidung angekündigt. Über technische Details habe man noch nicht gesprochen. Der Regierungssprecher betonte, es gebe noch viele offene Fragen über die technische Durchführung der Neuwahlen.
Bereits kurz nach 18 Uhr trat Müntefering mit versteinerter Miene vor die Mikrofone in Berlin. Er habe mit Schröder vereinbart, dem Parteipräsidium am Montag Neuwahlen vorzuschlagen, sagte der SPD-Chef. Die gegenseitige Blockade von Bundesrat und Bundestag müsse endlich aufgelöst werden: "Es ist an der Zeit, dass in Deutschland die Verhältnisse geklärt werden". CDU und CSU verhielten sich so, als gehöre ihnen das ganze Land, so Müntefering weiter. Das sei aber nicht so, "und deshalb werden wir kämpfen", sagte der von der Wahlniederlage sichtlich getroffene Parteichef. Schröder sei als Bundeskanzler auch der Kanzlerkandidat der SPD für die Bundestagswahl. Die "bisherige Konstellation" in der SPD werde "Schulter an Schulter" in die Wahl ziehen.
Beck: "Wird Klarheit schaffen"
Auch SPD-Generalsekretär Klaus-Uwe Benneter sprach sich für Neuwahlen aus. "Sie haben doch gesehen, dass die CDU alles blockiert", sagte Benneter gegenüber SPIEGEL ONLINE. Deshalb müsse die Entscheidung gesucht werden.
Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck Begrüßte die Entscheidung: "Diese Lösung wird Klarheit schaffen, ob der sozialdemokratische Reformkurs in Berlin weitergehen kann", sagte der stellvertretende SPD-Chef in Mainz. Es werde bei den Neuwahlen um die Entscheidung gehen, "ob Reformen aus sozialer Verantwortung heraus geschehen oder rücksichtslos konservative Interessenpolitik durchgesetzt" werde.
Später am Abend kündigte auch Grünen-Chef Reinhard Bütikofer einen Lagerwahlkampf an. Die Frage sei: "In welche Richtung soll unser Land gehen?" CDU und FDP müssten sich nun stellen und "klar machen, für was sie stehen", sagte er in Berlin. Die Grünen würden für sich selber kämpfen: "Ohne starke Grüne wird's keine rot-grüne Mehrheit geben." Bütikofer: "Wir werden für eine möglichst starke grüne Position kämpfen."
Der saarländische SPD-Landeschef Heiko Maas steht der Neuwahl im Bund hingegen mit Skepsis gegenüber. Dies sei eine "riskante Entscheidung", sagte Maas in Saarbrücken. Das Wahlergebnis in Nordrhein-Westfalen markiere einen "schwarzen Tag für die SPD in Nordrhein-Westfalen und darüber hinaus".
Die SPD sei nach einer solchen Niederlage "nicht in der besten Verfassung". Neuwahlen könnten aber auch "ein Befreiungsschlag werden", fügte Maas hinzu. Die Wähler hätten dann die Möglichkeit, eine Richtungsentscheidung zu treffen zwischen einem "funktionierenden Sozialstaat oder kalter Marktwirtschaft".
Auch für SPD-Fraktionsvize Michael Müller ist die Neuwahl eine "hochriskante und nicht einfache Strategie". Damit die Wahl gewonnen werde, sei ein "klares Bekenntnis zur rot-grünen Koalition notwendig", sagte er in Berlin. Darüber hinaus müsse die Kapitalismuskritik von SPD-Chef Franz Müntefering "konkretisiert" werden.
Nach Ansicht des Sprechers der Parlamentarischen Linken der SPD im Bundestag benötigt Rot-Grün ein Projekt, das für den Wahlkampf und darüber hinaus trägt. "Dies könne eine Diskussion über die Wirtschafts- und Unternehmensverfassung in Deutschland sein", fügte er hinzu.
CDU: Wir sind gerüstet, aber ...
