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Konsumkritikerin Nunu Kaller: Das Phänomen Klima-Shaming: „Schuldgefühle werden die Welt nicht retten“
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    In der Pflanze steckt keine Gentechnik
    Aber keine Sorge: Gentechnish verändert sind die
Die Autorin und Konsumkritrikerin Nunu Kaller
Giacomo Dodic / Gusto Guerilla Die Autorin und Konsumkritrikerin Nunu Kaller
  • FOCUS-online-Autorin
Freitag, 17.03.2023, 17:29

Schon wieder Fleisch gegessen? Kurzstrecke geflogen? Ein neues Paar Schuhe gekauft? Der Fingerzeig auf andere spielt in der Klimakrise eine wachsende Rolle. Die Wiener Autorin und Konsumkritikerin Nunu Kaller sagt jedoch: Ein schlechtes Gewissen ist kontraproduktiv. Ein Gespräch.

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FOCUS online Earth: Fliegen, shoppen, Fleisch essen… alles Dinge, die unserem Planeten nicht wirklich guttun. Verständlich, dass diejenigen, die verzichten, sich ärgern, wenn andere weitermachen wie bisher. Macht Klima-Shaming beziehungsweise die gezielte Provokation dieses Gefühls aus Ihrer Sicht als ein Stück soziale Kontrolle Sinn?

Nunu Kaller: Überhaupt nicht. Das ist auch wissenschaftlich erwiesen: Verhaltensänderungen funktionieren nur dann langfristig, wenn die Motivation eine positive ist. Ansonsten kommt es schnell zu gegenteiligen Reaktionen. Ich selbst habe vor Jahren mal für eine Tierschutzorganisation gearbeitet. An sich esse ich sehr wenig Fleisch, aber wenn der Tag bei der NGO blöd gelaufen war, habe ich mir nach Feierabend eine Leberkäs-Semmel geholt. Absurd, oder?

Das klingt fast ein bisschen nach Trotzreaktion.

Kaller: Und das war es auch. Du sollst, du musst… Damit kommt oft dieses „dann erst recht“, so war es auch bei mir. Mal ehrlich, glauben Sie, eine der Frauen, deren Pelz in den Achtzigern angesprayt wurde, hat hinterher aufs Tragen dieser Art Jacken oder Mäntel verzichtet? Blödsinn. Der Pelz wurde nur einfach besser versteckt. Und so ist es bis heute: Es braucht andere Strategien als das Shaming. Wer beschämt werden sollte, sind die Politikerinnen und Politiker dieser Welt, die Konzernchefs und -chefinnen, denn die sitzen wirklich an einem langen Hebel. Im Individuellen muss mit positiver Bestärkung gearbeitet werden.

Kann man das Ihrer Meinung nach generell als Muster ausmachen: Bewirkt Druck so wie bei Ihnen damals – die Leberkäs-Semmel – eine Gegenreaktion?


Kaller: Das ist eine Möglichkeit. Etwas anderes geschieht meiner Erfahrung nach aber noch viel häufiger. Der Druck wirkt zwar, aber nur kurzfristig. Heißt: Wird man wegen des Fliegens geshamed, achtet man vielleicht ein paar Monate drauf, weil man ein schlechtes Gewissen hat. Ist es aber nur das schlechte Gewissen und findet man keine für sich befriedigenden Alternativen, dann kann ich garantieren: Man sitzt sehr bald doch wieder im Flieger, und vielleicht wagt man sogar noch mehr Flüge, weil man ja im letzten Jahr nicht geflogen ist. Einfach aus diesem Impuls, sich zusammengerissen zu haben und jetzt kompensieren zu wollen.

Das ist keine absurde Theorie, sondern passiert regelmäßig in den verschiedensten Bereichen, nicht nur bei der Mobilität. Verhaltensänderungen sind etwas Langfristiges - auch das ist jetzt nicht mein Eindruck, sondern Forschung. Es gibt zahlreiche Studien dazu.

Die sagen?

