Christine Angot Missbrauch als Mission

Mit Christine Angots "Inzest" ist in Deutschland jetzt jener Roman erschienen, der die französische Gesellschaft in den letzten Monaten am meisten verstörte - weil es in ihm eigentlich gar nicht um Inzest geht...
Von Daniel-Dylan Böhmer

Christine Angot ist eine paradoxe Terroristin. Der Titel ihres Romans klingt nach reißerischen Enthüllungen, er ist aber ein literarisches Meisterwerk. Sie will ausdrücklich keinen Skandal provozieren, tritt aber zu gerne als rüde Provokateurin auf: In der Fernsehsendung "Bouillon de culture" unterbrach sie im Herbst 1999 den Moderator, um zum Buch des ihr gegenübersitzenden Groß-Lektors Jean-Marie Laclavetine einen knappen Kommentar zu liefern, der folgendermaßen lautete: "Das Buch hat mir nicht gefallen, es ist Dreck und unerträglich." Danach verstummte sie und war nicht bereit, ihre Ansicht zu erläutern.

Als Skandalnudel wurde die zierliche Frau mit dem Pagenschnitt und dem Blick eines Fremdenlegionärs, von deren sieben Büchern nie mehr als 500 Exemplare verkauft worden waren, dennoch nicht abgetan - denn ihr Roman "Inzest", der in dieser Zeit in Frankreich erschien und der jetzt gerade die 200.000er-Auflagengrenze überschreitet, lieferte das Exempel dafür, wie eine Provokation trotz Medien-Industrie als Statement statt als Show-Nummer vermittelt werden kann: In "Inzest" geht es in Wahrheit nämlich um eine andere, ungewohnte Definition von Inzest.

Widerwärtige Krankheit

Schon am Anfang des dreiteiligen Romans wird der Leser verwirrt und provoziert. Denn wo er die Leidensgeschichte eines kleinen Mädchens erwartet, drängt ihm die Autorin den Bericht vom Scheitern ihrer dreimonatigen Beziehung zu einer Ärztin auf. Es scheint um Homosexualität zu gehen, und es wird überdeutlich, dass die Ich-Erzählerin diese als widerwärtige Krankheit empfindet, wenn nicht gar als Wahn. Und während sie in der gehetzten Sprache eines Wutausbruchs, die aber bis in den Wortklang poetisch und präzise durchkomponiert ist, alle Einzelheiten des lesbischen Sex und zugleich des Weges zur Trennung angeekelt beschreibt, blitzen zunächst unvermittelt wirkende Erinnerungen an den Missbrauch durch ihren Vater auf.

Symbole des Eindringens und Durchbohrens

Zu Beginn des zweiten Teils erklärt die Erzählerin/Angot, sich beruhigt zu haben und nun rational ihren Wahn analysieren zu können. Doch die Untersuchung, die folgt und auf gängige Theorien der Psychoanalyse und der postmodernen Philosophie zurückgreift, fällt schnell in ein neues Delirium: In den Erklärungen fließen Homosexualität und Inzest ineinander, die Fachbegriffe provozieren eine Symbolsprache, die die Verschmelzung beider "Sünden" perfekt macht. Symbole des Eindringens und Durchbohrens, des Aus-sich-Heraustretens und Ausflippens. Während ihrer Lektion erklärt Angot, es seien eben ihre Gedanken, die inzestuös seien, und kennzeichnet sich so als wahnsinnig. Paradoxerweise erfährt der Leser aber genau in diesen Passagen untergründig die Gemeinsamkeit von Inzest und Homosexualität: Beides ist Sex mit dem Gleichartigen, und genau das ist es, was Gier und Ekel zugleich hervorruft. Durchbohren und durchbohrt werden. Opfer und Täter sein.

