ArchivDeutsches Ärzteblatt PP2/2021Intersexuelle Kinder: Recht zur Selbstbestimmung

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Intersexuelle Kinder: Recht zur Selbstbestimmung

Bühring, Petra

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Die Bundesregierung hat einen Gesetzentwurf zum besseren Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung vorgelegt. Gestärkt werden soll das Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen. Ärzte stellen allerdings das vorgesehene grundsätzliche Operationsverbot in Frage.

Foto: picture alliance/Bildagentur-online/Ohde
Foto: picture alliance/Bildagentur-online/Ohde

Der Gesetzentwurf der Bundesregierung (19/24686) zum besseren Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung (DSD) wurde bei einer Anhörung im Bundestagsausschuss für Recht und Verbraucherschutz am Mittwoch kritisch beurteilt. Die ärztlichen Sachverständigen stellten insbesondere das in dem Entwurf vorgesehene grundsätzliche Operationsverbot in Frage, das den betroffenen Kindern nicht gerecht werde und auch nicht dem Stand der medizinischen Wissenschaft entspreche. Bei den angehörten Rechtswissenschaftlern und Psychologen stieß der Entwurf überwiegend auf Zustimmung.

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Der Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht ein Verbot zielgerichteter geschlechtsangleichender Behandlungen von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung vor. Er stellt außerdem klar, dass Eltern nur dann einem operativen Eingriff an den inneren oder äußeren Geschlechtsmerkmalen ihres Kindes einwilligen können, wenn der Eingriff nicht bis zu einer späteren selbstbestimmten Entscheidung des Kindes aufgeschoben werden kann. Zudem bedarf die Einwilligung zu einem solchen Eingriff grundsätzlich der familiengerichtlichen Genehmigung beziehungsweise der vorherigen Begutachtung durch eine interdisziplinäre Kommission, die unter anderen aus Ärzten und Psychotherapeuten besteht. Ist der Eingriff zur Abwehr einer Lebens- oder Gesundheitsgefahr erforderlich, muss keine Genehmigung eingeholt werden.

Schaden für Kindesgesundheit

Der pädiatrische Endokrinologe Dr. med. Oliver Blankenstein von der Charité-Universitätsmedizin Berlin gab zu bedenken, dass der Regierungsentwurf im Falle der zahlenmäßig größten, von der Regelung erfassten Gruppe, nämlich den Patientinnen und Patienten mit adrenogenitalem Syndrom (AGS), „über das Ziel hinausschießt und mehr schadet als nutzt“. Obwohl AGS anders sei als andere Varianten der Geschlechtsentwicklung, werde es medizinisch als eine solche eingeordnet. Wenn hier die gesetzlichen Anforderungen bis hin zu einem faktischen Behandlungsverbot angehoben würden, drohten erhebliche Schäden für die Kindesgesundheit.

Die Vertreterin der Bundesärztekammer, Dr. med. Wiebke Pühler, bemängelte, dass dem Gesetzentwurf die nicht durch Daten belegte Vermutung zugrunde liege, dass auch nach der Überarbeitung medizinischer Leitlinien zur Behandlung von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung noch Operationen stattfinden, die nicht unbedingt erforderlich sind. Mit dem Entwurf, der auf dieser Vermutung aufbaue, werde ohne Not eine bürokratische Hürde aufgebaut, die die Behandlung der betroffenen Kinder eher erschweren denn verbessern würde. Ein grundsätzliches Operationsverbot bis zum vollendeten 14. Lebensjahr werde den von einer breiten Varianz von geschlechtlichen Ausprägungen Betroffenen nicht gerecht und entspreche auch nicht dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft.

„Die Kinderendokrinologen begrüßen den Gesetzentwurf als guten Schritt in die richtige Richtung“, sagte Annette Richter-Unruh von der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin der Ruhr-Universität Bochum im St. Josef-Hospital. Allerdings stelle das Erfordernis einer Genehmigung durch das Familiengericht eine bürokratische Hürde und eine Belastung für die Familie dar. Diese Notwendigkeit sollte daher überprüft werden. Erforderlich sei auch die Meldung von Kindern und Jugendlichen mit DSD und deren Operationen in einem unabhängigen Register.

Auch die Rechtswissenschaftlerin Prof. Dr. Konstanze Plett von der Universität Bremen hält eine Meldepflicht an ein auf Bundesebene angesiedeltes zentrales Register für unverzichtbar. Persönlich begrüße sie vor allem den Wegfall einer starren Altersgrenze zur Bestimmung der Einwilligungsfähigkeit Minderjähriger in die fraglichen Behandlungen, die Verlängerung der Aufbewahrungsfrist für Patientenakten auf 30 Jahre ab Volljährigkeit, die Konkretisierungen zur gutachterlichen Kommission sowie die Aufnahme einer Evaluierungsklausel. Gleichwohl blieben einige Kritikpunkte wie das Fehlen von Bestimmungen über eine koordinierte Dokumentation beabsichtigter und durchgeführter medizinischer Behandlungen.

