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Gastkommentar Der große amerikanische Selbstbetrug

Trotz Corona-Fiasko zelebrieren die US-Eliten die Großartigkeit ihrer Nation. Warum? Sie haben große Angst vor dem überfälligen Wandel.
  • Stephan Goetz-Richter
16.04.2020 - 19:20 Uhr 2 Kommentare
Stephan Goetz-Richter ist Herausgeber und Chefredakteur von www.TheGlobalist.com (Berlin).
Der Autor

Stephan Goetz-Richter ist Herausgeber und Chefredakteur von www.TheGlobalist.com (Berlin).

Kaum vorstellbar, aber das reiche Amerika ergießt sich trotz der alltäglichen Todesnachrichten wegen Corona gerade in grandiose Akte der Selbstbeweihräucherung. So war in den Kommentarspalten des „Wall Street Journal“ zu Ostern zu lesen, wie außerordentlich schnell und geschickt sich die Nation von 330 Millionen Individuen an die neuen Erfordernisse der Covid-Bekämpfung angepasst habe. Kein Wort etwa zu den katastrophalen Versorgungsengpässen oder dem administrativen Chaos.

Und auch dort, wo auf die besondere Betroffenheit der schwarzen Bevölkerung durch Covid-19 aufmerksam gemacht wird, nimmt dies zuweilen Züge eines surrealen, quasireligiösen Erweckungserlebnisses an. So geschehen auf CNN, wo ein ausführliches Interview mit einer ehemaligen US-Gesundheitsdirektorin auf den Befund hinauslief: Wir kennen die Probleme schon seit dem Hurrikan „Katrina“ im August 2005, und seitdem hat sich an der mangelnden Versorgungs- und Gesundheitslage der schwarzen Bevölkerung so gut wie nichts geändert. Mehr hingebungsvolles Dulden geht nicht.

Dies sind deutliche Indizien dafür, auf welch tönernen Füßen die Weltmacht USA im Innern steht. Kein Manko ist dabei größer als die Unfähigkeit oder gar der Unwille, in systemischen Zusammenhängen zu denken und das Land so besser gegen Notlagen zu schützen. Denn das würde viel Geld kosten, sehr viel Geld.

Die aktuelle Gefechtslage in den USA deutet so auf ein Maß an Fragilität, das mit dem Titel „reichste Nation der Welt“ unvereinbar erscheint. Wer vom Einkommen her nicht zu den oberen zwei bis drei Prozent der Bevölkerung gehört, hat auf individueller und kollektiver Ebene mit einem Maß an Risikokumulierung zu kämpfen, das immer schwerer tragbar ist.

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    Wie schnell sich dabei der wirtschaftliche und soziale Abstieg auf individueller Ebene vollziehen kann, wird etwa an der Tatsache deutlich, dass die meisten Amerikaner über ihren Arbeitgeber krankenversichert sind. Aktuell heißt das in vielen Fällen: Job weg, Krankenversicherung weg.

    Um von den 35 Millionen Amerikanern, die schon vor der Coronavirus-Krise nicht versichert waren, erst gar nicht zu sprechen. Und selbst wer versichert ist, hat mit einem immer undurchsichtigeren Dschungel an hohen Zuzahlungen zu kämpfen. Da kommen pro Jahr schnell mehrere Tausend Dollar an Extrakosten zusammen. Von dort ist der Weg zum individuellen Konkurs nicht weit.

    Ex-Präsident Barack Obama hatte mit seiner Gesundheitsreform zwar versucht, diesem Treiben ein Ende zu bereiten. Aber die Republikaner sind weiter darauf versessen, selbst Obamas zaghafte Reformversuche aus den Angeln zu heben.

    Drei heilige Kühe

    Trotz des zunehmenden Gefühls der Ohnmacht ist weiterhin wenig Neigung seitens der Bevölkerung zu verspüren, das in den USA so ausgeprägte Duckmäusertum zu beendigen und die heiligen Kühe Amerikas auf die Schlachtbank zu führen.

