Die Damen haben sich fein gemacht für diesen Nachmittag. Sie sitzen an gedeckten Tischen mit weißem Geschirr. Auf jedem liegt in der Mitte ein Teller mit Zuckertütchen und Kaffeesahne in Plastikkapseln. Den Kaffee gibt es aus großen Thermoskannen und dazu selbst gebackenen Schokoladen-Rührkuchen und Käsetorte mit Kirschen. Der Schokokuchen sei der beste, ruft Gastgeberin Petra Stoffregen einladend in die Runde. „Man gönnt sich ja sonst nichts.“, sagt sie dann etwas leiser und lacht.

Es ist Kaffee-Treff in den Räumen der Volkssolidarität an der Pauline-Staegemann-Straße in Berlin-Friedrichshain. Petra Stoffregen, eine sportliche Frau mit kurzen grauen Haaren, organisiert ihn nahezu jede Woche. Sie ist in dem Stadtteilzentrum der Hilfsorganisation für die Seniorenarbeit zuständig. Die meisten, die an diesem Tag hierhergekommen sind, kennt die 65-Jährige seit vielen Jahren. Wir versuchen, es uns ein bisschen nett zu machen, sagt sie.

Allerdings hätten sich vor allem in den vergangenen Wochen die Gesprächsthemen verändert. Ging es früher fast immer um die Enkel, die Urenkel oder die letzte Kur, so seien heute Preise und Sonderangebote das Thema Nummer eins. Und der Krieg in der Ukraine natürlich. Unbeschwert sei die Stimmung nur noch selten.

Tatsächlich erlebt das Land eine Teuerung wie seit Jahrzehnten nicht. Laut jüngsten Zahlen des Statistischen Landesamts muss in Berlin für Waren und Dienstleistungen derzeit nahezu acht Prozent mehr gezahlt werden als vor einem Jahr. Und das ist nur ein Durchschnittswert. Butter und Eier wurden um mehr als 25 Prozent teurer, Tomaten kosten 43 Prozent mehr und bei Strom und Gas beträgt der Aufschlag 37 Prozent. Doch an der Friedrichshainer Kaffee-Tafel geht es längst nicht mehr nur um Prozente.

Helga Bartsch ist an diesem Nachmittag aus der Danziger Straße zum Kaffee-Treff gekommen ist. Die studierte Ökonomin, 84 Jahre alt, hatte in Ost-Berlin im Kaufhallenverband gearbeitet. Heute hat sie eine Rente von etwas mehr als 1200 Euro, von der allein die Wohnungsmiete über die Hälfte verschlingt.

Es sei schwer, obwohl sie schon sehr sparsam sei, sagt sie. „Man muss schon genau gucken, wo man einkauft.“ Den regelmäßigen Besuch des Wochenmarkts an der Greifswalder Straße leistet sie sich dennoch und will sich das Ritual nicht nehmen lassen. Seit Jahren kauft sie dort regelmäßig frische Waren für 30 bis 35 Euro. „Da weiß ich, was bekomme“, sagt Helga Bartsch. Jetzt gebe sie nur noch 25 Euro aus und gehe mit halb so viel nach Hause.

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Petra Stoffregen von der Volkssolidarität.

Am Nachbartisch sagt eine Frau, dass es völlig egal sei, wo man einkauft. „Bei Aldi hat Rama immer 99 Cent gekostet, jetzt wollen sie 2,19 Euro. Das muss man sich mal vorstellen.“ Es sei überall teurer geworden. Ein paar Frauen nicken zustimmend. Eine sagt, dass sie, wenn sie Appetit auf Tomaten habe, nicht ein Pfund kaufe, sondern nur noch zwei Stück. Dann einigen sich alle darauf, dass Kaufland im Moment die besten Angebote habe.

Lisa Jautze, eine lebensfrohe und elegante Dame mit moderner Frisur, wirft noch ein, dass es dienstags bei Edeka immer 20 Prozent auf Käse gebe und freut sich, als hätte sie der vertrauten Runde einen Geheimtipp verraten. Dann wird sie plötzlich nachdenklich. „Ich kaufe nicht, wenn ich etwas brauche“, sagt die 83-Jährige. „Ich kaufe, wenn es im Angebot ist.“ Und fährt fort: „Mit den Kosten komme ich schon klar. Viel schlimmer ist, dass Krieg ist.“

Petra Stoffregen weiß, wie sich die Leute fühlen, die zu ihr kommen. Sie hatte immer mit Menschen zu tun. Die ersten 20 Jahre ihres Berufslebens war sie Lehrerin und Erzieherin auf Rügen, hat dort mit Kindern gearbeitet. Seit 17 Jahren arbeitet sie nun schon in Berlin mit Senioren. Anfang nächsten Jahres wird sie selbst in Rente gehen. „Mal sehen“, sagt sie, was so viel heißt wie: keine Ahnung, was passiert. Von den Leuten, die sie betreut, nagten nicht alle am Hungertuch, aber bei vielen reiche es vorn und hinten nicht.

