Dieses Projekt beschreibt den 16. und 17. MĂ€rz des Jahres 1945 in WĂŒrzburg. Am Beispiel von fĂŒnf Hauptpersonen begleiten wir die WĂŒrzburger durch den Feuersturm, der sich ins kollektive GedĂ€chtnis der unterfrĂ€nkischen Stadt eingraben wird.
Die fĂŒnf Protagonisten:
WĂŒrzburg vor dem Angriff
Es ist noch dunkel, als Betti Götz am 16. MÀrz 1945 um 6 Uhr ihren neunjÀhrigen Sohn Georg weckt.
Die Nacht hat er mit Mutter und GroĂvater in dessen Garten am Oberen Schalksberg in deÂÂÂÂr NĂ€he des BismarckwĂ€ldchens verbracht. Seitdem Bomben am 23. Februar 1945 auch GrombĂŒhl getroffen und viele Menschen getötet haben, geht es jeden Nachmittag hinauf in die Höhe und am Morgen, nach der Ăbernachtung im Gartenhaus, wieder hinunter in die Stadt.
Seit dem 12. MĂ€rz ist Georg Götz Ministrant in der Josefskirche. Anfangs war er aufgeregt. Doch jetzt, nach viermaligem Dienst am Altar, weiĂ er, was von ihm erwartet wird. Pfarrer August Burk hat ihn auch am 16. MĂ€rz fĂŒr den Morgengottesdienst um 7 Uhr eingeteilt. Er eilt den Berg hinunter, um rechtzeitig zum Ankleiden in der Sakristei zu sein. Alles klappt.
Nach dem Gottesdienst geht es in die Wohnung in der PetrinistraĂe 11 zur Mutter, die inzwischen das FrĂŒhstĂŒck vorbereitet hat, anschlieĂend in die Pestalozzischule. Von Unterricht kann nicht mehr gesprochen werden. Georg Götz: âIn unserer Klasse waren schon seit geraumer Zeit viele PlĂ€tze leer. Manche Schulkameraden befanden sich mit ihren Eltern nicht mehr in WĂŒrzburg, sondern bei Verwandten auĂerhalb der Stadt. FĂŒr die wenigen SchĂŒler gab es nur neue Hausaufgaben und die alten von gestern wurden durchgesehen.â
Im MĂ€rz 1945 ist das architektonische Gesamtkunstwerk WĂŒrzburg noch weitgehend intakt. Ein ânach Norden verirrtes Florenzâ hat der französische Dichter Paul Claudel die Stadt genannt. Historische Fotos zeigen kontrastreiche Fassaden, ein faszinierendes Spiel von Licht und Schatten, eine geradezu sĂŒdlĂ€ndische Leichtigkeit.
WĂŒrzburg vor dem Angriff
Um 8 Uhr steht die 23-jĂ€hrige Charlotte Ambrosch an diesem Freitag auf. Sie blickt aus dem Fenster und sieht, dass ein wunderbarer MĂ€rztag begonnen hat; keine Wolke steht am Himmel. Charlotte wohnt im Haus PetrinstraĂe 9, direkt neben Georg Götz und seiner Mutter, die zu diesem Zeitpunkt gerade frĂŒhstĂŒcken. Sie ist todmĂŒde, denn letzte Nacht hat sie Dienst gehabt im Bischofspalais in der HerrnstraĂe, wo im Keller das âWarnkommando WĂŒrzburgâ seinen Sitz hat.
Ein Bekannter, der sich als Verwundeter in der Stadt aufhĂ€lt, holt sie ab: âEr schellt, ich rufe vom dritten Stock aus hinunter, dass ich gleich komme. Aber bis ich mich versehe, steht er oben vor unserer EingangstĂŒr. Ich bin sehr böse deshalb, denn ich bin noch ein junges unverheiratetes hĂŒbsches MĂ€dchen und allein zu Hause und habe auf meinen Ruf zu achten. Er geht ganz einfach darĂŒber hinweg und es sieht aus, als wĂŒrde er sich ĂŒber mich auch noch lustig machen.â
Gegen 9 Uhr verlĂ€sst sie die Wohnung, um eine kleine Radtour zu machen. Es ist einfach zu schön, um zu Hause zu bleiben. âWenn ich nicht zugesagt hĂ€tte, wĂ€re ich bestimmt nicht mitgefahrenâ, notiert sie. âDenn ich bin so unheimlich mĂŒde, so mĂŒde, dass mir jede Umdrehung meines Pedals zu viel wird.â Der Weg fĂŒhrt durch eine Stadt, die es am Abend nicht mehr geben wird: durch die LudwigstraĂe, an der Residenz vorbei, am Ringpark entlang und ĂŒber die LöwenbrĂŒcke nach Heidingsfeld, dann weiter nach Rottenbauer und auf Umwegen zum Forsthaus Guttenberg. âLeider habe ich keine Freude, mir ist alles zu viel und endlich, nach einer kleinen Brotzeit, schlafe ich sofort auf dem blanken Boden ein, der Tag ist ja so schön und warm und der Boden ist gar nicht kalt.â
Werner Fuchs ist 14 Jahre alt. Der Zellerauer besucht die Oberrealschule, das heutige Röntgen-Gymnasium, doch am 16. MĂ€rz findet auch dort schon kein geordneter Unterricht mehr statt. Wie alle Jungen seines Alters gehört er gezwungenermaĂen dem âJungvolkâ an, der NS-Organisation fĂŒr 10- bis 14-jĂ€hrige Buben. Seine Eltern, beide ĂŒberzeugte Nazigegner, sind entsetzt, als er zum âZugfĂŒhrerâ im Jungvolk befördert wird.
Am Morgen des 16. MĂ€rz ist auch Werner Fuchs mĂŒde. Am Tag zuvor haben er und die anderen Jungvolk-Mitglieder aus einer AnstaltskĂŒche in der AugustinerstraĂe mit einem vierrĂ€drigen Handkarren wieder warmes Essen und belegte Brote geholt und zum Bahnhof gebracht. Dort ist es von Rotkreuz-Schwestern an FlĂŒchtlinge verteilt worden, die in immer gröĂerer Zahl nach WĂŒrzburg kommen. Die Buben arbeiten oft bis spĂ€t in die Nacht, befördern auch GepĂ€ck fĂŒr Frauen und Kinder, die in einem Heim in der BahnhofstraĂe fĂŒr die Nacht Unterkunft finden.
Zwei Jahre jĂŒnger als Werner Fuchs ist Hans Schwabacher. Doch das ist nicht der einzige Unterschied. Hans trĂ€gt den gelben Judenstern und steht â wie seine Geschwister Michael (13) und Thomas (9) â unter stĂ€ndiger Beobachtung der WĂŒrzburger Gestapo. Die drei Buben haben einen jĂŒdischen Vater und eine Mutter, die zwar bei der Hochzeit zum Judentum ĂŒbergetreten ist, aber von den Nazis als âArierinâ betrachtete wird, weil sie lauter katholische Vorfahren hat.
Hans und seine BrĂŒder sind in der Nazisprache âMischlingeâ, und wie alle âMischlingeâ mĂŒssen sie im Haus DomerschulstraĂe 25 wohnen, direkt neben der Synagoge, die am 10. November 1938 verwĂŒstet und anschlieĂend in eine stĂ€dtische Handwerkerschule umgewandelt worden ist. Als sie am Morgen des 16. MĂ€rz 1945 aufstehen, haben die BrĂŒder schlecht geschlafen. In dem völlig ĂŒberfĂŒllten Haus, in dem es keine funktionierende Heizung gibt, steht nur ein einziges Bett fĂŒr die drei zur VerfĂŒgung; die sanitĂ€ren VerhĂ€ltnisse sind katastrophal, LĂ€use plagen die Bewohner.
Hans und seine BrĂŒder haben schlimme Verluste erlebt. 1939 hat der Vater auf Druck der Gestapo Deutschland verlassen mĂŒssen; er ist erst nach England, dann in die USA ausgewandert. Die schwer lungenkranke Mutter Else Schwabacher erhielt keine Einreiseerlaubnis in die USA und musste mit den Kindern in WĂŒrzburg bleiben; immer wieder verbringt sie lĂ€ngere Zeit in Sanatorien und kann dann nicht fĂŒr ihre Söhne sorgen. In diesen Phasen kĂŒmmert sich die etwa 60-jĂ€hrige Ancilla Nunn, eine ehemalige Ebracher Schwester, um die Buben. Ebenso Anni Popp, die spĂ€tere Chefin der Weinstube Popp, die selbst fĂŒnf Kinder hat.
Hans hat miterlebt, wie Verwandte, darunter seine GroĂmutter Anna, sein Onkel Anton und seine Tante Dora, ebenso wie seine jĂŒdischen Freunde, spurlos verschwanden; dass sie alle ermordet wurden, weiĂ er nicht. Aber er spĂŒrt, dass sein Leben und das seiner BrĂŒder in gröĂter Gefahr ist. In seiner Autobiographie âRememberingâ schreibt er 2003: âWohin gingen sie? Mutter sagte, sie wĂŒrden âin den Osten umgesiedeltâ, wo sie sicher seien, aber tatsĂ€chlich jagte die Gestapo Juden systematisch und deportierte sie in Arbeits- oder Konzentrationslager. SchlieĂlich lag ja auch Auschwitz âim Ostenâ. Obwohl wir keine Einzelheiten kannten, wussten meine BrĂŒder und ich, dass wir nicht sicher waren. Wir stellten uns nicht vor, dass wir getötet wĂŒrden. Aber wir stellten uns vor, dass wir verschwinden wĂŒrden wie viele Freunde und Verwandte. StĂ€ndig erwarteten wir, dass die Nazis mit ihren groĂen Autos kommen und uns mitnehmen, wir hatten es so oft gesehen.â
Dass ihr Leben auf ganz andere Weise in Gefahr ist, können sich Hans, Michael und Thomas Schwabacher an diesem sonnigen MÀrzmorgen nicht vorstellen.
Die 20-jĂ€hrige Ortrun Koerber wacht am Morgen des 16. MĂ€rz in einer kleinen HolzhĂŒtte am Oberen Dallenbergweg auf; die HĂŒtte gehört einem Freund der Familie. Die junge Frau hat im Jahr zuvor das Abitur an der Mozartschule abgelegt und ist danach zwangsweise in der Granatenproduktion bei der Firma Koenig & Bauer eingesetzt worden. Dort hat sie sich in den ebenfalls hier arbeitenden italienischen Kriegsgefangenen Carlo verliebt. Ende Januar ist der Vater Josef Koerber mit anderen WĂŒrzburger âVolkssturmâ-MĂ€nnern an die Ostfront geschickt worden.