    Die erste dieser heiligen Kühe ist das übergroße US-Verteidigungsbudget, die zweite der Outsourcing-Wahn und die dritte das immer inhaltsleerere Reklamieren des amerikanischen „Exzeptionalismus“. Mit 748 Milliarden Dollar für das Haushaltsjahr 2020 stellt der US-Verteidigungsetat für sich genommen die neunzehntgrößte Volkswirtschaft der Welt dar. Er wäre damit quasi Mitglied der G20.

    Was aber sollen Bürger von einer Regierung halten, die zwar über ein so gigantisches Verteidigungsbudget verfügt, bei der aber die medizinische Vorsorge etwa mit Beatmungsgeräten und Schutzmasken kläglich zu kurz kommt? Sie muss sich fragen lassen, ob sie die richtigen Ausgabenprioritäten hat.

    Auch die in den Chefetagen der Unternehmen seit Jahrzehnten so eifrig propagierte heilige Kuh des Outsourcings hat sich als großer Risikomaximierer entpuppt. Beim unermüdlichen Bemühen, die Lieferketten immer weiter auszudehnen, ging es natürlich vor allem um Kostenminimierung.

    Das permanente Outsourcing entband die Unternehmen aber auch von der Verpflichtung, Arbeitskräfte im Verarbeitungssektor ausbilden zu müssen. Zudem gab es bei all diesen fast endlos gesponnenen Lieferketten keine soliden Notfallpläne, falls etwas Unerwartetes passieren sollte. Den letzten Cent herauszuquetschen war, was zählte.

    „Außergewöhnlich“ – im Negativen

    Die dritte heilige Kuh ist die immer irrationalere, aber in der amerikanischen Gesellschaft nach wie vor weitverbreitete Vorstellung, dass ihr Land „außergewöhnlich“ sei. Dieser instinktive Überlegenheitsglaube verleitet dazu, selbst die offensichtlichsten Gefahren zu ignorieren. Die Vorstellung von den USA als auserwähltem Volk war ein Grund, warum Präsident Trump noch im Februar jede Gefahr von Covid-19 für die Vereinigten Staaten vollständig abgewiesen hat.

    Es ist also längst nicht nur Trumps Bereitschaft, permanent va banque zu spielen, die den Amerikanern große Probleme macht. Es ist auch ihre eigene Blindheit.

    Daher ist es keine Übertreibung zu sagen, dass der amerikanische „Exzeptionalismus“ vermutlich vor allem in einem besteht: Es gibt wohl keine andere wirtschaftlich hochentwickelte Gesellschaft, bei der selbst dramatische Veränderungen so wenige gesellschaftspolitische Konsequenzen haben.

    Zyniker könnten den Republikanern dabei zugutehalten, dass ihr Festklammern am Status quo wenigstens zu mehr Gleichheit in der US-Gesellschaft geführt hat. Die Armut in den USA ist mittlerweile farbenblinder geworden. Längst sind es nicht nur Schwarze und Latinos, die damit zu kämpfen haben.

    Und auch die Klassengrenze ist überschritten worden. Immer mehr Menschen aus der Mittelschicht und sogar der oberen Mittelschicht sehen sich unvermittelt prekären Lebensverhältnissen ausgesetzt.

    Auch das ist eine deutlich sichtbare Folge der Weigerung der Republikaner, Themen wie Krankenversicherung und Arbeitslosenversicherung jemals in einer vorausschauenden, systemischen Weise anzugehen. Sie beharren weiter auf der Betonung des „Rugged Individualism“ und sind allenfalls zur Einleitung von Ad-hoc-Maßnahmen bereit.

    Indes wird selbst unter Establishment-Demokraten gerne darauf verwiesen, dass die Quellen des Reichtums des Landes das Unternehmertum, sein Einfallsreichtum und der Pragmatismus sind. In Wirklichkeit beruht der Reichtum, der sich vor allem an der Spitze der Einkommenspyramide entfaltet, auf der Doktrin, alle Vorsorgesysteme der Gesellschaft (jenseits des Rüstungssektors) so weit wie möglich auf extreme Sparflamme zu stellen.

