Zeitung Heute : Biografie eines Rätsels

Hat Spielberg übertrieben? David Crowe schrieb ein Buch über Schindler. Ergebnis: Ein Held war er nicht

Claudia Keller

Manchmal war es wie ein Fluch. Sieben Jahre lang war Oskar Schindler da, wenn David Crowe morgens aufwachte, er war da, wenn er zu Bett ging. Manchmal sei er richtig wütend gewesen. Aber er wurde Schindler nicht mehr los. Er war immer dabei. In Europa, in den USA, in Israel und Argentinien, wenn er Akten in Archiven und Gedenkstätten wälzte oder mit Menschen sprach, aus deren Schicksalen er eine Essenz für seine Geschichte destillierte. Denn David Crowe hat die erste umfassende Biografie über den Spielberg-Helden geschrieben, dem 1098 Menschen ihr Leben verdanken. Dennoch dachte Crowe oft: „So ein Scheißkerl. Worauf hab ich mich da eingelassen?“ Schindler komme bei Spielberg zu gut weg.

Dass sich einzelne Menschen so in einem ausbreiten können, das war David Crowe vorher nur mit Frau und Kindern so gegangen. Er ist Historiker an der Elon-University in North Carolina, amerikanische Ostküste. Gefühle haben für ihn in der Geschichtsschreibung nichts zu suchen. Er hat sich schon viel mit dem Holocaust beschäftigt, hat Bücher über Roma und Sinti geschrieben, über Russland und Osteuropa – aber noch nie die Geschichte eines einzelnen Lebens.

858 Seiten sind es geworden. Auf der Vorderseite sieht man den 30-jährigen Schindler. Er schaut ernst, trägt Jackett, Krawatte und Hut. Es ist ein Fahndungsfoto des tschechoslowakischen Geheimdienstes von 1938. Das Buch liegt an diesem Freitagnachmittag auf einem Glastisch in der Lobby des Marriott am Potsdamer Platz in Berlin. David Crowe, 61 Jahre alt, graue Haare, weißer Vollbart, lässt sich in die ausladenden Polster eines Sofas fallen. Er ist am Ziel seiner Reise. Vergangenen Sommer ist seine Schindler-Biografie in den USA erschienen, jetzt auf Deutsch im Eichborn Verlag.

Crowe gehört zu jenen Wissenschaftlern, die eine romantische Liebe zu staubigen Akten in abgelegene Archive treibt, in der Hoffnung auf Geheimnisse. „Ich dachte, in Tschechien interessiert sich keiner für Schindler“, sagt Crowe und zieht seine Strümpfe hoch. Sie stecken in robusten Wanderschuhen. Dann legte man ihm Dokumente der früheren tschechischen Geheimpolizei vor, Crowe formt mit seinen Händen einen Turm, der vielleicht einen halben Meter hoch ist.

Die Tschechoslowaken hatten Schindler seit 1936 im Visier. 1938 verhafteten sie ihn. Ihr Verdacht bestätigte sich: Schindler verdiente sein Geld, indem er die deutsche Auslandsspionage, die „Abwehr“, mit Informationen über tschechoslowakische und polnische Grenzanlagen, Bahnverbindungen und militärische Planungen versorgte. Er hatte schlechte Schulzeugnisse und keine Ausbildung. Aber er konnte täuschen und taktieren und andere dazu bringen, Dinge zu tun, die sie eigentlich nicht tun wollten. Bis in die 60er Jahre galt Schindler in der Tschechoslowakei als Kriegsverbrecher. Bis heute seien die Tschechen nicht gut auf ihn zu sprechen.

Bei seinen ersten Reisen nach Prag und Krakau und in viele kleine Orte, durch die Schindler gekommen war, hätten ihn immer die Bilder des Spielberg-Films verfolgt, sagt Crowe. Liam Neeson, wie er sich das Parteiabzeichen ans Revers heftet. Liam Neeson, wie er mit schönen Frauen tanzt. Er kämpfte gegen diese Bilder, sie mussten raus aus dem Kopf. Erst dann, das wusste Crowe, konnten sich die Mosaiksteinchen, die er in den Archiven fand, neu verbinden.