Nachdem WĂŒrzburg am 19. und 23. Februar bombardiert wurde, wobei mehrere Hundert Menschen starben, haben Ortrun, ihre Mutter Louise Koerber und ihre Schwestern Ingrid und Ingeborg in der zweiten MĂ€rzwoche beschlossen, die Wohnung am Wittelsbacherplatz zeitweise zu verlassen und die NĂ€chte in der HĂŒtte auĂerhalb der Stadt zu verbringen. Mit dabei sind Carlo, Ingeborgs Freundin Rosita und der Familienhund Wuffi.
Ortrun Koerber und die anderen Bewohner der HĂŒtte am Oberen Dallenbergweg bereiten das Mittagessen auf einem improvisierten Herd im Obstgarten zu und suchen dann zusĂ€tzliches trockenes Holz fĂŒr das Feuer. Auch neues Wasser wird gebraucht, im Garten gibt es keine Leitung. In einer Pause setzt sich Ortrun hin und schreibt in ihr Tagebuch: âWenn wir Wasser holen wollen, mĂŒssen wir eine halbe Stunde gehen. Mitten im Wald ist eine kleine Quelle und ich mag den Weg dorthin. Weniger angenehm ist es allerdings, die schweren Eimer zurĂŒck zu schleppen.â
âHeute haben wir den Krieg fast vergessenâ, schreibt die 20-JĂ€hrige weiter. âEs ist, als ob wir ein Picknick machen wĂŒrden. Vielleicht ist der Krieg vorbei und wir wissen es nicht.â
Heute haben wir den Krieg fast vergessen. Ortrun Koerber
Etwa 110.000 Einwohner hat WĂŒrzburg am 16. MĂ€rz 1945, dazu leben rund 20.000 Insassen von Lazaretten und Kasernen in der Stadt, etwa 10.000 Evakuierte aus bombardierten GroĂstĂ€dten und eine unbekannte Anzahl von FlĂŒchtlingen aus Gebieten, die die Alliierten bereits besetzt haben.
Das kulturelle Leben ist weitgehend zum Erliegen gekommen, das Theater hat geschlossen, viele Menschen hungern, oft verlassen sie wie Georg Götz und Ortrun Koerber nachts aus Angst vor Bomben die Stadt, Gas- und Stromsperren sind an der Tagesordnung.
Der 16. MĂ€rz 1945 ist ein wolkenloser FrĂŒhlingstag â ideal fĂŒr einen Bombenangriff. Es ist so warm, dass die MĂ€dchen ihre Sommerkleider und die Buben ihre kurzen Hosen anziehen. Der Heeresbericht, der an diesem Tag in der MainfrĂ€nkischen Zeitung abgedruckt ist, soll Hoffnung verbreiten, obwohl jeder weiĂ, dass Deutschland den Krieg lĂ€ngst verloren hat. Von der erfolgreichen Verteidigung Breslaus ist im Heeresbericht die Rede, vom hervorragenden Kampfgeist der Infanterie und von Gegenangriffen, aber auch von âfeindlichem Bombenterrorâ und amerikanischen EinbrĂŒchen bei Remagen. In den fĂŒnf WĂŒrzburger Kinos laufen banale Unterhaltungsfilme, darunter im Odeon âMusik in Salzburgâ mit Lil Dagover und Willy Birgel, eine heitere Liebesgeschichte vor dem Hintergrund der Salzburger Festspiele.
Als am Morgen des 16. MĂ€rz 1945 in England die Koordinaten festgelegt werden, anhand derer am Abend ĂŒber WĂŒrzburg die Zielmarkierungen fĂŒr die Bomber platziert werden, lassen die Planer so gut wie alle Industriegebiete, Infrastruktur-Einrichtungen (auĂer dem am 23. Februar zerstörten Hauptbahnhof) und sĂ€mtliche MilitĂ€rinstallationen unberĂŒcksichtigt. Und dies, obwohl offiziell von der Zerstörung eines Industriezentrum bzw. feindlicher Kommunikations-Einrichtungen die Rede ist. TatsĂ€chlich sollen vor allem die historische Innenstadt und angrenzende Wohngebiete vernichtet werden. Einige der zunĂ€chst verschonten Bereiche, vor allem die an Kasernen reiche Zellerau, werden spĂ€ter die Amerikaner bombardieren, die meist PrĂ€zisionsangriffe bei Tage durchfĂŒhren.
Die WĂŒrzburger ahnen an diesem Vormittag des 16. MĂ€rz 1945 nicht, dass der Untergang ihrer Stadt bereits beschlossene Sache ist.
Manche klammern sich noch immer an den Glauben, die Stadt werde verschont, weil sich so viele Lazarette in ihren Mauern befinden. Dies trifft zwar zu, ist aber kein Grund fĂŒr die Alliierten, WĂŒrzburg nicht zu bombardieren. In der Stadt geht auch das GerĂŒcht herum, der britischen Premierminister Winston Churchill habe in WĂŒrzburg studiert; das stimmt nicht. Und auch dass es in der Stadt keine nennenswerte Industrie gibt, ist, wenn man genauer hinsieht, nicht ganz richtig.
Die wichtigsten Bombenangriffe auf WĂŒrzburg
TatsĂ€chlich aber ist mit der Errichtung eines Zweigwerkes der Schweinfurter Star Kugelhalter GmbH im Opel-Betrieb in der EichendorffstraĂe eine kriegswichtige ProduktionsstĂ€tte entstanden, was unter den BĂŒrgern betrĂ€chtliche Unruhe ausgelöst hat. Im November 1943 hatte OberbĂŒrgermeister Theo Memmel versucht, die WĂŒrzburger zu beruhigen. Dies werde der einzige Fall bleiben, der zudem nur vorĂŒbergehender Natur sei, hatte er gesagt. Im Rahmen des âtotalen Kriegsâ mussten WĂŒrzburger Firmen ihre KapazitĂ€ten zur VerfĂŒgung stellen. Bei der Stahlbaufirma Noell entstehen Teile von U-Booten; die Schnellpressen-Fabrik Koenig & Bauer repariert nach jedem Angriff auf Schweinfurt die dort beschĂ€digten Kugellagermaschinen und produziert Granaten. StĂ€dtische Betriebe, die Stadtwerke, der Schlachthof und der Holzhof, werden zu RĂŒstungszwecken freigegeben, hauptsĂ€chlich zum AbfĂŒllen von Munition. Dennoch hat sich WĂŒrzburg nicht zu einem wirklichen RĂŒstungszentrum entwickelt.
Allerdings ist die Stadt ein wichtiger Eisenbahnknotenpunkt mit einem Binnenhafen, in dem im Jahr 1943 beinahe eine Million Tonnen GĂŒter â Kohle, Erze, Getreide, Baumaterialien und Lebensmittel â umgeschlagen werden. Der seit 1935 ausgebaute Fliegerhorst am Galgenberg dient als Versuchsstation der Luftwaffe; in den vier gigantischen Hangars werden beschĂ€digte Flugzeuge repariert. Von militĂ€rischer Bedeutung sind auch die Kaserne des 55. Infanterieregimentes, die daneben liegende Artilleriekaserne, die Kaserne einer Heeresnachrichteneinheit und die Hindenburg-Kaserne.
Am 21. Juli 1944 sowie am 19. und 23. Februar 1945 haben die WĂŒrzburger Bombenangriffe auf die Innenstadt, den Hauptbahnhof und GrombĂŒhl erlebt, bei denen mehrere Hundert Menschen gestorben sind. Der 15-jĂ€hrige Fritz SchĂ€ffer, SchĂŒler an der Lehrerbildungsanstalt am Wittelsbacherplatz, hat am 19. und 23. Februar an RettungseinsĂ€tzen teilgenommen und das Chaos, das die Bomben schon damals auslösten, hautnah erlebt.
Bombardierung am 19. Februar 1945
Anderseits wissen die WĂŒrzburger, dass MaĂnahmen ergriffen worden sind, um die Bewohner bei Bombenangriffen zu schĂŒtzen, auch wenn sie natĂŒrlich, wie die letzten Tage gezeigt haben, keine völlige Sicherheit bieten können.
Die WĂŒrzburger Luftschutzleitung und die Stadtverwaltung sind durchaus auf einen GroĂangriff, wenn auch nicht auf die totale Zerstörung der Stadt vorbereitet. Um Fluchtwege aus der eng bebauten Innenstadt zum Main zu schaffen, sind zum Main hin mehrere DurchbrĂŒche geschaffen worden. Neben dem Holztor verschwand beispielsweise eine Stallung und neben dem Hotel Schwan (heute Wöhrl) in der BĂŒttnergasse ein kleines Haus. Diese MauerdurchbrĂŒche erweisen sich ebenso wie jene zwischen den Kellern der PrivathĂ€user der Innenstadt in der Nacht des 16. MĂ€rz 1945 fĂŒr Tausende als rettender Fluchtweg.
Weil die Stadt nicht als besonders luftgefĂ€hrdet gilt, bestanden die behördlichen Vorkehrungen vor allem im Bau und Ausbau von Luftschutzkellern in PrivathĂ€usern und AmtsgebĂ€uden. Unter dem Marktplatz und dem Sternplatz, bei der Tellsteige, unter dem Kriegerdenkmal im HusarenwĂ€ldchen, in den Bastionsmauern im Hofgarten und an der Jahnhöhe in Heidingsfeld befinden sich zudem öffentliche SchutzrĂ€ume. In einige Felsen sind Stollen gebohrt worden. Am 16. MĂ€rz 1945 sind sie nicht fertig, aber teilweise benutzbar: in der FĂŒchsleinstraĂe, in der Mergentheimer StraĂe bei der LöwenbrĂŒcke und an der Veitshöchheimer StraĂe.
Bunker und SchutzrÀume
Auch dass ein Angriff gewaltige Lösch-Anstrengungen nötig machen wird, wissen die Verantwortlichen. Zur Verbesserung der Wasserversorgung sind LöschwasserbehĂ€lter entstanden, zum Beispiel ein unterirdischer am Residenzplatz sowie ĂŒberirdische an Marktplatz, Wagnerplatz, Paradeplatz, Dominikanerplatz, an verschiedenen Stellen im Glacis, am Zeller Tor, vor dem Luitpoldkrankenhaus, vor der Stephanskirche, in der SedanstraĂe und der WeiĂenburgstraĂe.
