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Kritik

Untergänge, Übergänge.

Hamburg

Der in Dortmund lebende Paul-Scheerbart-Preisträger Jürgen Brôcan, Schriftsteller, Literaturkritiker und Übersetzer, legt jetzt seinen sechsten Gedichtband vor, der auch ein dreiseitiges Nachwort von Jan Kuhlbrodt enthält. Brôcan, der Dichter, gilt als von solchem Kaliber, dass seine Werke - positive – Besprechungen in „wichtigen“ Feuilletons, wie denen der FAZ oder NZZ, bekommen.

Antidot, sein neuer Gedichtband also, in seiner Entstehung von der Kunststiftung NRW unterstützt, wirkt äußerlich ansprechend: Der hintere Buchdeckel bietet Brôcans Autograph des Eingangsgedichtes, während der vordere Buchdeckel ein Detail aus einem Dortmunder Stadtplan von 1894 abbildet. Wird der Band Gedichte über die Region versammeln, will Brôcan das Vorzufindende vermessen oder eigene Welt erschaffen?

In der Tat haben gegen zehn der insgesamt 77 Gedichte deutlichen Bezug zur Ruhr-Region. Bevorzugt begibt sich der Sprecher dabei an Orte mit Industriebrachen: Der Dichter, selber sich als flüchtig erlebend („Wasserwerk“), inventarisiert, vermisst den Verfall, sympathisiert mit dem Maroden, der kollabierten Zeit; in solchem Sinnen über das scheinbar Tote ist ihm aber der Kontrapunkt, das Antidot – in einer seiner denkbaren Verwendungen hier - (s. Titel des Bandes und grch. etwa für Gegengabe, Gegenmittel), willkommen:  Mehrfach lässt er zum Ende des Textes Vögel dann aufflattern, die im Verbund mit ihm selber gleichsam als Bindeglied zum Hier und Jetzt dienen mögen. In diesen Gedichten über die herbe Heimatgegend verwendet Brôcan zwar ab und zu den Jargon (Blaumann, Gedicht „Wasserwerk“; was soll’s, wann war zuletzt einer hier in: „Zur Wannenbrücke“), bevorzugt aber auch hier insgesamt einen hohen sprachlichen Ton, der neben die präzise Begrifflichkeit auch den metaphorischen Ausdruck setzt: Windflieger Weidensamen („Zur Wannenbrücke“).

Gerade in dieser Gedichtgruppe finden wir eine Art poetisches Manifest des Jürgen Brôcan:  die Selbstbefeuerung hin zum Blick auf das Kleine, vielleicht scheinbar Vergangene, nur scheinbar Abgetane, eben nicht Abzutuende; das Versprechen, so Großes, Andauerndes wahrzunehmen, nämlich: „In jedem Klumpen, in jeder Lache/ist alles, Weltstadt und Wunder,//bei jedem Augenauf-/schlag ein neues Bild im Speicher.//Wer unterscheidet Untergänge,/Übergänge? Doch mit Weh-/mut. Herrlich Unvollkommenes“ („Industrial Magic (&Light)“)

Click to see large pictureQuelle: Quantum Tranport Lab Stony Brook University

Vermisst Brôcan in Antidot die Welt, kartographiert er sie? Ja. Wo er nicht selber der Entdecker ist - angenehm übrigens, dass der Autor uns hier nicht die Palette eigener Fernreisen präsentiert -, erweist er in enormer Bandbreite Geistesgrößen die Ehre, oft aus entlegenen Jahrhunderten, indem er sich meist um deren Originalaussprüche herum in die jeweilige Biografie in ihrer zeitgenössischen Besonderheit hineinversetzt, natürlich auch mit Bezug zu unseren Tagen: gerne sind das Vertreter der „technischen“, der naturwissenschaftlichen Disziplinen: Botaniker, Ethnologen, Geographen, Forschungsreisende, Landschafts-, Gartengestalter, Naturschützer, Architekten, Geologen usw.; angeführte Fotografen stellen dann gleichsam den Übergang her zu den Persönlichkeiten, deren Erwähnung, Querverweise wir in einem Gedicht traditionell eher erwarten: Philosophen (bevorzugt aus dem antiken Griechenland), Komponisten, Künstler, schließlich Literaten wie die Annette, Hermann Lenz, Nelly Sachs, Ernst Meister, Michael Hamburger, Jean Giono, Walt Whitman (dem Autor wohl sehr lieb), William Carlos Williams usw.; auch Bibel und Religionswissenschaft sind bedacht. Dem Band stellt Brôcan als Motto einen Ausspruch von John Ruskin (19. Jh.) voran: „There is no wealth but life.“; Ruskin, dem er dann ein aufwändiges Gedicht widmet, gleichsam als einem der Universalgelehrten, denen Brôcan sich in der kongenialen Beharrung auf dem mikroskopischen Detail („The Ruskin Papers“) vielleicht am nächsten fühlt; selber ein poeta  doctus – der im Anhang des Bandes glücklicherweise aber hilfreiche Anmerkungen zu der Hälfte seiner Texte mitliefert -, was unserer wohl etwas oberflächlichen Zeit bestens zu Gesicht steht. (Nur ein, zweimal pauschalisiert Brôcan m.E. selber etwas zu rasch, wenn er meint, dem eigenen konzentrierten Betrachterindividuum ein Gruppengeschwätz  einer Menschengruppe entgegensetzen zu sollen („Die Akademie in Wörlitz“); auch bekommen wir nicht gerne in einer so wundervoll auf das Differenzieren setzenden Umgebung eine flache Breitseite gegen die Politiker, Juristen und Wirtschaftsbosse, Gedicht „Sprengstoff (Neujahrsmorgen)“ zu Gesicht.)

Erschafft Brôcan in seinem neuen Gedichtband eine eigene Welt? Eine Gegenwelt, ein Antidot zu Schlagzeilen, … Videoclip & Poetry Slam (Gedicht „Unter Hölderlinschauern“)? Ja. Indem, was nur er so kann, wie er’s tut, das Vorgefundene vom (scheinbaren) Tod wieder zum Leben (was dann wieder nachzuweisen ist) befördert. Haben wir nicht schon mal selber in Stein Leben vermutet? Bei Brôcan so:  Unter Gebüschen, im Gras verlieren sich die Grabplatten, schütteln ihre Identität ab,/ein paar drängen sich zusammen, verängstigte Tiere im Regen… („Die Bäume des Friedhofs“) Das ist ein herrliches Bild, sogar der Regen bleibt haften! Das ist die Entschleunigung, die gute Lyrik liefern mag: Sprache, Meditation, Sprache. Und immer so fort.

In Antidot werden sowohl Liebhaber des längeren Prosagedichts versorgt, als auch diejenigen Leser, welche die verspielte lyrische Miniatur bevorzugen. Immer darf man dabei auch mit anregenden optischen Reizen bei der Textanordnung rechnen. Gemeinsam ist allen Gedichten des Verfassers Sorgfalt im Detail, die jedem Leser schmeichelt: Er kommt nah heran, darf mit aufsitzen! Und wie viele Bereiche werden vorgeführt! Jürgen Brôcans Antidot ist ein Gedichtband, der mit seiner gedanklich-sprachlichen Bandbreite unmittelbar beeindruckt und später im vorderen Teil des Regals griffbereit bleiben kann.

Jürgen Brôcan
Antidot
Nachwort: Jan Kuhlbrodt
Edition Rugerup
2012 · 125 Seiten · 17,90 Euro
ISBN:
978-3-942955317

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