Die tschechoslowakischen Sicherheitsdienste hatten umfangreich recherchiert. Auch dass Schindler nach zehn Jahren Ehe mit Emilie bereits zwei uneheliche Kinder von der Sekretärin seines Vaters hatte, war ihnen nicht entgangen. „Ich weiß ja nicht, was Sie für moralisch halten“, sagt Crowe, „aber gegen meine Grundsätze verstößt so etwas schon.“ Der Leiter der Polizeidirektion, der 1938 Schindlers Spionage-Geständnis unterzeichnete, drückte es so aus: Schindler sei ein „sehr leichtsinniger Mann von zwielichtigem Charakter“, dem es nur darauf ankomme, „mit wenig Arbeit viel Geld zu verdienen“. Schindler wäre wahrscheinlich hingerichtet worden, hätte nicht Hitler kurze Zeit später die Tschechoslowakei annektiert. Er wurde freigelassen und spionierte weiter. Schindler besorgte sogar die polnischen Uniformen, mit denen sich die deutschen Soldaten tarnten, um den polnischen Sender Gleiwitz zu überfallen, was zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs führte.

„Dieser Mann kam aus großbürgerlichem Elternhaus und war an ein Leben auf der Überholspur gewöhnt“, sagt Crowe und nimmt einen Schluck Milchkaffee. Er ist koffeinfrei. „So etwas hätte Schindler nie getrunken“, sagt Crowe und lacht. „Für ihn musste es immer das Maximale sein.“ Zu seinem Leben gehörten schnelle Autos, Frauen, Alkohol, Partys und luxuriöse Wohnungen. Crowe hat sie sich alle angeschaut. Die in Krakau liege im schönsten Stadtteil, Blick auf die Burg, aber er sah auch das Ein-Zimmer-Apartment am Frankfurter Hauptbahnhof, in dem Schindler seit den 60er Jahren und bis zu seinem Tod 1974 wohnte. Heute ist das Haus ein Hotel. „Das Zimmer ist klein“, sagt Crowe. „Es muss sehr deprimierend für Schindler gewesen sein, so tief zu fallen.“

In Krakau stöberte Crowe im Archiv des polnischen Handelsregisters. Er fand heraus, dass Schindler 1939 jüdischen Eigentümern eine Emailwarenfabrik zu einem Spottpreis abgekauft hatte. Einer, dem zuvor Anteile gehörten, hat Schindler später als Kriegsgewinnler verhöhnt. Die israelische Gedenkstätte Jad Vaschem hat Schindler deshalb nur einen Teil der Auszeichnung als „Gerechter unter den Völkern“ zugestanden. Erst nach Spielbergs Film wurde ihm posthum die volle Würdigung zuteil. Auch die Einstellung von Juden habe Schindler zunächst nicht aus Menschenliebe betrieben, sagt Crowe, sondern weil es die billigsten Arbeitskräfte waren, die fleißigsten. Sie hatten viel zu verlieren.

Crowe hat Hunderte „Schindler-Juden“ getroffen. In Israel, in den USA, in Deutschland und Polen. Die Augen der alten Frauen verklärten sich, wenn er sie fragte, wer ihnen besser gefallen habe: Liam Neeson oder der echte Oskar. „Oskar“, sagten alle. Alle schwärmten sie von seiner Güte, seiner Herzlichkeit. Aber, sagt Crowe, er habe schnell gemerkt, dass bei den meisten unter der dicken Schicht romantischer Verklärung nicht viel zu holen war. Nur wenige hatten mit dem „Herrn Direktor“ direkt zu tun. Wer also war Schindler wirklich? Der Opportunist ohne Moral? Der gute Mensch?

Man erzählte ihm, wie perfekt Schindler in seiner Fabrik die doppelte Buchführung installiert hatte, wie sie zum Motor des ganzen Unternehmens wurde. Hier Schindlers Büro mit Hitlerbild und NS–Flagge an der Wand. Dahinter das Büro von Abraham Bankier, einem der früheren jüdischen Fabrikbesitzer. Er führte die Geschäfte, während Schindler vorne mit den Nazis verhandelte und um die Wette trank.

Crowe sagt, er habe lange nach dem einen Moment in Schindlers Leben gesucht, in dem er sich gewandelt hat, in dem auf einmal nicht mehr der Profit zählte, sondern das Leben der Arbeiter. „Dann hätte ich den Wirrwarr in meinem Kopf in ein Vorher und Nachher unterteilen können.“

Steven Spielberg inszenierte diesen Augenblick, indem er Schindler auf einen Hügel in der Nähe der Fabrik reiten lässt, von wo aus er die Räumung des Krakauer Ghettos beobachtet. Einen solchen Hügel gibt es nicht, sagt Crowe. Auch nicht die plötzliche Eingebung. Schindler habe sich allmählich verändert. „Der Schindler von 1939 ist nicht der von 1943.“ Schindler habe die zunehmende Brutalität angewidert, die er zum Beispiel bei der Räumung eines Kinderheimes im Ghetto miterlebte hatte.