Ihre BewĂ€hrung erleben diese BehĂ€lter am 16. MĂ€rz âzwar nicht im Sinne ihrer eigentlichen Bestimmung zum Löschen von BrĂ€nden, sondern als Oasen im Feuersturm, zu denen sich die gejagten Menschen flĂŒchteten, um Haut und Kleidung zu kĂŒhlen oder Decken und MĂ€ntel voll Wasser saugen zu lassen und damit den Weg ins Freie zu erkĂ€mpfen“ (Max Domarus).
Dass Luftschutzkeller, öffentliche SchutzrĂ€ume und LöschwasserbehĂ€lter im Fall eines GroĂangriffs nicht ausreichen werden, ist dem Durchschnitts-WĂŒrzburger wohl nicht bewusst. Ein Mann freilich hat das Chaos und den vieltausendfachen Tod des 16. MĂ€rz 1945 vorhergesehen: der 69-jĂ€hrige pensionierte Telegraphendirektor MatthĂ€us Schleypen. Am 31. August 1944 hat er einen Brief an die fĂŒr den Luftschutz zustĂ€ndigen WĂŒrzburger Behörden geschickt:
Am 16. MĂ€rz ist es inzwischen Nachmittag. Der neunjĂ€hrige Georg Götz ist ins Wohnzimmer geschickt worden, denn die Mutter braucht die KĂŒche fĂŒr sich, um neue Papierhemden fĂŒr die Firma Schlier zuzuschneiden und zu nĂ€hen. Er setzt sich an den Schreibtisch seines toten Vaters: âLeider konnte ich ihn nicht kennenlernen, da er sechs Wochen vor meiner Geburt an Lungen- und RippenfellentzĂŒndung gestorben warâ, berichtet er spĂ€ter. âHier saĂ ich nun und kramte in der oberen Schublade. Die goldene Sprungdeckeluhr von Papa lag in einem Etui. Ich nahm sie heraus und ging in die KĂŒche. Meine Mutter erlaubte mir, die Uhr mit in den Garten zu nehmen. Ich war mĂ€chtig stolz und lieĂ mir die Kette an meiner Hose festmachen. Es war wunderschönes Wetter, als wir zum Garten aufbrachen.â
Nach einigen Stunden beim Forsthaus Guttenberg drĂ€ngt Charlotte Ambrosch zum Aufbruch. Sie hat an diesem Tag Nachtdienst im âWarnkommando WĂŒrzburgâ und der beginnt um 19 Uhr. Zuvor muss sie noch einmal zurĂŒck in die Wohnung. âWir fahren ĂŒber den Dallenberg zurĂŒck an diesem Tag, der voller Sonne, WĂ€rme und Helligkeit ist. Ein Blick ins Tal, ein Blick auf unser WĂŒrzburg: Gibt es etwas Schöneres? Ich bin ĂŒberwĂ€ltigt und steige vom Rad ab; mein Begleiter schĂŒttelt den Kopf: Warum absteigen, wenn es schon bergab geht? Aber er muss wohl und ich zeige ins Tal, auf den Main, auf die Sanderau, weiter auf die vielen TĂŒrme und bin ganz entzĂŒckt â damals hat er bestimmt an meinem Verstand gezweifelt â, denn ich war auf einmal so gelöst, so voller Freude wie den ganzen Tag nicht und ich war so stolz auf meine Heimatstadt. Lange habe ich geschaut, zu lange. War das Vorahnung?â
Viele WĂŒrzburger hoffen noch immer, dass WĂŒrzburg auch an diesem Tag vor einem GroĂangriff verschont bleiben wird. Ob einer von ihnen zurĂŒckdenkt an die Jubelartikel, die 1940 im âWĂŒrzburger General-Anzeigerâ erschienen sind, als die deutsche Luftwaffe England angriff und viele Menschen umkamen?
Wohl kaum. Das eigene Ăberleben bis zum Ende des Krieges, bis zur unausweichlichen Niederlage, steht im Mittelpunkt, das ist verstĂ€ndlich.
1940 hatte Hitler befohlen, englische StĂ€dte in Schutt und Asche zu legen. Der âWĂŒrzburger General-Anzeigerâ meldete im August 1940 triumphierend, dass eine âfĂŒrchterliche Angstwelleâ England erfasst habe: âTag fĂŒr Tag blieben stundenlang und leichenblass die Menschen in den Luftschutzkeller gebannt. Entsetzliche Explosionen, das Krachen der GeschĂŒtze und der Donner der Motoren erfĂŒllten die Luft, es war die Hölle.â
Ein Kriegsberichterstatter schilderte den Brand von London aus der Beobachtungskanzel eines deutschen Bombers: âDie Hölle ist unter uns ausgebrochen. Wer beim Angriff in diesem zur Brandhölle entfachten Teil angetroffen wurde, ist â gleichgĂŒltig ob im Keller, auf dem Dach, auf der StraĂe, im Hafen oder an der Maschine â rettungslos verloren. In diesem glĂŒhenden Chaos ist nichts mehr zu helfen.â Das Flugzeug lasse beim RĂŒckflug âein Meer des Grauens, eine lodernde SchuttwĂŒsteâ hinter sich.
Dass Zivilisten Opfer waren, wurde keineswegs verschwiegen. Im Gegenteil: Auf ihre Zahl war man stolz. Unter Berufung auf die britische Presse hieĂ es im âGeneral-Anzeigerâ: âSoweit man bisher ĂŒbersehen könne, habe es Tausende von Opfern in der einen Angriffsnacht auf Coventry unter der Bevölkerung gegeben.â Ein Kommentator ĂŒberschlug sich vor Unbarmherzigkeit âEs gibt keine Gnade mehr, jede weiche Regung ist ersticktâ, schrieb er zu den âFeuergrĂ€bern fĂŒr Tausende von Menschenâ.
Am Nachmittag des 16. MĂ€rz 1945 bekommt der 14-jĂ€hrige Werner Fuchs den Befehl vom âBannâ, der höchsten Instanz der Hitlerjugend in WĂŒrzburg, mit etwa 20 ihm unterstellten Jungvolk-Mitgliedern (âPimpfenâ) noch am selben Abend im Alten Gymnasium (heute PolizeigebĂ€ude am Johanniterplatz) zum Luftschutz-Dienst zu erscheinen. Fuchs: âIch war nur einer von etwa einem halben Dutzend JungvolkfĂŒhrern, die mit dem gleichen Befehl wie ich, nur in anderen LuftschutzrĂ€umen, ihren Dienst antreten sollten. In einer Zeit, wo fast niemand ein Telefon besaĂ, war es nicht einfach, in so kurzer Zeit genĂŒgend zwölf- bis 13-jĂ€hrige Pimpfe zu verstĂ€ndigen und von den Eltern die Versicherung zu erhalten, dass sie auch erscheinen wĂŒrden. Es gelang mir, etwa die HĂ€lfte der 20 Buben zu verstĂ€ndigen. Dann musste ich selbst daheim meinen Eltern die Wichtigkeit meiner Aufgabe beschreiben und ihnen erklĂ€ren, dass ich auch ohne ihre Zustimmung zum Dienst zu erscheinen habe. Ich erreichte mein Ziel gerade noch, bevor die Sirenen heulten. Mit meinen SchĂŒtzlingen begab ich mich in den Keller des ehemaligen Klosters, der ein öffentlicher Luftschutzraum war und sich schnell mit Frauen und Kindern fĂŒllte.
Der neunjĂ€hrige Georg Götz ist inzwischen mit der Mutter und einer Tante sowie zwei weiteren Frauen wie gewohnt zum Garten des GroĂvaters am Oberen Schalksberg gegangen. Die GroĂmutter befindet sich bei Verwandten in Rimpar. Georg Götz: âBis zum Abendessen war noch etwas Zeit und so konnte ich im Garten â bis ich gerufen wurde â noch etwas spielen. Als wir bei Tisch im HĂ€uschen zusammensaĂen, holte ich die Uhr meines Vaters aus der Tasche und zeigte sie Opa. Er war gleich ziemlich Ă€rgerlich und schimpfte mit meiner Mutter. âMan kann doch dem Kind nicht so eine Uhr gebenâ, sagte er böse. Darauf nahm er die Uhr an sich und verstaute sie im Schrank. Ich weiĂ, dass ich mich auffĂŒhrte, aber es half nichts.â
Zwischen 17 und 18 Uhr starten in SĂŒdengland 236 Maschinen der Bombergruppe Nr. 5 der Royal Air Force in Richtung WĂŒrzburg: 225 Lancaster-Bomber und elf Mosquito-Jagdbomber. 13 Lancaster drehen wegen technischer Probleme um, so dass schlieĂlich 212 Lancaster und elf Mosquitos die Stadt angreifen werden. Die Gruppe gilt als besonders erfahrenes Elitegeschwader.
Charlotte Ambrosch hat den Anblick von WĂŒrzburg so lange genossen, dass keine Zeit mehr bleibt, um noch nach Hause zu fahren. Schon vor 19 Uhr, ihrem Dienstbeginn, trifft sie im âWarnkommando WĂŒrzburgâ im Bischofspalais ein. Nach und nach kommen die Kolleginnen. âAlle waren guter Stimmung, ein jeder erzĂ€hlte, was er an diesem wunderschönen FrĂŒhlingstag unternommen hatte. Trotz Krieg und schwerer Sorgen waren wir ein munteres HĂ€ufchen. Kaum hatten wir uns ausgeplaudert, kam eine Feindmeldung und wir mussten Luftwarnung geben. Das war ungefĂ€hr um 19.45 Uhr. Um 20 Uhr wieder Entwarnung. Ich schrieb meinen Bericht, warum und wieso, denn ich war die erste Auswerterin und dafĂŒr zustĂ€ndig.â
Ortrun Koerber und die anderen Menschen im Garten am Oberen Dallenbergweg hören den Alarm. Trotzdem legen sie sich wie gewohnt hin. Luftalarme gibt es inzwischen in WĂŒrzburg jede Nacht und meistens fallen keine Bomben, weil die Flugzeuge andere Ziele ansteuern. AuĂerdem befindet sich ihre HolzhĂŒtte weit von der Innenstadt entfernt.