    Insofern wird der bevorstehende US-Präsidentschaftswahlkampf in der Tat zu einer interessanten Schlacht. Denn auch wenn der „demokratische Sozialist“ Bernie Sanders aus dem Rennen ist, so sind viele seiner Argumente über die krasse Ungleichheit, die sich zunehmend auch gegen die Mittelschicht richtet, in der Sache vollkommen zutreffend. Zumal das, was in den USA gerne als „sozialistisch“ gebrandmarkt wird, in Europa selbst bei sehr konservativen Parteien als notwendige Sozialstandards akzeptiert ist.

    Unter den aktuellen Umständen wird es dem demokratischen Trump-Herausforderer Joe Biden schwerfallen, sich auf die unverbindlichen Allgemeinplätze zurückzuziehen, die von demokratischen Präsidenten seit Bill Clinton gern, aber ohne reale Effekte gepredigt worden sind.

    Im Kern geht es in der diesjährigen Präsidentschaftswahl um die Schlacht zwischen einem Festklammern am rigiden Individualismus und der Wahrnehmung von mehr gemeinsamer Verantwortung.

    Dabei wird die Republikanische Partei weiter als Sprachrohr der Reichen agieren. Als Camouflage werden die Republikaner versuchen, sich mittels eines massiven Infrastrukturprogramms zum großen Beschützer der amerikanischen Arbeiterschaft aufzuschwingen.

    Dieses Vorhaben haben sie zwar sowohl Clinton in den Neunzigerjahren als auch Obama nach der Finanzkrise 2009 versagt. Die politische Logik liegt auf der Hand: Warum hätten sie damals etwas tun sollen, das in der Sache zwar richtig war, aber demokratischen Präsidenten politisch genutzt hätte? Doch diese Sachlage ist jetzt anders.

    Trumps Wiederwahl nicht unwahrscheinlich

    Das amerikanische Modell funktioniert so lange gut, wie das System mit keinen außergewöhnlichen Belastungen zu kämpfen hat. Aber weil die USA nicht wirklich als ein System funktionieren, sondern eher als kollektiver Akt der gegenseitigen (Selbst-)Täuschung, hat diese Methode ihre klaren Limits. Irgendwann wird sich die Frage der Regierbarkeit stellen.

    Dennoch sollte niemand aus dieser Analyse (oder aus den aktuellen Meinungsumfragen) schließen, dass Donald Trump die Präsidentschaftswahl verlieren wird. Neben den Besonderheiten des US-Wahlsystems, das den in den ländlichen Regionen des Landes starken Republikanern strukturelle Vorteile verschafft, obwaltet in den USA bis heute ein erstaunlicher Konservatismus.

    Vor allem aber hat Trump den Vorteil, dass er – trotz all seiner Verfehlungen – im Vergleich zu Joe Biden als der viel vitalere Kandidat herüberkommt. Das zählt in den USA mitunter mehr als Ehrlichkeit und Fachkompetenz. Daher könnte am Ende Trump doch noch die Wiederwahl gelingen.

    Mehr: Amerikas Offenbarungseid – Corona und die Systemfehler der USA

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    2 Kommentare zu "Gastkommentar: Der große amerikanische Selbstbetrug"

    Das Kommentieren dieses Artikels wurde deaktiviert.

    • Auch wenn die Zahl stimmt, was hier Herrn Goetz-Richter unterschlägt sind zwei Sachen. Erstens gibt die USA heute bereits 2500 Milliarden Dollar (oder 60%) für den Sozialstaat aus (davon 982 für Social Security, 582 für Medicare, 389 für Medicaid und 570 für diverse Programme) und zweitens dass der Anteil am Gesamtbudget bei 15% liegt was zwar 50% mehr als Deutschland ist (10%), aber am Gesamtbudget gemessen ist es nicht exorbitant hoch.

    • Ich sehe das ganz genauso...aber wir haben eben auch mitgespielt...zum Teil aus Dank, dass die USA auch uns wieder aus dem Schutt der Weltkriege herausgezogen haben....ich propagiere immer noch eine Glokalisierung...wo die Machtblöcke USA, China und Europa erst mal ihre eigenen Sachen sortieren und dann definiert in übersichtlichen Schritten den Globalen Handel wieder hochfahren ...das ist überlebenswichtig...denn der Klimawandel ist nicht vorbei sondern wird von uns noch viel mehr Opfer abverlangen als COVID-19

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