Kaller: Dass wir mindestens mit fünf bis sechs Wochen rechnen müssen, um eine Änderung dauerhaft hinzukriegen. Neulich habe ich das meiner Nichte erklärt, die gerne vom morgendlichen Croissant zum Frühstück wegkommen will. Du brauchst eine gute Alternative, irgendetwas, was dich lockt, habe ich gesagt. Das leckere Müsli mit viel frischem Obst wird einmalig keine Wirkung haben, du musst es dir sechs Wochen lang täglich machen, ohne Ausnahme. Und du musst immer das Bild vor Augen haben, wie viel besser es dir geht mit Müsli im Bauch, wie viel länger du satt bist und nicht müde. Mit der Zeit wird dieses Erleben verinnerlicht. Es wird vom kurzfristigen Impuls zu Wissen. Wie gesagt: diese Konsequenz schafft man nur durch positive Motivation.

Was haben Sie selbst in Sachen Konsum langfristig positiv verinnerlicht?

Kaller: Dass es mir viel besser geht, wenn ich weniger habe. Dass es mir Freude bereitet, mich mit Dingen zu umgeben, die Geschichten erzählen und nicht allein zur schnellen Bedürfnisbefriedigung da sind. Ich sitze gerade in meinem Wohnzimmer und schaue mich um. Fast alle Möbel stammen entweder vom Flohmarkt oder von meinen Großeltern. Ich liebe es!

Das klingt jetzt alles sehr emotional. Welche Rolle spielt die Vernunft?

Kaller: Natürlich müssen wir uns auseinandersetzen, analysieren, brauchen möglichst viel Hintergrundinformation. Aber letztlich ist liegt der Knackpunkt bei jeder Person anderswo: Nehmen wir zum Beispiel die Modeindustrie und „Fast Fashion“. Ich habe mich viel damit beschäftigt, vieles gelesen – aber mein persönlicher Schlüsselmoment, wo dann wirklich auch kein Bedürfnis mehr nach Billigware bestand, war ein anderer.

Landwirte in Indien verschulden sich, weil ihnen versprochen wird: Wenn du dieses oder jenes gentechnisch veränderte Saatgut kaufst, wirst du weniger Schädlinge haben und dann gehen in die Baumwollerträge rauf. Aber die Pflanzen werden immer wieder gegen die Schädlinge resistent: Der Ertrag kommt nicht, die Schulden bleiben. Und was dann passiert, hat mich wirklich schockiert: Hunderttausende indische Landwirte haben sich in den vergangenen Jahren aufgrund dieser Situation umgebracht – als Toter hast du keine Schulden. Und das alles nur, damit ich am Morgen entscheiden kann, ob ich ein blaues oder ein rotes oder ein gelbes T-Shirt trage? Das kann ich persönlich nicht mit.

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„Ich persönlich“ – das betonen Sie?

Kaller: Andere Menschen haben andere Auslöser, die zu einer Verhaltensänderung in Sachen Konsum führen. Menschen sind unterschiedlich, jeder lebt in seiner eigenen Wahrnehmungsblase. Andere fühlen sich vielleicht eher getriggert, wenn sie von einem verseuchten Gewässer hören oder von einer ausgestorbenen Tierart. Aber ich glaube, etwas ist uns allen gemein. Die spontane Emotion ist nur der Anfang, sowas wie ein erster Zugang. Die Verhaltensänderung kommt, wenn wir sehen: Es geht uns gut damit, wir handeln unseren eigenen Werten entsprechend. Wieso sollte es mir schlecht gehen, nur weil ich nicht jeden Tag ein andersfarbiges T-Shirt trage?

Oder auf die Leberkäse-Semmel verzichte?