Hans Schwabacher und seine BrĂŒder sind schon im Keller. âWie an jedem Abend gingen wir in den Luftschutzkeller unter unserem Haus. Jeder trug ein kleines Köfferchen mit Lebensmitteln â Ăpfel und Brot fĂŒr den Fall, dass in dieser Nacht das Ende kommen wĂŒrde. Wie jeden Abend verabschiedeten wir uns von unserem geliebten Haustier, einem kleinen gelben Kanarienvogel. Das war mit das Schwerste â den Kanarienvogel alleine oben zu lassen.â
âDer Abend war ruhig und versprach eine ebensolche Nacht zu werdenâ, notierte Charlotte Ambrosch spĂ€ter. âAber denkste! So gegen 20.30 Uhr bekamen wir eine Meldung, dass feindliche Flugzeuge, langsame Maschinen, ĂŒber dem Bodensee im Raum Ulm seien, spĂ€ter eine Meldung, dass sich die Flugzeuge geteilt haben und nach Osten und Norden weiterfliegen. Etwa um 20.50 Uhr erhielten wir einen Anruf vom Luftkommando in Frankfurt, dem wir unterstellt waren, Alarm zu geben. Wir waren sprachlos. Wieso? Ohne Feindmeldung! Das geht nicht, wir brauchen fĂŒr unser Tun eine Unterlage, wir brauchen eine Meldung, dass Feindflugzeuge im Anflug sind. Ratlosigkeit. Wer ĂŒbernimmt die Verantwortung?
Auf einmal ging die TĂŒr zum Befehlsraum, in dem auch ich saĂ, auf, und ein Luftwaffenbediensteter, der bei uns einen extra kleinen Raum hatte, den wir nicht betreten durften, kam herein. Er war blass, keine Farbe mehr im Gesicht. Zitternd konnte er noch die Worte sagen: âEs gibt einen ganz groĂen Bum, sofort Fliegeralarm geben, Befehl vom höchsten Luftfahrtkommando!â Nie werde ich den jungen Mann vergessen können, der in diesem Moment ausgedrĂŒckt hat, wie sehr er Angst um sein Leben hatte, vielleicht auch um unser Leben. âWir mĂŒssen doch Luftlagemeldungen an die Ăffentlichkeit geben!â – âDazu ist keine Zeit!ââ
Um 21 Uhr tönen die Sirenen, lang und schaurig. Charlotte Ambrosch: âWir verlĂ€ngern diese grausamen Töne, um der Bevölkerung die Dringlichkeit kundzutun. Gleichzeitig können wir nur immer wieder ĂŒber das Radio sagen, dass die Luftschutzkeller unbedingt aufzusuchen sind, immer und immer wieder! Unsere Dienststelle ist ein summender Bienenkorb, die vielen Anrufe, die Durchsagen und die Ratlosigkeit, die Angst. Wir können noch erfahren, dass es englische Bomber sind, die langsam auf WĂŒrzburg zufliegen.â
Am Oberen Schalksberg sitzen Georg Götz und die anderen nach dem Tischgebet beim Abendessen. Von der Stadt herauf heulen die Sirenen. Keiner lĂ€sst sich ablenken, alle essen weiter, es gibt Kartoffeln mit Salz, Butter und KĂ€se. Georg Götz: âWir waren noch nicht fertig, als meine Tante mal schnell den Raum verlieĂ und ins Freie ging. Hastig und aufgeregt kam sie sofort zurĂŒck und rief, dass ĂŒber dem Luitpoldkrankenhaus und dem Flugplatz âChristbĂ€umeâ am Himmel stehen. Alle verlieĂen sogleich das HĂ€uschen und wir sahen, wie die rötlichen Leuchtkugeln langsam herunterkamen. Jetzt war es Opa, der zum ZurĂŒckkehren ins Haus aufforderte. Tante Gusti fing an, den Rosenkranz zu beten. Ich weiĂ nicht mehr, wie viel Zeit verging, bis es zu den ersten EinschlĂ€gen kam. Jedenfalls fing es an, dass ohrenbetĂ€ubende Detonationen von der Stadt herauf drangen. Der Krach wurde stĂ€rker und stĂ€rker, und ich hatte auf einmal unheimliche Angst.â
Auch Ortrun Koerber und die anderem am Oberen Dallenbergweg hören die Flugzeuge. Carlo geht hinaus, um nachzusehen. Alles ist zunĂ€chst noch ruhig und er kommt wieder in die HĂŒtte und setzt sich auf seine Matratze. Aber er ist unruhig und lĂ€sst die TĂŒr auf. Mit einem Mal wird die HĂŒtte von einem unheimlichen gelben Licht durchflutet, das von drauĂen kommt. Ortrun Koerber: âWir wussten sofort, was los war. Wir hatten solche Todesangst, dass wir wie gelĂ€hmt waren. Wir wollten unsere MĂ€ntel und Schuhe holen, aber nichts schien an dem Platz zu sein, wo wir es eine Stunde zuvor hingelegt hatten. In der Stadt fielen die ersten Bomben, ein bestĂ€ndiges, immer lauter werdendes Donnerrollen. Rosita verlor die Nerven, sie warf sich auf den Boden und schrie vor Panik. Carlo zog sie hoch, und wir liefen aus der HĂŒtte.â
WĂŒrzburg im Feuersturm
Die englischen Flugzeuge ĂŒberfliegen ab 21.25 Uhr einen mit Leuchtbomben gekennzeichneten Markierungspunkt â die SportplĂ€tze an der Mergentheimer StraĂe â und spreizen sich von dort aus auf, jedes mit einem eigenen Kurs und einem vorher festgelegten Zeitpunkt zum Ausklinken der Bombenlast.
Am Oberen Dallenbergweg herrscht Panik. âWas sollen wir machen? Wohin sollen wir gehen?â, ruft jemand. Ortrun Koerber: âWir hĂ€tten versuchen können, zum Bauern in seinen Keller zu gelangen oder in den Wald, aber in unserer Panik wussten wir nicht, was wir tun sollten und wohin wir gehen sollten. Die Angst lĂ€hmte uns, wir schienen unfĂ€hig, uns zu bewegen. Bomben fielen und explodierten ganz in unserer NĂ€he. Mutti schrie: âLauft zur Grube hinter dem Kirschbaum!â Wir machten uns auf, ohne zu ĂŒberlegen, ob wir das Richtige taten. Wir befolgten einfach nur den Befehl von jemandem, dessen Stimme AutoritĂ€t ausstrahlte. Der Kirschbaum steht nur einige Meter von der HĂŒtte entfernt, aber niemals schien er mir so weit weg wie in diesen Augenblicken, als es mir kaum zu gelingen schien, hinzukommen.â
âWir lagen im feuchten Gras. Rosita war jetzt still, aber Ingrid weinte herzerweichend und starrte uns mit furchterfĂŒllten Augen an. Es war so fĂŒrchterlich, der betĂ€ubende Donner der Bomben, das morbide, unnatĂŒrliche Licht und der Tod, der so nah war. Abertausende von Bomben wurden abgeworfen. Die Explosionen betĂ€ubten uns fast und lieĂen uns nach Luft schnappen. Carlo rief unsere Namen und drĂŒckte uns auf den Boden. âBleibt, wo ihr seidâ, sagte er immer wieder. âEs ist zu spĂ€t, um irgendwo anders hinzugehen. Uns wird nichts geschehen.â Ich lag ganz nah bei ihm und sein Mut gab mir Kraft. Aber auch er wusste, dass jeder Augenblick unser Leben beenden konnte, und wĂ€hrend die ganze Welt um uns zu explodieren schien, kĂŒsste er mich zum Abschied.â
Im Keller in der DomerschulstraĂe sitzen die drei Schwabacher-Buben. Hans Schwabacher: âVoller Schrecken hörten wir die Bomben fallen, eine Explosion folgte der anderen so schnell, dass unser Keller bebte. Wir kuschelten uns aneinander, hielten einander fest und fragten uns, ob wir die Nacht ĂŒberleben wĂŒrden.â
Am Oberen Schalksberg gibt es einen gewaltigen Schlag. Eine Bombe hat das Gartenhaus getroffen; sie fĂ€llt genau zwischen dem HĂŒhnerstall und der rĂŒckwĂ€rtigen Hauswand herab. Georg Götz: âDas Geschirr polterte aus dem Schrank, auĂerdem hörte man den LĂ€rm der HĂŒhner. Opa verlieĂ als Erster den Raum, ihm folgten Tante Gusti und die beiden Frauen. Meine Mutter und ich waren noch im HĂ€uschen, als ein zweiter Schlag in unmittelbarer NĂ€he alles erzittern lieĂ. Meine Mutter rief schnell: ,Wir mĂŒssen raus!â â und schon eilte sie zur TĂŒr und verschwand im Freien. Sie dachte wohl, dass ich ihr hinterher folge, aber ich zögerte. Ich wollte gerade durch die TĂŒr springen, als genau vor mir auf der TĂŒrschwelle eine Brandbombe einschlug. Ich sah nur noch Feuer, das wie eine Wand vor mir die ganze TĂŒr ausfĂŒllte. Ich schrie und wusste nicht, was ich tun sollte. Es war meine Mutter, die sich umdrehte, durch das Feuer hindurch langte und mich herauszog. Das Ganze spielte sich in nur wenigen Sekunden ab.â
âDas Gartenhaus war zwar ziemlich massiv gebaut, aber es brannte bereits lichterloh. Opa kam uns entgegen, er trug zwei Wassereimer, die er aus der Zisterne gefĂŒllt hatte, und wollte löschen. Es war zu spĂ€t. Meine Mutter zog mit aller Kraft ein kleines Sofa und einige Betten aus der brennenden Laube. Auch mein GroĂvater brachte noch einige unbedeutende Dinge in Sicherheit.â
Im âWarnkommando WĂŒrzburgâ erlebt Charlotte Ambrosch den Angriff: âDas Gedonner ging los, ein riesiges Trommelfeuer; der Staub kam von unten, aus dem FuĂboden, die Erde bebte! Wir waren so um die zwölf MĂ€dchen und ein AblösungsfĂŒhrer. In der âWeitergabeâ, vom Befehlsraum durch eine Glaswand getrennt, saĂen zehn MĂ€dchen an den RundspruchschrĂ€nken, die Köpfe eingezogen und Decken umgehĂ€ngt. WeiĂ Gott, wo sie die herhatten, ich hatte keine. Ich hörte nur noch das Gewimmer und die Schreckensrufe, wenn eine Bombe auf das Palais einschlug.â
Das Gedonner ging los, ein riesiges Trommelfeuer. Charlotte Ambrosch
Werner Fuchs hat sein Ziel, das Alte Gymnasium, gerade noch rechtzeitig erreicht, bevor die Sirenen heulen und Fliegeralarm verkĂŒnden. Mit seinen SchĂŒtzlingen begibt er sich sofort in den Keller des ehemaligen Klosters, der auch ein öffentlicher Luftschutzraum ist und sich schnell mit Frauen und Kindern aus den umliegenden HĂ€usern fĂŒllt. Da das ganze GebĂ€ude unterkellert ist, gibt es mehrere SchutzrĂ€ume, die durch GĂ€nge miteinander verbunden sind, von denen aus Treppen nach oben fĂŒhren.