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Helga Bartsch, Rentnerin

Vorige Woche, erzählt die Sozialarbeiterin, sollten eigentlich Lebensmittel von der Spendenplattform Food Sharing verteilt werden. Da aber dort nicht genug überschüssige Lebensmittel in Gastronomie und Supermärkten gesammelt werden konnten, musste die Aktion abgesagt und die Leute mit leeren Taschen wieder weggeschickt werden. „Das war schlimm, zumal sich viele ohnehin allein gelassen und vergessen fühlen“, sagt Petra Stoffregen. Dass jeder Erwerbstätige im Land eine Energiepreispauschale über 300 Euro bekommt, Rentner aber nicht, verstehe hier niemand. „Wie auch?“, fragt Stoffregen bitter.

Erika Jordan, die ihr Alter nicht preisgeben will („Raten Sie doch mal!“), gehört zu denen, die seit Jahren faktisch nicht einmal eine Rentenerhöhung bekommen. Denn wenn sie mehr Rente bekommt, wird das Wohngeld gekürzt. „Unter dem Strich habe ich seit zehn Jahren denselben Betrag zur Verfügung, während alles immer teurer wird“, sagt die zierliche Dame und will ihre Wut nicht mehr verbergen. „Und jetzt soll ich nicht einmal die 300 Euro bekommen, die auch denen hinterhergeworfen werden, die es gar nötig haben. Das stinkt doch zum Himmel.“

Der Energiesparberater sagte ihr, dass sie nicht mehr sparen könne

Auch Helga Bartsch aus der Danziger Straße ist wegen der Energiepreise in großer Sorge. Sie lebt in einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung. Ihr ganzes Leben schon. Es ist tatsächlich dieselbe Wohnung, in der sie vor 84 Jahren zur Welt kam. „Von meiner Sorte dürfte es in Berlin nicht mehr so viele geben“, sagt sie. „Vielleicht bin ich sogar die Einzige.“ Die Wohnung gehört jetzt einem Griechen, den sie noch nie gesehen hat. Die Miete könne sie sich noch leisten, sagt sie. Wie lange noch, weiß sie nicht. Wenn es stimmt, was alle sagen, werde die nächste Heizkostenabrechnung dreimal so hoch ausfallen wie bisher, befürchtet Helga Bartsch. „Ich habe schlaflose Nächte.“

Tatsächlich ist sie ratlos. Sie erzählt, dass sie nur ein Zimmer heize, nicht unnötig das Licht brennen lasse und zur Sparsamkeit erzogen wurde. Sie fange sogar das kalte Wasser, das aus dem Hahn läuft, bevor endlich heißes Wasser folgt, mit einem Eimer auf, um es dann zum Beispiel für die Toilettenspülung zu nutzen.

Bei der Energieberatung sei sie schon gewesen. Dort habe man ihr aber gesagt, dass sie nicht mehr sparen könne. Ihre Tischnachbarin sagt, dass sie versucht, jeden Monat etwas für die drohende Nebenkostenabrechnung zurückzulegen, aber nicht wisse, wo sie noch sparen könnte. „Ich bin nur am Jonglieren“, sagt sie und klingt wirklich verzweifelt.

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Lisa Jautze, Rentnerin

Eine Frau, die ihren Namen nicht nennen will, sagt, dass sie 620 Euro Rente bekomme und dazu 449 Euro Grundsicherung. Dabei habe sie immer gearbeitet, nur leider stets dort, wo schlecht bezahlt wurde: „Einzelhandel, Gastro, Altenpflege“, sagt sie und fragt, ob sie sich nun darüber freuen solle, dass die Grundsicherung zu Jahresbeginn um drei Euro angehoben wurde, wenn zugleich die Berliner Sparkasse ihre Kontogebühren erhöht?

Ohne die Tafel würde sie es heute nicht mehr schaffen. Früher sei sie nur ab und an dorthin gegangen, jetzt jede Woche. Manchmal hilft sie dort auch aus, weil der Andrang zunimmt und Leute gebraucht werden. Dabei sehe sie aber auch, dass es immer weniger zu verteilen gibt. „Die Leute bekommen Hafermilch, Brot und Grillsoße, kaum noch Obst und Gemüse“, sagt sie. „Was soll ich mit Grillsoße, wenn ich nichts zum Grillen habe“, fragt ein Mann neben ihr. Niemand lacht.

Dann erzählt die Frau noch, dass sie für ihren Hund Flaschen sammele. „Hund ist Luxus“, sagt der Mann. „Stimmt“, entgegnet die Frau und sagt, dass sie den Hund doch nicht einfach weggeben könne. „Nee“, so der Mann. „Dit jeht nich.“