Aus der Sicht von Prof. Dr. Katharina Lugani, Institut für Rechtsfragen der Medizin an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, hat der Regierungsentwurf viele Schwächen des Referentenentwurfs beseitigt, aber zugleich auch sehr viele gravierende neue Schwächen geschaffen. Sie kritisierte unter anderem einen zu schmalen Anwendungsbereich, eine zu hohe Komplexität sowie Probleme im Hinblick auf das Konzept der Einwilligungsfähigkeit sowie in Bezug auf die interdisziplinäre Kommission und ihre Stellungnahme. Lugani schloss sich der Forderung nach einem Zentralregister an und sprach sich dafür aus, eine Evaluation bereits nach ein bis zwei Jahren durchzuführen.

Familiengerichtliche Prüfung

Ähnliche Forderungen wie Lugani erhob die Geschlechterforscherin Dr. Ulrike Klöppel, Mitglied des Beirats der Internationalen Vereinigung Intergeschlechtlicher Menschen. Ihr zufolge waren feminisierende und maskulinisierende Operationen an Kindern unter zehn Jahren bis Ende 2016 nicht rückläufig. Auch noch in den Jahren 2017 und 2018 seien Operationen durchgeführt worden. Sie kritisierte unter anderem den „beschränkten Schutzbereich des Verbots sowie eine fehlende externe Prüfung der Einwilligungsfähigkeit“. Ein verfestigter Behandlungswunsch und psychische Gesundheitsgefahren dürften ohne Erprobung alternativer Problemlösungen keine Ausnahme vom Verbot ermöglichen, und eine Nicht-Aufschiebbarkeit der Behandlung bis zu einer selbstbestimmten Entscheidung des Kindes müsse familiengerichtlich geprüft werden, forderte Klöppel.

Auch Claudia Kittel vom Deutschen Institut für Menschenrechte in Berlin schloss sich den Forderungen nach einem Register und einer früheren Evaluation an und bemängelte die fehlende Begleitung und Unterstützung bei einwilligungsfähigen Kindern im Falle einer selbstbestimmten Entscheidung. Die Tatsache, dass die Einstufung eines Kindes als einwilligungsfähig oder nicht einwilligungsfähig allein den behandelnden Ärzten zugemutet werde, sei aus kinderrechtlicher Perspektive höchst bedenklich.

Die Psychologin Prof. Dr. Katinka Schweizer, Klinische Psychologie und Psychotherapie, Medical School Hamburg, forderte erhebliche Veränderungen an wichtigen Punkten in dem Gesetzentwurf. In der aktuellen Form sei der Gesetzestext widersprüchlich und schwer verständlich. Der Schwerpunkt der notwendigen Ergänzungen liege auf dem Prozedere der Interdisziplinären Kommission, der Sicherstellung einer unabhängigen psychosozialen Beratung, dem notwendigen Verbot des Bougierens im Kleinkindalter und der Einführung eines Bundeszentralregisters.

Die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) begrüßt grundsätzlich das geplante Verbot von geschlechtsanpassenden Operationen an Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung, die nicht medizinisch notwendig sind. „Intersexuelle Kinder sind körperlich und psychisch gesunde Kinder. Ihnen per Operation ein eindeutiges Geschlecht zu geben, kann zu schweren traumatischen Erfahrungen führen“, erklärte BPtK-Präsident Dr. Dietrich Munz. „Operationen im Kindesalter werden von intersexuellen Menschen später oft als Zwang und gravierende Verletzung ihres Selbstbestimmungsrechts erlebt, insbesondere dann, wenn die entwickelte Geschlechts-identität nicht mit dem anoperierten Geschlecht übereinstimmt“, betonte Munz. Sie sollten über ihr Geschlecht selbst bestimmen können und sich auch als zwischengeschlechtliche Menschen verstehen dürfen.

Intersexuelle Beratungsperson

Darüber hinaus fordert die Bundespsychotherapeutenkammer, dass in der interdisziplinären Kommission, die eine Begutachtung vor einem möglichen Eingriff vornehmen soll, neben Psychotherapeuten und Ärzten – anders als bisher im Gesetzentwurf vorgesehen – verpflichtend auch eine intersexuelle Beratungsperson vertreten sein soll.

In Deutschland leben schätzungsweise 120 000 Menschen, die weder mit eindeutig männlichen oder weiblichen Geschlechtsmerkmalen geboren wurden. Sie tragen nicht den geschlechtsspezifischen Chromosomensatz, das Mengenverhältnis ihrer Hormone ist anders oder sie besitzen männliche und weibliche Fortpflanzungsorgane. Die Zahl der Neugeborenen, bei denen keine eindeutige Geschlechtszuweisung möglich ist, bewegt sich in Deutschland im niedrigen zweistelligen Bereich. 2018 waren nach Angaben des Statistischen Bundesamtes unter den rund 878 500 Lebendgeborenen 15 Säuglinge, 2017 waren es 17. Petra Bühring

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