âIn der Ecke unseres Raumes stand ein merkwĂŒrdiges GerĂ€t, das laut dort angebrachter Beschreibung eine Luftpumpe war, die im Notfall im Keller eingeschlossene Insassen mit Frischluft versorgen sollteâ, schreibt er spĂ€ter. âWir hatten gerade noch Zeit, die Gebrauchsanweisung zu lesen und uns mit der Bedienung vertraut zu machen, als das Licht ausging und eine gewaltige Detonation uns auf den Boden warf. Dann war Totenstille, oder so schien es wenigstens. In Wirklichkeit waren unsere Ohren von der Explosion so sehr betĂ€ubt, dass wir fĂŒr eine ganze Weile ĂŒberhaupt nichts hören konnten.â
Langsam kommt das Gehör zurĂŒck, und damit auch das Bewusstsein, dass eine Bombe ganz in der NĂ€he eingeschlagen ist. Die Luft ist so geladen mit Staub, dass man kaum atmen kann und nicht einmal eine Kerze will brennen. Da erinnert sich der 14-JĂ€hrige an die Luftpumpe, die er kurz vorher entdeckt hat. âUnter meinen Anweisungen pumpten zwei Buben an jeder Seite und in kĂŒrzester Zeit konnten wir freier atmen. Als mit ein paar Kerzen der Raum sehr dĂŒrftig beleuchtet wurde, erkannten wir, dass der Zugang von oben zugeschĂŒttet war und somit unser Ausgang sowie der Weg in den nĂ€chsten Raum blockiert waren. Offensichtlich hatte ein Volltreffer das GebĂ€ude ĂŒber uns zerstört; die Gewölbe des alten Klosters aber hielten stand.â
Alle im Keller Gefangenen bleiben verhĂ€ltnismĂ€Ăig ruhig, nur einige Kinder schreien, manche Frauen weinen, andere beten, aber es gibt keine Panik. Immer wieder bebt der Boden, wenn neue Bomben einschlagen.
Auf WĂŒrzburg fallen zwischen 21.25 Uhr und 21.42 Uhr an jenem 16. MĂ€rz fast 1000 Tonnen Bomben: 5,2 Tonnen Markierungsbomben, 389,3 Tonnen Sprengbomben und 572,5 Tonnen Brandbomben.
Die meist zwei Tonnen schweren Sprengbomben, teils mit ZeitzĂŒnder versehen, decken DĂ€cher ab, zerstören Wasserleitungen und bilden Krater in den StraĂen, die Löschtrupps den Weg versperren. Rund 310 000 Stabbrandbomben entzĂŒnden die jetzt offenen HĂ€user, in denen Zugluft wie in einem Kamin jeden kleinen Brandherd zum GroĂbrand anwachsen lĂ€sst. WĂ€hrend des Angriffs kreist ein englisches Flugzeug ĂŒber WĂŒrzburg und filmt, wie die einzelnen Brandherde zusammenwachsen.
Karte der SchĂ€den in WĂŒrzburg
Ein Bomber wird ĂŒber der Stadt abgeschossen. Sechs Mann der Besatzung sterben beim Abschuss. Einer, Donald G. Hughes, wird zwei Tage spĂ€ter von einem SS-Offizier in Sommerhausen erschossen, nachdem der RAF-Soldat aus seinem Versteck in Eibelstadt herausgekommen ist. FĂŒnf weitere Lancaster gehen verloren; insgesamt fallen 49 Mann der Flugzeugbesatzungen oder werden gefangen genommen.
UnzĂ€hlige Menschen sterben in den WĂŒrzburger LuftschutzrĂ€umen und Kellern, weil die AusgĂ€nge blockiert sind. Rauch dringt ein, KohlenvorrĂ€te geraten in Brand und setzen das tödliche, geruchlose Kohlenmonoxid frei.
Georg Götz und die anderen im Garten hoch ĂŒber GrombĂŒhl sitzen in der NĂ€he des Gartenhauses, das in Flammen steht. Erst jetzt wird dem NeunjĂ€hrigen bewusst, dass es im ganzen Garten brennt. Ăberall liegen Brandbomben und vom Garteneingang lĂ€uft eine brennende FlĂŒssigkeit den Weg hinunter. Die ganze Stadt ist in Feuer gehĂŒllt und es kracht ununterbrochen. âWas man von hier aus sah, war unbeschreiblich. An Schlaf war in dieser Situation nicht zu denken. Mutter hatte laufend mit dem Funkenflug zu tun, der sich auf uns und den Betten niederlieĂ. Es half nicht viel, ĂŒberall gab es Brandflecken und Löcher.â
Langsam geht der Angriff zu Ende: âDie Detonationen in der Stadt wurden weniger, das unheimliche Brummen in der Luft lieĂ nach, doch das Brausen eines Sturmes blieb“, schildert Georg Götz. âRauch und Brandgeruch machten sich breit. Plötzlich donnerten ĂŒber uns einige Flugzeuge hinweg. Sie flogen ziemlich tief, kamen von der Stadt her und verschwanden in Richtung Rotkreuzhof. Ich hatte unheimliche Angst, weil sie so nah und so groĂ waren. Die Kanzeln der Piloten waren hell erleuchtet. Meine Mutter drĂŒckte mich an sich und beruhigte mich.â
Georg Götz weiter: âTante Gusti war auf einmal auch wieder da und stand bei Opa am zerstörten HĂ€uschen. Mit einer Hacke zog er verkohlte und noch brennende Balken auseinander, denn er wollte den Eingang zum Keller freilegen. Auf einmal kamen zwei MĂ€nner den Gartenweg herunter. Es waren Johann Eitel, der Schwager von Opa, und dessen Sohn Albert aus Rimpar. Sie kamen noch in der Nacht ĂŒber den alten Stadtweg, um zu helfen. Sie hielten es nicht fĂŒr möglich, dass hier hoch ĂŒber der zerbombten Stadt auch das Gartenhaus daran glauben musste. Sie erzĂ€hlten aber auch aufgeregt, dass der Rotkreuzhof in Flammen stehe. Opa hatte zwischenzeitlich den Kellereingang freigelegt und kam mit einer Kanne Most herauf. Kaum oben angelangt, brach hinter ihm die Decke ĂŒber dem Keller in sich zusammen. Ich sah, wie er weinte.â
Plötzlich ist alles vorbei. Die Lichter verschwinden vom Himmel, die Flugzeuge sind weg. Am Oberen Dallenbergweg ist Ortrun Koerber erleichtert: âWir lebten. Wir konnten aufstehen und zu unserer HĂŒtte zurĂŒckgehen. WĂŒrzburg verbrannte in einem Meer von Flammen. Riesige Wolken aus Feuer und Rauch stiegen aus der Stadt empor; sogar der Wald ĂŒber uns brannte. Ein Sturm, so stark wie ein Orkan, tobte. Die ganze Nacht lieĂen die Detonationen der Zeitbomben unsere kleine HĂŒtte erzittern, und die ganze Nacht kauerten wir da, so schreckerfĂŒllt, dass wir nicht reden konnten.â
Unten im Tal das Inferno: EinstĂŒrzende Mauern erschlagen in den StraĂen Menschen, die durch den Funkenregen hetzen. Andere werden von mit SpĂ€tzĂŒnder versehenen Bomben zerfetzt. Ăberlebende mit verbrannten Haaren, rauchgeschwĂ€rzten Gesichtern und entzĂŒndeten Augen verbringen die Nacht im Ringpark, andere strömen in umliegende Ortschaften.
Viele HĂ€user in der Altstadt sind aus Holz errichtet und verfĂŒgen nicht ĂŒber ordentliche Brandmauern. Dies sowie die Wirkung der Sprengbomben erleichtern es den BrĂ€nden, zusammenzuwachsen. Ăber WĂŒrzburg bildet sich eine gigantische HeiĂluftsĂ€ule, die orkanartige, glĂŒhend heiĂe StĂŒrme produziert und tausende Tonnen Sauerstoff ansaugt. Gegen das Feuer mit Temperaturen bis zu 2000 Grad versagen alle Mittel. Nur in EinzelfĂ€llen gelingt es den Feuerwehren aus WĂŒrzburg und von auswĂ€rts, HĂ€user zu retten. Die Hitze ist so groĂ, dass Besteck schmilzt und sich das Zifferblatt einer historischen Uhr im MainfrĂ€nkischen Museum verformt.
Irmgard Sahlender ist am 16. MĂ€rz 1945 20 Jahre alt. Um ihre Erinnerungen zu hören, fahren Sie mit der Maus ĂŒber das Bild und klicken auf das Play-Symbol in dem sich öffnenden Fenster.
Augenzeugenbericht von Irmgard Sahlender ĂŒber den 16.MĂ€rz
In Charlotte Ambroschs Dienststelle kommen nach einem kurzen Moment der Beruhigung die Sorgen um die Angehörigen; alle beten. Charlotte denkt auch an das Fahrrad, mit dem sie vor ein paar Stunden den Ausflug zum Guttenberger Forst gemacht hat und das im bischöflichen Hof steht. Es gehört nicht ihr, sondern ihrer SchwĂ€gerin, sie will es in Sicherheit bringen: âIrgendwie habe ich es geschafft, aber fast unter dem Einsatz meines Lebens, denn direkt neben dem Eingang in der HerrnstraĂe war damals ein Kino, und die Filme fingen explosionsartig Feuer. Es war eine Hitze, dass man nicht atmen konnte, so unheimlich heiĂ, dass ich glaubte, mein Gesicht sei verbrannt.â Es gelingt der 23-JĂ€hrigen, das Rad in den Keller zu tragen.