Kaller: Ja genau. Aber vielleicht will ich das auch gar nicht und setze andere Schwerpunkte. Den größten Impact aufs Klima als Einzelne haben wir in Sachen Mobilität, Ernährung und Klima. Ich beobachte häufig, dass die Menschen, die gleich alles richtig machen wollen und sich sozusagen die Last des gesamten Klimawandels aufschultern, darunter zerbrechen. Da halte ich es für gescheiter, schrittweise, aber überzeugt vorzugehen. Ich muss sagen, ich bin über die Jahre mir selbst gegenüber etwas nachsichtiger geworden. Ich muss nicht in allen Bereichen immer top sein. Ich kann es gar nicht. Frei nach Adorno: es gibt kein richtiges Leben im Falschen.

Heißt konkret?

Kaller: Naja, ich kann mich gegen ein Auto entscheiden, aber das heißt nicht, dass mein persönlicher Fußabdruck damit in Sachen Mobilität auf Null geht. Schon allein wenn ich in den Supermarkt gehe, kaufe ich Produkte, die mit dem Lkw transportiert wurden. Allein durch die mich umgebende staatliche, aber auch private Infrastruktur sind mir in puncto Nachhaltigkeit Grenzen gesetzt. Von dieser Erkenntnis kann ich mich stressen lassen …

Oder?

Kaller: … oder ich kann ein Stück weit lockerlassen und in Ruhe nach möglichen Alternativen suchen. Wohin komme ich besser mit dem Zug, wo kann ich regional angebautes Gemüse kaufen? Aber eben wie gesagt stressfrei, weil auf Null kommt man sowieso nicht. Wenn es keine bessere Alternative gibt, nehme ich das Auto. Davon lasse ich mir keine graue Haare wachsen.

So wie die Veganerin, die eine Katze hat und sich eingesteht: was die eigene Ernährungsweise an CO2 spart, wird durchs Haustier mehr als kompensiert?

Kaller: Wenn Sie so wollen. Ich selbst habe einen Hund, der seit einiger Zeit Insektenproteine frisst. Er mag das gern, es bekommt ihm super, und mich freut, dass es auch eine recht umweltverträgliche Ernährung für ihn ist. Aber ich werde den Teufel tun, Hundebesitzer, die weiter Fleisch füttern, zu verurteilen. Erst neulich habe ich es wieder anders herum erlebt. Jemand deutete auf meine Schuhe, meinte: Wow, du trägst Sneakers von Nike?

Ihre Reaktion darauf?

Kaller: Ja, die sind Secondhand. Ich erlebe das seit Jahren, und es ärgert mich immer wieder: Dieses „sich über mich stellen wollen“, mir „unnachhaltiges Verhalten nachweisen wollen“. Erstens denke ich mir sehr oft: Was ich für mich entscheide, ist meine Sache, was du für dich entscheidest, deine – und ich kann nie vom ersten Blick auf die Hintergründe schließen.

Und zweitens?

Wäre es viel wichtiger, gemeinsam an politischer und systemischer Veränderung zu arbeiten als sich gegenseitig etwas vorzuwerfen. Zum Beispiel Nike: Denen wurde erst vor kurzem nachgewiesen, dass sie Neuware schreddern, und der Verdacht ist da, dass sie diese geschredderten Sohlen dann neu zusammenschmelzen und als „Recycling“ verkaufen. Bevor ich da Zeit verliere, anderen zu erklären, dass meine Nikes Second-Hand sind, will ich lieber gemeinsam mit vielen anderen kritischen Konsumentinnen und Konsumenten Nike zur Verantwortung zwingen, indem ich mich politisch engagiere.

Wie zum Beispiel?

Indem ich mich für ein Vernichtungsverbot einsetze, das gerade in Österreich diskutiert wird, oder für strenge Greenwashing-Gesetzgebungen auf EU-Ebene. Ich habe oft das Gefühl, dass wir uns schon selbst so sehr als Konsumentinnen und Konsumenten identifizieren, dass wir unsere Rolle und unsere Stimme als BürgerInnen, als Zivilgesellschaft, die mitgestalten können, vergessen.

Nunu Kaller: „Kauf mich! Auf der Suche nach dem guten Konsum“, Kremayr & Scheriau
 

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