29. Mai 2021, Berlin-Neukölln, Sonnenallee: Zwei als Paar erkennbare Männer treffen am Abend auf eine Jugendgruppe. Zunächst werden die Männer schwulenfeindlich beleidigt, dann entblößt ein Jugendlicher seinen Penis. „Anschließend wurden beide Männer mit Schlägen gegen den Kopf attackiert und dabei verletzt“, heißt es in einer Mitteilung der Berliner Polizei.
10. Juli 2021, Berlin-Kreuzberg, in der U-Bahn: Zwei Händchen haltende Frauen werden von einem aggressiven Mann homophob beleidigt. Als sie die Bahn verlassen, werden sie von dem Mann verfolgt. Als ein Zeuge dem lesbischen Paar zur Hilfe kommt, wird dieser von dem Angreifer bespuckt.
25. Juli 2021, Berlin-Mitte: Nach dem Christopher Street Day wird einem Touristen zunächst eine Regenbogenfahne aus der Hand entrissen, dann wird er von hinten getreten und mit der Faust ins Gesicht geschlagen. Der Betroffene muss mit einem dreifachen Kieferbruch ins Krankenhaus eingeliefert werden.
Es sind nur drei Beispiele aus Hunderten homo- und transfeindlichen Vorfällen, die das Anti-Gewalt-Projekt Maneo jährlich registriert. 527 Fälle wurden Maneo für das Jahr 2021 bekannt, darunter Beleidigungen, Nötigungen und Bedrohungen sowie einfache, gefährliche und versuchte Körperverletzungen. Hauptsächlich betroffen: Schwule und bisexuelle Männer.
Die Zahlen bestätigen die Daten des Bundeskriminalamts zur politisch motivierten Kriminalität. Demnach wurden in Berlin im vergangenen Jahr 525 Fälle von Hasskriminalität in Bezug auf die sexuelle oder geschlechtliche Identität erfasst.
Die meisten Fälle wurden Maneo aus den Bezirken Tempelhof-Schöneberg, Friedrichshain-Kreuzberg, Neukölln und Mitte gemeldet. Die Dominanz dieser Bezirke erklärt Maneo-Leiter Bastian Finke damit, dass dort viele Bars und Treffpunkte der schwulen Subkultur etabliert seien und dadurch im Umfeld der Lokale eine erhöhte Sichtbarkeit von LGBT-Personen (Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transpersonen) entstehe.
Die Datenlage über die Täter beschreibt Finke als „sehr dürftig“, da nur ein Bruchteil der Gewalttaten ermittelt werde. Er könne lediglich sagen, dass es sich bei den meisten Tätern um junge Männer handele.
Initiative sieht „Kultur der Ehre“ als Hauptproblem
Güner Balci, Integrationsbeauftragte des Bezirks Neukölln, wird spezifischer. „Besonders in reaktionären religiösen und rechten Milieus ist Ablehnung und Hass gegenüber gleichgeschlechtlichen Lebensweisen immer wieder sehr ausgeprägt“, sagt sie. Immer wieder höre sie von Betroffenen, dass diese Neukölln aufgrund von Gewaltvorfällen und vor allem alltäglichen Diskriminierungen wieder verlassen – so tiefgreifend seien die seelischen und körperlichen Folgen. „Zum Beispiel die vielen Moscheegemeinden in Neukölln müssen hier eine wichtige Vermittlerrolle übernehmen, wenn sie es ernst meinen mit dem Einsatz für ein pluralistisches Miteinander.“
Auch Finke war 2018 noch deutlicher geworden. Böse Blicke gäbe es im bürgerlichen Bezirk Prenzlauer Berg auch. Doch die meisten Gewalttäter auf der Straße seien „testosteronaufgeladene Jungmänner aus bestimmten Problemkiezen, um die sich viel zu wenig fachliche Einrichtungen mit zielgerichteten Angeboten kümmern“, sagte er damals der „taz“.
Die Neuköllner Initiative „Ehrlos statt wehrlos“, gegründet von islamkritischen Linken, beobachtet seit 2018 schwulenfeindliche Gewalt in der Hauptstadt. Die Gruppe macht ein „kollektivistisches Ideal der Ehre“ für viele Taten verantwortlich.