In der Dienststelle herrscht Ratlosigkeit. Was nun? Arbeit gibt es keine mehr, denn sĂ€mtliche Leitungen sind unterbrochen. Also bekommen die MĂ€dchen auch keine Meldungen mehr und wissen nicht, was drauĂen los ist. Ist nur die Innenstadt betroffen? Vielleicht ist GrombĂŒhl, wo sie wohnt, verschont geblieben? Dann stellt sich plötzlich heraus, dass doch noch eine Leitung offen ist â die zum Betonbunker von Gauleiter Otto Hellmuth am Letzten Hieb in der Rottendorfer StraĂe. Von dort kommt ein unmenschlicher Befehl. Charlotte Ambrosch: âDort saĂ unser Warnkommando-Chef. Er gab den Befehl: Keiner darf die Dienststelle verlassen, das ist eine militĂ€rische Dienststelle â die muss besetzt bleiben! Wir waren ja alle gewohnt, uns unterzuordnen, aber langsam wurde uns unsere Nutzlosigkeit doch bewusst: zuhause die Angehörigen â vielleicht hĂ€tte man helfen können â, und das Wissen, eingesperrt zu sein, komme, was da wolle. Zwischendurch immer das Explodieren von ZeitzĂŒndern oder was auch immer, das Wissen, dass ĂŒber uns das Haus brennt, die Hitze, die wenige Luft, der Rauch, die namenlose Ungewissheit.â
Im Keller unter dem âMischlingshausâ in der DomerschulstraĂe 25 sitzen Hans Schwabacher und seine BrĂŒder. âWir hatten GlĂŒck, dass es in dem elenden Haus einen sehr tiefen Keller gabâ, notiert er 2003 in seinen Lebenserinnerungen. âWĂ€hrend der Bombardierung stĂŒrzte das Haus zusammen und geriet in Brand. Wir verlieĂen unseren Keller durch einen Gang, der ihn mit einem anderen Haus verband. Wir gingen im Untergrund von Haus zu Haus; das fĂŒnfte war noch nicht ganz eingestĂŒrzt. Wir gingen hinaus und sahen totale Zerstörung. Es regnete Feuer, das nicht zu löschen war. Wir liefen zu einem der Springbrunnen im Hofgarten, tauchten TĂŒcher hinein und legten sie uns um den Kopf â in der Hoffnung, dass der Stoff uns vor dem Feuer beschĂŒtzen wĂŒrde und uns so lange atmen lieĂ, bis wir den etwas gerĂ€umigeren Luftschutzraum im Park erreicht hatten. Wir rasten durch den Hofgarten, mit den TĂŒchern um den Kopf.â
âDer einzige Grund, warum wir in dieser Nacht nicht gestorben sind, ist, dass wir aus dem Keller unter unserem Haus herauskamen. Nicht jeder aus unserem Keller ĂŒberlebte. WĂ€hrend wir nach einem gröĂeren und besseren Schutzraum suchten, blieben andere im Keller des schrecklichen Hauses. Die blieben, waren den Tod geweiht. Einige kamen zu spĂ€t heraus oder sie liefen auf die StraĂe, anstatt durch die unterirdischen GĂ€nge zu gehen. Das waren jene, die wir spĂ€ter fanden, lebendig verbrannt.â
Nach seiner Auswanderung in die USA wird der inzwischen 15-jĂ€hrige Hans Schwabacher, der sich jetzt John nennt, in der Schule ein Bild malen, das seinen Weg zum Schutzraum im Hofgarten zeigt â ein einmaliges und bisher nur in seinen Memoiren veröffentlichtes Dokument, das sich jetzt im Johanna-Stahl-Zentrum fĂŒr jĂŒdische Geschichte in Unterfranken befindet. Er nennt es âAuf der Jagd nach Sicherheitâ.
âDie Geschichte, die ich erzĂ€hlen werde, ereignete sich in einer kleinen Stadt in Deutschland. Ihr Name ist WĂŒrzburgâ, schreibt er in einem Text auf dem Bild. Beim Datum tĂ€uscht er sich; er verlegt das traumatische Geschehen auf den 15. MĂ€rz. âIch lebte in WĂŒrzburg, bevor ich nach Amerika kam. Wie ĂŒblich hielt ich mich abends mit meinen BrĂŒdern im Luftschutzkeller unter unserem Haus auf. Plötzlich wurde das Haus von Bomben getroffen und wir merkten, dass das Haus brannte. Wir versuchten, durch die TĂŒr hinauszukommen, aber die TĂŒr war durch brennende Holzbalken versperrt. Wir versuchten, durch den Notausgang hinauszukommen, aber schlieĂlich gelangten wir durch ein weiteres brennendes Haus in die Kettengasse.â
Fahren Sie mit der Maus ĂŒber den Fluchtplan und klicken Sie sich gegen den Uhrzeigersinn durch Johns Zeichnung, um sich seine Geschichte anzuhören.
Hans Schwabachers Fluchtzeichnung
John findet fĂŒr seine amerikanischen MitschĂŒler englische Namen fĂŒr die StraĂen, durch die er und die anderen hasten. Die Kettengasse nennt er âChain Alleyâ, die DomerschulstraĂe âCathedral Streetâ (Dom heiĂt auf Englisch âcathedralâ), die Balthasar-Neumann-Promenade, von den WĂŒrzburgern Schwarze Promenade genannt, wird zur âBlack Forest Avenueâ.
John weiter: âWir sahen, dass nicht nur die HĂ€user in unserer StraĂe brannten, sondern die ganze Stadt. Wir versuchten, uns in der Orangerie (im Text schreibt John âconservatoryâ) in Sicherheit zu bringen, aber sie brannte ebenfalls. Dann gingen wir zum Teich, um unsere Kleider mit Wasser zu trĂ€nken, um uns gegen die herumfliegenden Funken zu schĂŒtzen. Auch die meisten BĂ€ume brannten, und wir mussten durch BĂŒsche kriechen. SchlieĂlich gelang es uns, einen sicheren Platz in einem anderen Luftschutzraum zu finden, der tief in die Felsen gehauen war.â
John berechnet die Entfernung vom Keller zum Schutzraum: 540 Yards, also 494 Meter. Er schreibt auf sein Bild, wie lange es gedauert hat, um vom Keller zur sicheren Unterkunft zu gelangen: etwa sieben Minuten.
Werner Fuchs ist mit den ihm unterstellten Jungvolk-âPimpfenâ und den vielen Schutzsuchenden in diesem Moment noch immer im verschĂŒtteten Keller unter dem Alten Gymnasium. Es gibt ein paar Kellerfenster hoch oben, die als NotausgĂ€nge dienen und die nur erreichbar sind, wenn man auf den dafĂŒr in die Wand eingemauerten Sprossen hinaufklettert. Aber: Die Fenster sind unter Schuttmengen begraben. Nun kommt es darauf an, dass sie von auĂen freigelegt werden.
Es scheint eine Ewigkeit zu dauern, bis sich die Retter wenigstens zu einem der Fenster durchgearbeitet haben; die Evakuierung kann beginnen. âNun sahen wir auch, dass drauĂen alles in Flammen stand und gröĂte Eile nötig warâ, erinnert sich Werner Fuchs. âUnter gewaltigen Anstrengungen und nur durch allgemeine Zusammenarbeit gelang es, besonders die Ă€lteren, zum Teil behinderte Frauen an der Wand hoch zu befördern, wo dann von drauĂen helfende HĂ€nde sie ins Freie zogen. Auch Kleinkinder waren ein Problem, und nicht zuletzt die wenigen Habseligkeiten, die jeder mit in den Keller gebracht hatte und unter keinen UmstĂ€nden zurĂŒcklassen wollte.â
SchlieĂlich ist der Keller komplett gerĂ€umt. DrauĂen herrscht eine unbeschreibliche Hitze; alle rennen, so schnell sie können, hinunter an den Main, tauchen die mitgebrachten Wolldecken ins Wasser und bedecken sich damit, um sich vor Hitze und Funkenflug zu schĂŒtzen. Unter dem Schutz der nassen Decken wagen sich Werner Fuchs und einige andere Jungen noch einmal zwischen die brennenden HĂ€user, um ein paar Frauen mit Kindern und mit GepĂ€ck aus der Johannitergasse hinunter an den Main zu helfen. Es ist allerhöchste Zeit, denn herabfallende Balken und einstĂŒrzende HĂ€user hĂ€tten ihnen bald den Weg versperrt.
Werner Fuchs: âWie es schien, war jetzt die ganze Stadt in Flammen und auch am linken Mainufer brannte es ĂŒberall. So schlossen wir uns dem Strom von fliehenden Menschen dicht am Ufer entlang bis nach Randersacker an, wo wir in der Turnhalle Notquartiere fanden.â
Im Keller unter dem Bischofspalais mĂŒssen Charlotte Ambrosch und die anderen jungen Frauen noch immer ausharren. Das Verlassen der âmilitĂ€rischen Dienststelleâ ist ihnen strengstens verboten. Doch nicht alle sind so verblendet. Charlotte Ambrosch: âHerr Schnackig, unser AblösungsfĂŒhrer, hat ein paarmal gewagt, bei unserem Chef telefonisch fĂŒr uns zu bitten. Er sagte immer wieder: âIch bleibe ja da, aber lassen Sie doch die MĂ€dels raus! Es wird doch nicht besser, die Flammen kommen immer tiefer, dann ist es unmöglich, dass sie durchkommen, sie mĂŒssen entweder ersticken oder verbrennen!â Leider holte er sich nur Befehlsverweigerungs- und Kriegsgerichtsdrohungen.â
Um 24 Uhr ruft Schnackig nochmals an und findet mutige Worte: âIch kann es nicht verantworten, ich lasse jetzt die MĂ€dchen raus, und wenn Sie mich dafĂŒr hinrichten.â Er gibt Anweisungen fĂŒr das Verlassen des Kellers: Jeder muss sich mit einem nassen Mantel, einer Decke oder etwas Ăhnlichem umhĂŒllen. Auch der Kopf soll gut geschĂŒtzt sein, mit einem nassen Schal oder einer dichten MĂŒtze. SchlieĂlich kommt ein Anruf vom Chef, der das Verlassen der Dienststelle endlich erlaubt.