CDU-Chefin Angela Merkel kündigte einen "engagierten und beherzten Wahlkampf" an. "Jeder Tag, an dem Rot-Grün nicht regiert, ist ein guter Tag für Deutschland", sagte sie im ZDF. Aber zunächst müsse die Bundesregierung klarmachen, wie sie zu Neuwahlen kommen wolle.
Merkel wird nach einem Bericht der "Sächsischen Zeitung" Kanzlerkandidatin der Union. Dies sei dem Blatt am Sonntag aus dem Vorstand der CDU bestätigt worden. Es herrsche "kein Zweifel", dass Merkel noch am Abend in einer Schaltkonferenz der Landesvorsitzenden als Kanzlerkandidatin benannt werde. Anderen Stimmen aus der CDU-Spitze zufolge soll es keine überstürzte Entscheidungen geben. So werde nach Informationen der Nachrichtenagentur dpa nicht angestrebt, die Frage nach dem gemeinsamen Kanzlerkandidaten noch am Sonntagabend oder am Montag zu lösen. "Wir werden in Ruhe und Gelassenheit entscheiden", hieß es aus der CDU-Spitze. Ein Votum könne in den nächsten Tagen erfolgen.
"Die CDU ist für Neuwahlen gerüstet", sagte allerdings CDU-Generalsekretär Volker Kauder. Nach der Verfassungslage müsste allerdings die Bundesregierung die Neuwahlen einleiten. "Der Kanzler müsste die Vertrauensfrage stellen", sagte Kauder. Die Union sei für die Übernahme der Regierungsverantwortung vorbereitet.
CSU-Chef Edmund Stoiber sagte in München, das Vorziehen der Bundestagswahl bedeute, dass die Bundesregierung schneller abgelöst werde, als es die Union zu hoffen gewagt habe. "Ich begrüße diesen Schritt ganz außerordentlich."
Der Schleichweg zur vorgezogenen Neuwahl
Eine Selbstauflösung des Bundestages oder ein Beschluss für eine vorgezogene Neuwahl ist im Grundgesetz eigentlich nicht vorgesehen. Allerdings gibt es einen verfassungsrechtlichen Schleichweg, den 1982 auch Helmut Kohl (CDU) benutzte. Kohl war zwar nach einem erfolgreichen konstruktiven Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt (SPD) vom Bundestag zum Kanzler gewählt worden - er wollte aber eine Bestätigung durch die Wähler. Also nutzte er ein rechtlich höchst umstrittenes Verfahren: Seine Parteifreunde ließen ihn absichtlich bei der Vertrauensfrage scheitern.
Das genaue Prozedere der "Vertrauensfrage" regelt Artikel 68 des Grundgesetzes. Danach kann der Bundespräsident den Bundestag innerhalb von 21 Tagen auflösen, wenn der Kanzler im Parlament bei einer Vertrauensfrage keine Mehrheit hat. Sollte Schröder also wirklich vorgezogene Wahlen wollen, müsste er im Bundestag die Vertrauensfrage stellen und seine Koalition müsste ihn absichtlich durchfallen lassen. Bundespräsident Horst Köhler könnte den Bundestag dann nach drei Wochen auflösen.
Dieser Kniff ist allerdings unter Verfassungsrechtlern höchst umstritten. Nachdem sich Kanzler Kohl 1982 das Misstrauen aussprechen ließ, nur mit dem Ziel vorgezogene Neuwahlen zu erreichen, hatte das Bundesverfassungsgericht anschließend schwere Bedenken geäußert. Sinngemäß urteilten die Hüter des Grundgesetztes damals, dass der Bundespräsident das Parlament trotz dieses nicht ganz sauberen Verfahrens ausnahmsweise auflösen durfte - dass dieser Weg zu Neuwahlen allerdings nicht die Regel werden dürfte. Das Urteil des Verfassungsgerichts wurde damals allgemein so interpretiert: Einmal, aber nie wieder.