Die Täter legitimierten ihren Hass dadurch, dass sie ihre Opfer als „schmutzig“ oder „ehrlos“ ansehen. Die Initiative beklagt eine „falsch verstandene Toleranz“ im Umgang mit dieser Gewalt. Die „Kultur der Ehre“ dürfe auch in einem Kiez, der sich selbst gern als offen, bunt und tolerant darstelle, nicht beschwiegen werden, heißt es von der Initiative.
Auch der CDU-Fraktionschef im Berliner Abgeordnetenhaus, Kai Wegner, sagt: „Probleme löst man nicht, indem man sie verschweigt. Wir müssen Tätergruppen klar benennen, um zielgerichtet Homophobie zu bekämpfen.“ Gerade an den Wochenenden sei eine stärkere Polizeipräsenz in den „bunten Kiezen der Stadt“ notwendig. Mobile Polizeistationen könnten der Community nach Pöbeleien, Beleidigungen und Gewalttaten mehr Sicherheit geben.
Von der sozialpolitischen Sprecherin der AfD-Hauptstadtfraktion, Jeannette Auricht, heißt es: „Wer zum Beispiel migrantische Tätergruppen relativiert oder gar verschweigt, obwohl diese nach Aussage der Betroffenen sehr relevant sind, verhindert eine tatsächliche Lösung.“
Laut dem queerpolitischen Sprecher der Berliner SPD-Fraktion, Mathias Schulz, werden die Taten häufig aus Männergruppen heraus begangen. „Klar ist: Es darf null Toleranz gegenüber denjenigen geben, die Menschen wegen ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität diskriminieren.“
Konstantin Kuhle, stellvertretender Vorsitzender der FDP-Bundestagsfraktion, sagt WELT, dass Homosexuellen-Feindlichkeit „natürlich kein spezifisch muslimisches Phänomen“ sei. „Es gibt aber bei manchen Muslimen eine Einstellung, die zum Nährboden für homofeindliche Diskriminierung und Gewalt werden kann“, so Kuhle. Junge Männer, die mit überhöhten Erwartungen an eine dominant-heterosexuelle Männlichkeit konfrontiert seien, kompensierten ihre Überforderung mit einer demonstrativen Ablehnung anderer Identitäten. „Am meisten leiden darunter homosexuelle Muslime, die dem Spannungsfeld zwischen sexueller und religiöser Identität ausgesetzt sind und allzu oft keine Unterstützung finden.“
Solche Probleme seien auch in Berlin kein Alleinstellungsmerkmal muslimischer Milieus, so Kuhle. „Wenn sich eine starke säkulare muslimische Mitte in Deutschland herausbilden soll, die sich von Radikalität und politischer Instrumentalisierung abgrenzt, gehört dazu auch die Aufarbeitung homofeindlicher Tendenzen.“
Das Anti-Gewalt-Projekt Maneo beklagt, dass es zahlreiche Fälle und Hinweise aus dem vergangenen Jahr nicht auswerten konnte. So hat der Datenschutzbeauftragte der Berliner Strafverfolgungsbehörden verfügt, dass die Polizei Opferberatungsstellen keine Informationen mehr über Tatort und Alter der Beteiligten bereitstellen darf, nicht einmal eine ausführliche Beschreibung der Tat – „um eine Re-Identifizierung zu verhindern“, wie es in dem WELT vorliegenden Vermerk heißt.
Aus der rot-rot-grünen Koalition wird nun Kritik an der Austauschsperre laut. „Diese absurde neue Regelung darf auf keinen Fall so bestehen bleiben“, sagt Queerpolitiker Schulz. Seine Kollegin aus der Linke-Fraktion, Claudia Engelmann, sagt: „Hier gilt es zu prüfen und gegebenenfalls gesetzgeberisch tätig zu werden, um die wichtige Arbeit zivilgesellschaftlicher Träger nicht zu gefährden.“ Unterstützung kommt auch vom Oppositionsführer Wegner: „Datenschutz darf nicht vor Opferschutz stehen.“
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