Charlotte Ambrosch: âNachdem wir den Keller verlassen hatten, liefen meine Kollegin Hilde, ein zartbesaitetes MĂ€del, auch aus GrombĂŒhl, und ich erst einmal auf die HofstraĂe zu. Am Paradeplatz berieten wir kurz, wie wir weitergehen sollten. NatĂŒrlich zum Main hinunter, also zwischen Dom und NeumĂŒnster bis zur DomstraĂe. Aber die Hitze war einfach zu groĂ, und die Flammen schlugen uns entgegen. Auf der StraĂe lag haufenweise glĂŒhender Schutt von den schon heruntergebrannten HĂ€usern.â
âAlso zurĂŒck zur HofstraĂe und auf die Residenz zu. Aber da war es genauso. Dann ĂŒber den Paradeplatz zur DomerschulstraĂe oder rechts durch die PlattnerstraĂe? Nein, wieder zurĂŒck und noch einmal in Richtung Residenz. Flammen, Flammen, wohin man schauen konnte, dazu die glĂŒhenden DrĂ€hte von den DĂ€chern und der Sog. Der unheimliche Wind hielt alles und jedes in Bewegung. Wieder zurĂŒck ĂŒber den Paradeplatz. Wir mĂŒssen doch durchkommen! Irgendwie mĂŒssen wir da rauskommen!â
âWir sahen so gut wie keine Menschen, die hatten sich alle schon in Sicherheit gebracht. Kurz bevor wir wieder in die DomerschulstraĂe hineingehen wollten, sah ich einen Mann zusammengekauert auf einem Koffer sitzen. Ich ging kurz hin und wollte ihm Mut zusprechen. Auf einmal erkannte ich ihn â es war unser Bischof Matthias Ehrenfried, unser lieber Hausherr! âMein Gottâ, hab ich gesagt, âso alleine! Wo sind denn Ihre Leute?â
âAch Gottâ, hat er geantwortet, âich weiĂ es nicht, die sind, scheint mir, schon lange fort.â âUnd Sie hat man nicht vermisst?â âDas sicherlichâ, sagte er, âaber ich will nicht. Ich will hier bei meinem WĂŒrzburg bleiben, und wenn WĂŒrzburg stirbt, dann will ich das auch.â Hilde und ich baten ihn, doch mit uns zu kommen, wir boten ihm an, seinen Koffer zu tragen, doch er wollte sich nicht helfen lassen.â
Die jungen Frauen steigen allein ĂŒber heiĂe Schuttberge. Wenn sie schnell genug sind, können die Schuhe nicht zu brennen anfangen. Charlotte Ambrosch: âEs waren Schritte um unser Leben. Wir sind gestĂŒrzt, aufgestanden und ĂŒber glĂŒhende DrĂ€hte gestolpert. Der Sog schlug uns die Flammen entgegen, also mussten wir einige Schritte zurĂŒckweichen. Dann zog der glĂŒhende Sog die Flammen in die entgegengesetzte Richtung und wir kamen wieder ein paar Schritte voran. Der Wind war das Schlimmste. Man musste jede Sekunde nutzen, genau die Flammen beobachten und dann den richtigen Moment ausnĂŒtzen, losrennen bis zum nĂ€chsten Windwechsel, rechtzeitig stoppen, stehen bleiben und wieder etwas zurĂŒckweichen. So haben wir die hundert Meter von der Herrngasse zum Residenzplatz geschafft. Da ich immer vorausging â Hilde kam hinter mir â habe ich ein paar Mal die Flammen voll ins Gesicht bekommen und mein Kopftuch hat zweimal angefangen zu brennen. Hilde schrie es mir jedes Mal auĂer sich zu und so konnten wir die Flammen gleich ersticken.â
SchlieĂlich erreichen Charlotte und Hilde den Ringpark. Beim Luisengarten begegnet ihnen eine Frau mit zwei Taschen. Daran halten sich zwei Kinder, drei und fĂŒnf Jahre alt, fest. Charlotte und Hilde wollen helfen, die Kinder fĂŒhren oder die Taschen tragen, aber die Frau lehnt ab. âNein“, sagt sie, âich bin froh, dass ich hier in den Anlagen bin. Ich gehe nicht mehr weiter, ich kann nicht mehr, und meine Kinder sind auch total erschöpft.“
In den nÀchsten Stunden schlagen sich Hilde und Charlotte nach Randersacker durch.
Warum wurde WĂŒrzburg noch so spĂ€t zerstört?
WĂŒrzburg nach dem Angriff
Am Morgen des 17. MÀrz hÀngt dichter schwarzer Rauch in jedem Winkel der Stadt. Zwischen den noch brennenden HÀusern liegen bis zur Unkenntlichkeit verbrannte Körper.
Am 17. MĂ€rz, einem Samstag, gehen Hans Schwabacher und seine BrĂŒder in die DomerschulstraĂe zurĂŒck: âWir waren sprachlos. In unseren schlimmsten TrĂ€umen hatten wir so etwas nie gesehen. Wir hatten nie gesehen, wie eine ganze Stadt niederbrennt. Wir sahen viele Tote in unseren StraĂen â verkohlte Körper, eine tote Nachbarin, die auf einer Treppe lehnte; ihre Handtasche hing noch an ihrem versengten Arm. Ăberall widerlicher Gestank, der noch tagelang in der Luft hing. Zu diesem Zeitpunkt machte es keinen Unterschied mehr, ob du Jude bist oder nicht, Nazi oder nicht. Es ging nur noch ums Ăberleben. Keiner folgte uns mehr; jeder dachte nur noch daran, seine eigene Haut zu retten. Selbst dem ĂŒberzeugtesten Nazi war klar, dass das Naziregime so gut wie vorbei war.â
Als es Tag wird, sieht Georg Götz vom Oberen Schalksberg aus das ganze AusmaĂ der Vernichtung. âĂber der Stadt lag eine eigenartige Beleuchtung. Der Himmel war trĂŒb vom Rauch. Es brannte an vielen Stellen, und in den Rauchschwaden tauchten dunkle TurmstĂŒmpfe auf. Ich weiĂ nicht, wie spĂ€t es war, aber es war noch frĂŒh am Tag, als Mutter sagte: âWir gehen hinunter nach GrombĂŒhl, vielleicht ist noch etwas zu retten.â
Auf dem Weg zur Stadt kamen uns immer wieder Leute entgegen, die einige wenige Habe bei sich trugen. Ein Mann hatte einen Schlafanzug an. Wir erreichten die ersten HĂ€user und sahen die verheerenden SchĂ€den und die Zerstörung. Wir kamen dennoch gut voran und gelangten ĂŒber die WagnerstraĂe bis hinunter zum Wagnerplatz. Wir stiegen dabei ĂŒber unendlich viele Steine, Mauerteile und verkohlte Balken.â
âEs herrschte eine unheimliche Hitze, mir war es unangenehmâ, berichtet Georg Götz weiter. âMutter aber hatte mich an der Hand und zog mich mit sich. Jetzt standen wir an der PetrinistraĂe und mussten unseren Plan, weiter vorzudringen, aufgeben. Die Oberleitungen der StraĂenbahn lagen heruntergerissen kreuz und quer in der StraĂe und zu den Mauerteilen kamen unĂŒberwindliche EisentrĂ€ger, die groĂe Hitze ausstrahlten. Von unserem Standpunkt sahen wir, dass unser Wohnhaus, PetrinistraĂe 11, noch stand, doch mehr nicht. Wir kehrten um und gingen den gleichen Weg wieder zurĂŒck. Erst jetzt bemerkten wir die beiden Toten â sie lagen in Höhe der Metzgerei Kneuer. An der SchiestlstraĂe waren es nur zwei HĂ€user nach rechts, hier in Nr. 22 wohnten die GroĂeltern. Alles war zerstört.â
Im Zugang zum Hinterhof schaut unter einer BlechhĂŒtte ein kleines LeiterwĂ€gelchen hervor. Die Mutter holt es heraus. Georg Götz: âDie Deichsel war kaputt, doch Mutter band einen langen Lappen, den wir fanden, daran und zog es damit in den Garten. Unterwegs bekam ich auf einmal Hunger â wir hatten ja noch nicht gegessen. Von fremden Leuten, die in der Schlucht liefen, bekam ich ein kleines StĂŒckchen Brot. Im Garten zurĂŒck, ruhten wir uns ein bisschen aus. Wie spĂ€t mochte es wohl sein? Bestimmt war es schon weit ĂŒber Mittag. HĂ€tte mir Opa die Uhr von Papa nicht abgenommen, dann steckte sie jetzt noch in meiner Hose.â
Sobald es hell ist, verlassen auch Ortrun Koerber und die anderen den Oberen Dallenbergweg und gehen in die Stadt hinunter. Die HĂ€user brennen noch, und eine gigantische schwarze Wolke hĂ€ngt ĂŒber der Stadt. âWir brauchten fast den ganzen Morgen, um die Stadt zu durchqueren. Eine StraĂe nach der anderen erwies sich als unpassierbar. Der Rauch machte uns blind und raubte uns den Atem. Alles was wir sahen, waren Ruinen. Zwischen den Ruinen lagen die versengten und verbrannten Körper von Menschen, geschrumpft auf die GröĂe von kleinen Kindern, so entstellt, dass keiner sie hĂ€tte erkennen können. In einer schmalen StraĂe mussten wir ĂŒber die Leichen steigen, um vorwĂ€rts zu kommen. Ingrid schrie vor Entsetzen und sie wĂ€re stehengeblieben, wenn wir sie nicht mitgezerrt hĂ€tten. Diese Menschen mĂŒssen ganz unvorstellbar gelitten haben, als sie fliehen wollten und merkten, dass sie nicht weiterkamen, weil das Feuer sie von allen Seiten einschloss.â
SchlieĂlich erreicht die kleine Gruppe das Haus am Wittelsbacherplatz â es ist das einzige, das in der ganzen Reihe noch steht. âAls Mutti es sah, gaben ihre Knie plötzlich nach und Carlo musste sie stĂŒtzen. Unsere Wohnung war in einem schrecklichen Zustand. Wir versuchten erst gar nicht aufzurĂ€umen, denn wir wollten nur so schnell wie möglich wieder aus der Stadt herauskommen. Wir packten ein paar Sachen, die wir brauchten, auf unseren kleinen Wagen und eilten zurĂŒck zu unserem HĂŒgel, wo wir jetzt bis zum Ende des Krieges bleiben werden.â
Nach ein paar Stunden Rast in der Randersackerer Turnhalle macht sich Werner Fuchs auf den Heimweg, voller Angst um die Eltern; er hat keine Ahnung, ob und wie sie die Brandnacht in der Zellerau ĂŒberstanden haben. Der Feuersturm hat sich gelegt, dichter Rauch liegt ĂŒber der Stadt und an vereinzelten Stellen brennt es noch immer.
