Zeitung Heute : Das Erbe der Witwe

Martin Luther Kings Frau Coretta ist tot

Christoph von Marschall[Washington]

Dieses Gesicht gehört zu Amerikas Ikonen. Streng wirkt es mit der hohen Stirn, in die keine Strähne fällt. Die dunklen Haare sind nach hinten gekämmt und fallen in Locken auf die Schultern. Doch die Fältchen um Augen und Mund verraten Humor und Güte. Tausendfach hat dieses Gesicht gestern von den Fernsehschirmen geblickt: in den USA, wohl auch in der halben Welt. Coretta Scott King ist tot. Die 78-jährige Witwe des schwarzen Bürgerrechtlers und Friedensnobelpreisträgers Martin Luther King, der am 4. April 1968 in Memphis erschossen worden war, starb in der Nacht zu Dienstag an den Folgen eines Schlaganfalls, den sie im August 2005 erlitten hatte. Der Zustand des Erbes erzählt eine Geschichte davon, wie schwer sich Kinder großer Eltern tun, auf eigenen Füßen zu stehen und dem Vermächtnis gerecht zu werden.

Die Bilder, die auf die Todesnachricht folgen, öffnen einen ganzen Horizont an Erinnerungen: der Bus-Boykott in Montgomery, um das Ende der Rassentrennung zu erzwingen; der Marsch auf Washington, der am 28. August 1963 in die große Kundgebung vor dem Lincoln Memorial mit 250 000 Zuhörern mündet, und Martin Luther Kings Rede: „I have a dream …“; der Traum von einer starken, geeinten Nation, deren Rassen in Gerechtigkeit, Frieden und Versöhnung zusammenleben, in der jedes Kind, egal welcher Herkunft, einen Platz am Esstisch und ein Bett zum Schlafen findet; die Schüsse von Memphis und die Debatte, die Amerika nach jedem politischen Attentat durchlitt: War James Earl Ray ein Einzeltäter, steckten CIA und FBI dahinter oder andere Verschwörer?

Und Coretta meist dabei, oft als Frau an seiner Seite, häufig aber auch im Hintergrund. Die Jugendbilder zeigen eine selbstbewusste, hübsche junge Frau aus Marion, Alabama – mit weit überdurchschnittlicher Ausbildung angesichts der Benachteiligung Schwarzer damals, samt Musikstudium in Boston. Vom Schmerz über die vielen außerehelichen Affären ihres Mannes verraten die Fotos der stolzen Mutter mit ihren vier Kindern rund um das Klavier oder auf dem Gang zur Kirche nichts.

Der Ruhm Martin Luther Kings hat ihre eigenen Führungsqualitäten lange überdeckt. Auch nach seinem Tod hat sie sie ganz in den Dienst seines Erbes gestellt, hat Dokumente gesammelt und geordnet, zunächst im Keller ihres kleines Hauses. Jedes Jahr hat sie seinen Geburtstag am 15. Januar als „Memorial Day“ begangen, ist quer durch die Staaten und rund um die Welt gereist, um das Geld für eine Gedenkstätte aufzubringen. 1968 hatte sie es auf dem Papier gegründet, 1981 stand ein repräsentatives Informations- und Weiterbildungszentrum im Wert von acht Millionen Dollar auf dem Grundstück gegenüber der Ebenezer Baptist Church in Atlanta, in der King gepredigt hatte – mit seinem Sarkophag mittendrin. 1983 erhoben Präsident Ronald Reagan und der Kongress den dritten Montag im Januar zum Martin-Luther-King-Feiertag, vor gut zwei Wochen hat Amerika ihn abermals begangen.

Das Erbe ist bedroht. Die vier Kinder fühlen sich mit der Verwaltung des Zentrums überfordert. Seit Coretta die Leitung ihres Lebenswerks abgab, ist es im Niedergang. Die Älteste, Yolanda (50 Jahre), und der Dritte, Dexter (44), wollen es an den National Park Service verkaufen, der bereits Kings Geburtshaus und die Kirche als Gedenkstätten verwaltet. Der ältere Sohn, Martin Luther King III. (48), und die Jüngste, Bernice (42), trugen ihren Protest am 30. Dezember 2005 in die Öffentlichkeit. Viel Trauriges kam dabei ans Licht, auch Intrigen um den Vorsitz des Zentrums. Der Kompromiss: keine überstürzten Beschlüsse, solange Mutter Coretta im Krankenbett liegt. Doch sie kann kein Machtwort mehr sprechen.

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