"Glauben Sie nicht jedem, der einen Doktortitel hat" – Seite 1

ZEIT ONLINE: Herr Butter, Sie sind Deutschlands führender Experte für Verschwörungstheorien. Da dürften Ihnen die letzten Wochen der Corona-Krise viel neues Forschungsmaterial präsentiert haben. Oder?

Michael Butter: Sie werden überrascht sein: So viel Neues gibt es gar nicht. Richtig ist, dass in Zeiten der Unsicherheit – und welche Zeiten können unsicherer sein als die jetzigen? – Verschwörungstheorien besonders gut gedeihen. Deshalb kursieren auch unzählige davon zur Corona-Krise im Netz. Andererseits greifen diejenigen Leute, welche diese jetzt in Umlauf bringen, auf bekannte Muster zurück.

ZEIT ONLINE: Inwiefern?

Butter: Wer die USA für alles Schlechte verantwortlich macht, für den haben natürlich die Amerikaner das Virus in die Welt gesetzt. Wer meint, dass China langfristig die Weltherrschaft übernehmen will und rassistische Vorurteile gegenüber Asiatinnen und Asiaten hegt, der findet es völlig logisch, dass das Virus eine chinesische Biowaffe ist. Egal, ob der Feind die Pharmaindustrie, das internationale Finanzkapital oder der Staat ist, der Hysterie erzeugt, um seine Macht auszubauen: Das Coronavirus dient als neues Klötzchen eines bestehenden Baukastens.

Michael Butter ist Professor für Amerikanistik an der Universität Tübingen. 2018 erschien von ihm "'Nichts ist, wie es scheint': Über Verschwörungstheorien" (Suhrkamp). © privat

ZEIT ONLINE: Das sind die klassischen Verdächtigen. Hinzu kommen jetzt Experten, die behaupten, die Pandemie sei nichts anderes als eine Grippe, die Maßnahmen deshalb völlig überzogen. Viel Wirbel macht mit solchen Thesen im Netz etwa der Arzt und ehemalige SPD-Bundestagsabgeordnete Wolfgang Wodarg.

Butter: Für eine Verschwörungstheorie typisch ist, dass bei der Präsentation solcher Argumentationen Gegenmeinungen etablierter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler weggelassen beziehungsweise als abwegig hingestellt werden. Dennoch handelt es sich für mich noch nicht um eine Verschwörungstheorie, sondern um eine problematische wissenschaftliche Meinung.

ZEIT ONLINE: Die zu äußern legitim ist.

­­­­­­Butter: Für sich allein ja. Problematisch wird es, wenn diese Positionen von einschlägigen Plattformen wie Rubikon, KenFM oder auch von dem aus Russland gesteuerten Sender Russia Today aufgegriffen und ins eigene Narrativ eingebaut werden.

ZEIT ONLINE: Was fehlt zur richtigen Verschwörungstheorie in dem Fall?

Butter: Die Behauptung, dass die angebliche Hysterie bewusst geschürt wird, etwa von der Regierung. Etwa in dem Fall von Wodarg, dass die wissenschaftlichen Fakten gezielt verdreht werden, um ein größeres Ziel zu erreichen. Fast jeder zweite Artikel auf den einschlägigen Seiten kommt am Ende immer zu der entscheidenden Frage: Wer steckt dahinter? Wem nützt die Corona-Krise? Es geht immer darum, die eigentlichen Drahtzieher zu identifizieren.

ZEIT ONLINE: Diese Krise zeichnet sich ja gerade durch ein hohes Maß an Unvorhersehbarkeit aus. Da kursieren Falschnachrichten zu angeblichen Ausgangssperren, die zu dem Zeitpunkt nicht stimmen, aber Tage oder Wochen später eben doch in Kraft treten. Wie kommunizieren Behörden in diesen unsicheren Zeiten richtig, um gegen Verschwörungstheorien vorzugehen, aber gleichzeitig klarzumachen, dass sich die Faktenlage ständig ändert?

Butter: Indem sie diese Unsicherheit offen kommunizieren und nicht vorgaukeln, es sei klar, wie es weitergeht. Und indem Politiker den Eindruck vermeiden, dass es ihnen vor allem darum geht, sich selbst zu profilieren.

ZEIT ONLINE: Ist also derjenige, der alternative oder abwegige Fakten als die wahre Wissenschaft präsentiert, mitverantwortlich für die Verschwörungstheorie oder nicht?

Butter: In der Corona-Krise geht es letztlich um Leben und Tod. Das sollte jeder bedenken, der mit großer Reichweite umstrittene Positionen vertritt. Für mich ist aber erst dann eine Grenze überschritten, wenn man selbst dazu beiträgt, Verschwörungstheorien zu verbreiten.