Ăber LöwenbrĂŒcke und LeistenstraĂe und durch die Weinberge gelangt er auf den Festungsberg, von wo er einen Blick auf die Zellerau hat. Wie durch ein Wunder scheint dort alles unversehrt, vor allem das Haus, in dem die Familie wohnt. Von freudigen GefĂŒhlen ĂŒberwĂ€ltigt rennt er den Berg hinunter: âUnsere Wohnung war voll von Verwandten die, selbst ausgebombt, bei uns Unterschlupf fanden. Meiner Mutter und mir liefen die TrĂ€nen ĂŒbers Gesicht, als wir uns umarmten. Mein Vater, der die ganze Nacht erfolglos versucht hatte, in die Stadt zu kommen, um mich zu finden und dann nur mit Ungewissheit nach Hause gekommen war, konnte bei meinem Anblick seinen GefĂŒhlen keinen Ausdruck mehr geben. Er war total mit seinen Nerven am Ende. Als ich meine Uniform zum letzten Mal auszog, ging mir leider viel zu spĂ€t ein Licht auf und ich fĂŒhlte mich mit meinem Vater nĂ€her verbunden als je zuvor.â
Georg Götz ist mit der Mutter wieder im Garten ĂŒber GrombĂŒhl. Plötzlich heulen die Sirenen erneut; unmittelbar danach hört man das Brummen von Flugzeugen. Georg Götz: âIch schrie und sagte, dass ich nicht mehr hierbleiben will. Meine Mutter nahm mich, und wir brachen sogleich auf. âWir gehen nach Rimparâ, sagte sie. Den Weg kannte ich nicht. Vorbei am Rotkreuzhof, der an einigen Stellen noch brannte, kamen wir zu einem Feldweg. Wir waren schon ein ganzes StĂŒck gelaufen, als zwei Tiefflieger auftauchten und ĂŒber uns hinweg flogen. Beide machten eine groĂe Schleife und kehrten zurĂŒck. Einige Meter vor uns stand das Versbacher KĂ€ppele. âSchnellâ, sagte Mutter, âwir mĂŒssen hinein!â Es war allerhöchste Zeit, die ersten SchĂŒsse schlugen neben uns ein. Wir erreichten die offene Kapelle und waren gerettet. Noch einmal drehten die Flugzeuge und schossen mehrere Salven aus ihren Bordwaffen, ehe sie verschwanden. Wir blieben noch eine Weile und trauten uns nicht hinaus.â
Nach der Ankunft auf dem Bauernhof in Rimpar gibt es erst einmal zu essen und zu trinken. Mit nichts sind die FlĂŒchtlinge angekommen, nur das, was sie am Leib tragen, haben sie gerettet.
Relikte aus dem zerstörten WĂŒrzburg
In den folgenden Tagen ist WĂŒrzburg eine tote Stadt, auf den StraĂen liegen verstĂŒmmelte Leichen, am Hauptfriedhof wird ein Massengrab ausgehoben. Die genaue Zahl der Bombenopfer ist wegen der chaotischen BegleitumstĂ€nde nie zu ermitteln; sie liegt zwischen 4500 und 5000. Am 16. MĂ€rz 1945 sterben somit rund fĂŒnf Prozent der Vorkriegsbevölkerung, was die höchste Quote einer deutschen GroĂstadt bedeutet. 82 Prozent der gesamten bebauten FlĂ€che und 90 Prozent der Innenstadt werden zerstört. ZunĂ€chst bleiben nur etwa 6000 Menschen in WĂŒrzburg, die in den wenigen erhaltenen GebĂ€uden, in GartenhĂ€usern und in Kellern hausen.
Eine Demonstration totaler Macht:
Die zwiespĂ€ltige Bilanz des âmoral bombingâ
Aus britischen und amerikanischen Quellen ergibt sich laut Hermann Knell, dass folgende drei europĂ€ische StĂ€dte im Zweiten Weltkrieg den höchsten Zerstörungsgrad aufwiesen: Wesel (25 000 Einwohner) mit 97 Prozent, Wuppertal-Elberfeld (ĂŒber 400 000 Einwohner) mit 94 Prozent, WĂŒrzburg mit 89 Prozent.
Am 17. MĂ€rz kehren auch Charlotte Ambrosch und ihre Kollegin Hilde nach WĂŒrzburg zurĂŒck. Sie erfahren, dass Hildes Mutter im Keller von einem Ziegelstein erschlagen wurde. SpĂ€ter hören sie, dass Bischof Matthias Ehrenfried sich doch noch gerettet hat.
Am 18. MĂ€rz zieht Werner Fuchs mit seinen Eltern ins völlig ĂŒberfĂŒllte Naturfreundehaus in Veitshöchheim. Dort lebt die Familie mit 30 weiteren Menschen unter primitivsten VerhĂ€ltnissen mehrere Wochen bis nach Kriegsende. Die Wohnung in der Zellerau wird am 1. April bei einem weiteren Bombenangriff total zerstört. Alle seine wĂ€hrend der Kindheit angesammelten SchĂ€tze, mit Ausnahme seines Akkordeons, sind fĂŒr immer verloren.
WĂŒrzburg in TrĂŒmmern
Am Freitag, 23. MĂ€rz, schreibt Ortrun in ihr Tagebuch. „Jeden Morgen stehen wir um 5 Uhr auf und gehen zu unserer Wohnung in der Stadt, um weitere Sachen zu holen. Gegen 9 oder zehn Uhr sind wir gewöhnlich wieder in unserer HĂŒtte. Die StraĂen in WĂŒrzburg sind vollkommen menschenleer. In manchen StraĂen gibt es kein einziges Haus, das nicht zerstört ist. Ein leichter Verwesungsgeruch liegt schon ĂŒber der Stadt.
Anfang April erobern die Amerikaner die erbittert verteidigte TrĂŒmmerwĂŒste, die einmal die Stadt WĂŒrzburg war. Bei den mehrtĂ€gigen KĂ€mpfen sterben nochmals mehr als 1000 Menschen.
Am 13. April macht sich Carlo auf den Weg zu seiner Mutter und den sechs Schwestern in SĂŒditalien. Ortrun Koerber wird ihn nie wiedersehen.
Am 8. Mai ist Frieden, und Ortrun, die inzwischen mit Mutter und Schwestern wieder am Wittelsbacherplatz wohnt, hĂ€lt ihre Gedanken in ihrem Tagebuch fest: âIn Amerika, in England, in fast allen LĂ€ndern, wird es heute Nacht Freudenfeiern und GlĂŒcksgefĂŒhle geben. Auch ich bin glĂŒcklich, sehr glĂŒcklich, aber ich kann nicht lachen.
Ich kann nicht lachen, weil ich diese Jahre voller Terror, Verlust und Tod nicht vergessen kann. Ich kann nicht lachen, weil der Krieg uns so viel unwiederbringlich geraubt hat: die Zukunft, die wir uns vorgestellt hatten; Menschen, die wir liebten; unsere schöne Stadt â und noch so viel mehr. Und Vati? Wo ist er? Wann kommt er zurĂŒck? Ich bete, dass es nie wieder Krieg gibt, und dass spĂ€tere Generationen vor den GrĂ€ueln verschont bleiben, die wir erlebt haben. Friedensglocken lĂ€uten. Ich gehe ans Fenster und schaue auf die Ruinen von WĂŒrzburg. TrĂ€nen steigen mir in die Augen. Ich weiĂ nicht, ob vor Trauer oder aus Dankbarkeit.â
So geht es mit den FĂŒnf weiter
© 2015 Main-Post
Autor:
Roland Flade
Konzeption:
Roland Flade, Julia Haug, Lara MeiĂner
Umsetzung:
Catharina Hettiger, Julia Haug, Lara MeiĂner, Julian Mittnacht, Sebastian Schuster
Fotos:
Bayerisches Landesamt fĂŒr Denkmalpflege (Titelbild: Zerstörte DomstraĂe, Foto: Carl Lamb), Roland Flade, Silvio Galvagni, Geschichtswerkstatt im Verschönerungsverein WĂŒrzburg e.V., Hans Heer, Johanna-Stahl-Zentrum fĂŒr jĂŒdische Geschichte und Kultur WĂŒrzburg (Material John Schwabacher), MainfrĂ€nkisches Museum, Theresa MĂŒller, Klaus Oehrlein, Thomas Obermeier, Walter Röder, Sammlung Charlotte Ambrosch, Sammlung Willi DĂŒrrnagel, Sammlung Verne Fuchs, Sammlung Georg Götz, Sammlung Ortrun Scheumann, Sammlung Alexander Kraus (Farbfotos 1943), Stadtarchiv WĂŒrzburg, WĂŒrzburger Chronik
Sprecher:
Kilian Flade, Roland Flade, Constantin Ganter, Markus Hammer, Angelika Kleinhenz, Dorina Mazetti, Maria Schwab
Video:
Markus Hammer, Christoph WeiĂ
Sonstige:
Lena Berger, Rosa Albrecht
Zum Weiterlesen:
Roland Flade (Hrsg.), „Zukunft, die aus TrĂŒmmern wuchs. 1944 bis 1960: WĂŒrzburger erleben Krieg, Zerstörung, Wiederaufbau und Wirtschaftswunder„, 336 Seiten, zahlr. farbige und SchwarzweiĂ-Abb., WĂŒrzburg (Main-Post) 2009, 16,95 Euro. ErhĂ€ltlich im Main-Post-Shop
Roland Flade (Hrsg.), „Meine Jugend in WĂŒrzburg. Mit Texten von Werner Dettelbacher, Greta Brehm, Joachim Schlotterbeck, Gertrud Hinterberger, Helmut Försch und vielen anderen„, 272 Seiten, zahlr. Abb., WĂŒrzburg (Main-Post) 2000, 9,95 Euro. ErhĂ€ltlich im Main-Post-Shop
Hermann Knell, „Untergang in Flammen. Strategische Bombenangriffe und ihre Folgen im Zweiten Weltkrieg“ (Veröffentlichungen des Stadtarchivs WĂŒrzburg, Band 12), 340 Seiten, zahlr. Abb., WĂŒrzburg (Schöningh-Verlag) 2006, 14,90 Euro.
„WĂŒrzburger Chronik des denkwĂŒrdigen Jahres 1945„, herausgegeben von Dr. Hans Oppelt im Auftrage des Stadtrates WĂŒrzburg, Neuauflage des ursprĂŒnglich 1947 erschienenen Bandes, mit mehreren Abb., einem Namensverzeichnis der identifizierten WĂŒrzburger Bombenopfer und einer Karte, die den Zerstörungsgrad der StraĂen zeigt, 256 Seiten, WĂŒrzburg (Schöningh-Verlag) 1995, 5 Euro.
Auf seiner Facebook-Seite âWĂŒrzburg vor 70 und 100 Jahrenâ veröffentlicht Roland Flade tĂ€glich Augenzeugenberichte aus dem MĂ€rz 1945.