Nur der dritte Teil handelt hauptsächlich von Inzest, doch bis dahin hat der Leser verstanden, dass es nicht um bloßes "Wer-mit-wem" geht. Vielmehr verfolgt er, wie Angot den Inzest benutzt, um die Gewalttätigkeit auszudrücken, die der Widerspruch zwischen Lust und Ekel, Sadismus und Erniedrigung, Einsamkeit und Liebe bedeutet. Ohne Gnade, aber auch ohne Larmoyanz beschreibt sie, wie ihr Vater sie missbrauchte, als sie 14 Jahre alt war. Die Symbolsprache des Kampfes der liebenden Frauen wird hier wieder aufgenommen und entschlüsselt, und auch der Doppelwiderspruch Gewalt und Gier in beiden Beziehungen wird komplettiert - indem Angot beschreibt, wie sie ihren Vater einige Jahre später ihrerseits missbraucht, indem sie ihm selbst ihren Hintern statt ihrer Vagina hinhält. Und doch bleibt sie Opfer und für immer von der Erniedrigung geprägt. Deshalb muss sie Täterin werden.

Jenseits von Perversion und Psychologie

Die lesbische Affäre ist ebenso Wirklichkeit gewesen wie der Inzest. Keine Figur in diesem Buch ist erfunden. Alle sind mit ihrem wirklichen Namen genannt. Angot geht sogar so weit, dass sie den (authentischen) Brief der Anwältin zitiert, die vor der Nennung der Namen warnt. Doch indem sie den Text als Analyse ihres Wahnsinns kennzeichnet, kann sie ihr Leben als beschämend persönlichen Bericht vermitteln und diesen zugleich sezieren, um die allgemeine Wahrheit jenseits von Perversion und Psychologie offen zu legen.

"Ein riesiges Stück Scheiße"

Mit ihrem Buch hat Angot eine Beichte vorgelegt in der sie sich selbst, wie sie in einem Interview sagt, "als ein riesiges Stück Scheiße präsentiert". Aber auch als bemitleidenswertes Opfer. Dabei verprellt sie mit ihrem Buch alle: Spießbürger, organisierte Homosexuelle, Missbrauchsgegner, Feministinnen und Machos. Und erntet dennoch Jubel. Das beweist wohl, dass Angot einen Nerv getroffen hat, den die geschwätzige Sozio-Sex-Literatur à la Houellebecq und Virginie Despentes verfehlt hat: das Bewusstsein, dass Sex an sich nicht das Kuschelige ist, das erst durch die Gesellschaft schlecht wird. Bei Angot ist es eine persönliche Grausamkeit, die jeden zu Opfer und Täter zugleich macht.

Wäre diese Botschaft nicht verstanden worden, dann wäre "Inzest" vermutlich wirklich ein Skandal geworden. Die Provokation benutzt Angot im Buch wie in den Medien nur, um das Schweigen über die Gewalt des Eros zu brechen. Die naive Frage einer Journalistin "Warum ergreifen Sie das Wort?", beantwortete Angot so: "Wenn ich das Wort nicht ergreife, dann werde ich zur Komplizin dessen, was passiert. Das Wort ergreifen heißt die Komplizenschaft zu verweigern, in der wir gesellschaftlich baden. Ich will den Leuten nur das sagen: Ihr gebt euch mit dieser Lüge zufrieden. Mich aber macht das aggressiv. Ich wüsste nicht, wie die Wahrheit sagen, aber die Literatur gesteht diese Ohnmacht der Lüge gegenüber ein."

Vermutlich lag es am allzu skandalträchtigen Titel, dass renommierte deutsche Verlage die Finger von "Inzest" gelassen haben und nun der kleine Kölner Tropen Verlag die Chance mit einer guten Übersetzung ergriffen hat. Aber dass die Art von Provokation, die Angot beherrscht, die Naturgesetze des Betriebes brechen kann, ist ja bewiesen. Und die terroristisch gute Literatur, die sie so vertritt, wird vermutlich auch hier zu Lande einen Nerv treffen.

Christine Angot: "Inzest". Tropen Verlag 2001, Köln; 176 Seiten; 32 Mark.