"Wir sind noch weit von der Situation in den USA entfernt"

ZEIT ONLINE: Fällt Ihnen ein Beispiel ein?

Butter: Zum Beispiel die Virologin Karin Mölling, eine emeritierte Professorin am angesehenen Max-Planck-Institut für molekulare Genetik in Berlin. Sie hält die strikten Maßnahmen wie das weitreichende Kontaktverbot für übertrieben. Das ist eine legitime wissenschaftliche Position. Aber Frau Mölling hat dazu KenFM ein Interview gegeben. Auf dieser Internetseite wurde schon behauptet, die Massenmedien seien von Zionisten unterwandert oder die Flüchtlingskrise sei bewusst gesteuert und diene der "Desorganisation" Deutschlands. Auch zu Corona werden dort seit Wochen Verschwörungstheorien verbreitet. In so einem Kontext werden Frau Möllings Äußerungen offensichtlich Teil dieser Verschwörungstheorien. Das hätte ihr klar sein müssen.

ZEIT ONLINE: Welche Rolle spielt Wissenschaft beim Zustandekommen von Verschwörungstheorien?

Butter: Sie ist heute ganz zentral. Lange Zeit waren Verschwörungstheorien offiziell akzeptiertes Wissen. Es war normal, an sie zu glauben. Erst Mitte des 20. Jahrhunderts wurden sie dann stigmatisiert und wanderten aus der Mitte an den Rand der Gesellschaft. Nach dem Krieg benutzte Karl Popper in seinem Buch Die offene Gesellschaft und ihre Feinde erstmals den Begriff der Verschwörungstheorie so, wie wir ihn kennen. Ab dann wurde der Begriff immer mehr zum Schimpfwort. Um so wichtiger werden für Verschwörungstheoretiker deshalb Wissenschaftler oder Pseudowissenschaftler.

ZEIT ONLINE: Um der Erzählung von einem Komplott einen seriösen Anstrich zu geben.

Butter: Genau. Wenn man sich diese Medien anschaut, dann wimmelt es von Verweisen auf wissenschaftliche Studien. In YouTube-Videos tauchen bevorzugt Leute mit Doktor- oder Professorentitel auf – auch wenn diese mitunter aus einer völlig anderen Disziplin stammen. Deshalb wichtig: Glauben Sie nicht jedem, der einen Doktortitel hat. David Ray Griffin, der viele verschwörungstheoretische Schriften zum 11. September verfasst hat, argumentierte zum Beispiel viel mit der Statik des World Trade Centers. Dabei war er ein Religionswissenschaftler.

ZEIT ONLINE: Wer ist besonders empfänglich für Verschwörungstheorien?

Butter: Wie zahlreiche psychologische Studien zeigen, sind das Menschen, die schlecht mit Unsicherheit und Ambivalenz umgehen können. Für sie ist es offensichtlich leichter zu ertragen, dass irgendwelche dunklen Mächte im Hintergrund die Strippen ziehen, als nicht zu wissen, was vor sich geht, oder zu akzeptieren, dass – zum Beispiel beim Coronavirus – womöglich niemand verantwortlich ist. Solche Personen findet man in allen Bevölkerungsteilen: bei Alten wie Jungen, bei Reichen wie bei Armen, bei Religiösen wie bei Nichtreligiösen, wobei Männer tendenziell anfälliger sind als Frauen.

ZEIT ONLINE: Worauf führen Sie das zurück?

Butter: Vielleicht, weil Verschwörungstheorien auch eine Antwort sind auf die Krise der Männlichkeit, die wir in der westlichen Welt seit einigen Jahrzehnten beobachten. Die meisten Industriejobs, die durch die Globalisierung wegfallen, haben zum Beispiel Männer inne.

ZEIT ONLINE: In der sogenannten Mitte-Studie von Wissenschaftlern der Universität Bielefeld antwortete jeder Zweite, er glaube eher seinen Gefühlen als an Experten. Ist der Nährboden für Verschwörungstheorien so groß in Deutschland?

Butter: Ich bin da skeptisch. Wenn man nach konkreten Verschwörungstheorien fragt, dann stimmen da weit weniger Menschen zu: so ungefähr zehn, höchstens zwanzig Prozent. Etwa, dass die Mondlandung nicht stattgefunden habe oder dass hinter der Einwanderung ein großer Plan stehe, die Bevölkerung auszutauschen. Wir sind noch weit von der Situation in den USA entfernt, wo tatsächlich jeder zweite mindestens einer Verschwörungstheorie anhängt.

ZEIT ONLINE: Müssten Verschwörungstheorien in der jetzigen Krise nicht eigentlich viel mehr Zulauf haben? Die Unsicherheit war doch nie größer, die Veränderungen im täglichen Leben sind extrem einschneidend und der Einfluss der digitalen Medien ist riesig.