Ein klares Zeichen für seine Veränderung sei die Reise nach Budapest im November 1943 gewesen. Schindler traf dort unter Lebensgefahr Mitarbeiter der Jewish Agency. Sie wollten Auskunft über die Zustände in Polen. Das Gesprächsprotokoll zeigt, wie gut Schindler über die Mordmaschinerie Bescheid wusste. Schließlich gaben sie ihm Geld mit, das er ins Vernichtungslager Plaszow in der Nähe seiner Fabrik hineinschmuggelte.

Dennoch seien damals viele nicht sicher gewesen, auf welcher Seite Schindler stand. Zum Beispiel Helen Rosenzweig. Sie war eines von zwei jüdischen Dienstmädchen im Privathaus des Lagerkommandanten Amon Göth. Sie erzählte Crowe, dass ihr Hausherr, der es liebte, vor dem Frühstück vom Balkon aus Häftlinge zu erschießen, dachte, Schindler sei sein bester Freund. Und sie habe das auch gedacht. Schindler habe ihr zwar immer wieder versprochen, sie zu retten. „Aber dann kam er wieder in seiner braunen Nazi-Uniform und feierte mit Göth wüste Orgien.“ Es habe auch andere Fabrikbesitzer gegeben, die ihren jüdischen Arbeitern halfen und auf Göths Wohlwollen angewiesen waren. Sie hätten trotzdem nicht bei Göths Gelagen mitgemacht. „Schindler hat Grenzen überschritten, die er nicht hätte überschreiten müssen.“ Es hat ihm offenbar Spaß gemacht, sagt Crowe.

1944, als die Rote Armee immer näher rückte, setzten sich die anderen Fabrikanten in die Schweiz ab. Schindler nahm seine Arbeiter, ließ seine Liste schreiben und verlegte seine Fabrik nach Brünnlitz. Das war ein gewaltiges Unterfangen, für das er enorme Summen Schmiergeld zahlte. In Brünnlitz wurde so gut wie nichts produziert, und das, was von seinem Geld noch da war, ging für Lebensmittel für seine Arbeiter drauf.

Crowe versöhnte sich immer mehr mit Schindler, je länger er an seinem Buch schrieb. 300 Seiten sollten es werden. 1999 hatte er seine Recherchen so gut wie abgeschlossen. Aber: „Ich war nicht glücklich mit dem Ergebnis, hatte nicht das Gefühl, Schindler wirklich nahe gekommen zu sein.“ Eines Abends, er schaute in einem Ferienhaus in den Bergen von Pennsylvania Nachrichten, flimmerte Oskars Gesicht über den Bildschirm. Der „Schindler-Koffer“ war aufgetaucht. „Ich dachte, ich falle vom Stuhl.“ Die Reise ins Innere dieses Mannes war noch nicht zu Ende. Crowe fuhr nach Deutschland und fand endlich, wonach er lange gesucht hatte: Briefe, in denen Schindler seine Gefühle ausdrückte – Verbitterung vor allem über die mangelnde Anerkennung in Deutschland. „Wenn ich Juden ermordet und nicht gerettet hätte, dann hätte ich meinen Lastenausgleich problemlos bekommen“, heißt es in einem Brief.

„Aber es ist ja nicht so, dass Schindler leer ausgegangen wäre“, sagt Crowe. Er sei entsetzt gewesen, wie ungeniert Schindler nach dem Krieg jüdische Hilfsorganisationen und die, die er gerettet hatte, um Geld anbettelte. In den 60er Jahren zahlte ihm die Bundesrepublik 177 000 Mark Entschädigung für die verlorene Fabrik. Er kaufte eine Zementfabrik, die bald Pleite ging. „Anders als während des Krieges hatte er niemanden mehr, der für ihn die Arbeit tat. Innerhalb kürzester Zeit hatte er das Geld für Alkohol und großzügige Geschenke ausgegeben“, sagt Crowe. Schindler verfiel immer öfter in Depressionen, er trank.

Fragt man Crowe nach einem abschließenden Urteil, rutscht er unruhig auf dem Stuhl herum. „Schindler war kein Held. Er war ein Spieler und hatte viele Schwächen.“ Aber er habe sein Vermögen und sein Leben aufs Spiel gesetzt, um fast 1100 Menschen zu retten. „So etwas kam einfach verdammt selten vor.“ Endgültig könne er die Frage nicht beantworten. „Ich habe noch immer nicht mit ihm abgeschlossen“, sagt Crowe.

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