Butter: Vielleicht hat die Öffentlichkeit in den vergangenen Jahren dazu gelernt. Mir ist zum Beispiel aufgefallen, dass zweifelhafte Argumentationsmuster wie jene des ehemaligen SPD-Abgeordneten Wodarg nicht lange unwidersprochen im Netz kursieren konnten. Innerhalb kürzester Zeit haben Wissenschaftsjournalisten sowie andere Forscher die Behauptungen diskutiert und eingeordnet. Und auch die sozialen Medien haben sich gewandelt.

"Im Moment haben vertrauensvolle Medien einen guten Stand"

ZEIT ONLINE: Tatsächlich?

Butter: Facebook zum Beispiel geht in der jetzigen Krise konsequenter gegen Falschnachrichten vor und hat der Weltgesundheitsorganisation kostenlose Werbefläche angeboten. Wer bei Google nach dem Stichwort Coronavirus sucht, findet nur mühsam Fake News. Wir beobachten, dass sich die Verfasser solcher Theorien andere Kanäle suchen.

ZEIT ONLINE: Welche?

Butter: Etwa WhatsApp. Da gab es diese Nachricht, dass das Medikament Ibuprofen die Corona-Symptome verstärkt und dass eine diesbezügliche Studie der Uni Wien von der Pharmaindustrie unterdrückt wird.

ZEIT ONLINE: Aber die Gefahr wurde doch auch tatsächlich breit diskutiert?

Butter: Richtig, der verschwörungstheoretische Aspekt ist hierbei die Theorie der Unterdrückung durch die Pharmaindustrie. Diese Nachricht wurde hauptsächlich über Whatspp verbreitet. Seriöse Medien haben dieses Thema aber aufgegriffen und eingeordnet. Im Moment also haben Experten oder vertrauensvolle Medien wirklich einen guten Stand. Ich frage mich nur, wie lange das hält.

ZEIT ONLINE: Sehen Sie Anzeichen dafür, dass es kippen könnte?

Butter: Noch gibt es eine große Einigkeit in Wissenschaft und Politik über die Bewertung der Pandemie und die notwendigen Maßnahmen. Ich bin gespannt, was passiert, wenn das nicht mehr der Fall ist, etwa wenn wir stärker diskutieren, wie wir die Maßnahmen lockern und aus der Selbstisolation wieder herauskommen können. Da stehen wir ja noch am Anfang. Dann könnten Fake News und Verschwörungstheorien verstärkt Zuspruch bekommen.

ZEIT ONLINE: Es heißt aber immer, jeder Versuch, Fake News zu widerlegen, sei vergeblich, weil allein die Erwähnung der Falschnachricht diese verstärkt. Stimmt das?

Butter: Diese Gefahr besteht. Dass also irgendetwas von dem Gerücht oder der Falschmeldung hängen bleibt. Besser wäre es, wenn die Medien erst den bekannten wissenschaftlichen Konsens schildern und dann erwähnen, dass zum Thema auch viel Unsinn kursiert. Das widerspricht aber völlig der Medienlogik, die erst einmal das Neue und Ungehörte präsentieren muss.

ZEIT ONLINE: Alles einfach laufen zu lassen, ist auch keine Lösung.

Butter: Stimmt. Völlig wirkungslos sind Fakten auch nicht. Wenn man sie früh präsentiert, können sie bei Menschen, die noch nicht festgelegt sind, wie eine Art Impfung wirken. Wenn sie dann auf die Falschnachricht treffen, reagieren sie mit größerer Wahrscheinlichkeit mit Abwehr und die Falschnachricht bleibt nicht hängen.

ZEIT ONLINE: Das heißt, wenn ich in meinem Umfeld zum Beispiel online eine Verschwörungstheorie entdecke, wie verhalte ich mich?

Butter: Das kommt darauf an, um wen es sich handelt. Da macht es schon Sinn, Zweifel zu äußern und auf andere Fakten zu verweisen. Doch bei eingefleischten Verschwörungstheoretikern haben schlüssige Gegenbeweise den gegenteiligen Effekt: Sie festigen die Überzeugung der Betroffenen.

ZEIT ONLINE: Sollte es eine Corona-Impfung geben, werden Impfgegner sie also bekämpfen.

Butter: Davon können Sie ausgehen. Diese Menschen können kaum anders. Denn eine Impfung plötzlich zu akzeptieren, würde ihre Identität massiv angreifen. 

Anmerkung der Redaktion: Aufgrund eines Missverständnisses hatte dieser Text zunächst eine andere Überschrift. Wir haben den Fehler korrigiert. 

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