Im Hof vor der Garage liefen die schreienden Buben zusammen.. Der Schutzmann am Münchener Lenbachplatz vergaß für einigeSekunden die Verkehrsregelung. Er schaute uns nach, als hätten wir ein schweres Delikt begangen. Die Autobesatzungen, die wir auf der Straße zum Starnberger See überholten, das Badezeug im Fond ihres Wagens und schon an Segelwind und Wellen denkend, schüttelten ungläubig ihre Köpfe. Und gar mit Fingern und Spazierstöcken deuteten die Sommerfrischler auf dem Land nach uns. Sie machten Gesichter, als trauten sie ihren Augen nicht.

Was war’s? Auf dem Dach unseres Autos wippten drei Paar Skier im Fahrtwind. Weiter nichts. Erst die Grenzer am Reschenpaß begriffen unser Vorhaben. Es hätten, so berichteten die Österreicher, heute schon „einige so Narrische“ den Schlagbaum passiert. Und fünfzig Meter weiter rief uns der Italiener zu: Passo di Stelvio – bella neve – gute Schnee!“ Ihn zu erreichen, bedurfte es dann noch der Bewältigung von achtundvierzig numerierten Haarnadelkurven. Mit jeder kommt man den gewaltigen Gletscherbrüchen näher, die wie die Riesentatzen eines Eisbären ins Tal der Trafoi hinuntergreifen. Auf der Paßhöhe des Stilfser Joches, 2757 Meter über dem Meeresspiegel, herrscht Fremdenverkehrsrummel: Souvenirverkäufer, Lautsprecher, geschäftige Hoteldiener, Touristen in Shorts und Caprihemd, Omnibusse. Schließlich ist das Stilfser Joch nicht irgendein Paß, sondern immerhin der zweithöchste in den Alpen und höchstens fünf Monate lang im Jahr passierbar.

Und schon hört man mitten im Sommer das Lied von den zwei Brettln und einem g’führigen Schnee. Es wird hier freilich vorwiegend mit italienischem Temperament gesungen, denn die Italiener sind gleichsam die Erfinder des ganz groß in Mode gekommenen Sommer-Skilaufs. Zu Hunderten fahrenan heißen Wochenenden die Wintersportler per Auto, Omnibus und Roller in die Schneeregion des Eben-Ferners zwischen Stilfser Joch und der fast 3500 Meter hohen Geisterspitze, oder italienisch: Puna di Spiriti. Auf der Paßschwelle ist dann kaum noch ein Parkplatz zu finden. „Avanti, avanti!“ ruft der Jeep-Chauffeur, weist seinen Fahrgästen Sitzplätze auf Kühler und Kotflügel zu und kurvt einen beängstigend steilen Karrenweg hinan. Denn das versteht sich: Beim Sommer-Skilauf steigt man schon gar nicht zu Fuß. Es könnte einem ja womöglich heiß werden (dabei. Die Italiener betreiben den Sommer-Skilauf sehr kultiviert. Sie kommen nicht als Rucksack-Touristen, sondern mit piekfeinen Koffern. Sie lassen sich bis zur ersten Hütte am Rande des Gletschers, schon 3000 Meter hoch, im Jeep transportieren, zur noch höher gelegenen Livrio-Hütte mit dem Lift. Nicht genug: Auf den Gletscherhängen rattern unentwegt mehrere kleine Schlepplifte, und auf den Hütten haben zwei Skischulen Sommerquartier bezogen.

Die Skilehrer; tragen dicke Sonnenbrillen, sind brauner als die Bademeister an der Riviera und haben statt der obligaten Zipfelmütze der Winterzeit einen bunten Sombrero auf. Wie überhaupt die Sommer-Skifahrerei auf den blendend weißen Gletschern zwischen den arktischen Eisgipfeln des Ortlergebirges sehr farbenprächtig ist. Die Keilhosen der Mädchen – es sind fast nur junge Leute hier oben – sind lila, knallig rot und saftig grün, und wenn die Mittagssonne auf die Firnfelder brennt, sind in 3000 Meter Höhe das Oberteil eines Bikinis zur Keilhose und der neapolitanische Strohhut die rechte Skibekleidung.

Signorina Liliana, gerade volljährig gewordene schwarzhaarige und blauäugige Tochter eines venezianischen Geschäftsbesitzers, denkt darüber so: Diese Hitze am Lido und diese Menge badender Menschen? Da läuft man im Sommer lieber Ski! Die junge Italienerin hat schon im Reisebüro in Venedig alles fix gemacht: 14 Tage Sommer-Skikurs auf der Livrio-Hütte am Stilfser Joch, Pauschalpreis einschließlich Gepäckträger, Lift-Abonnement und Gipfeltouren auf mindestens zwei wenig mühsame Dreitausender: 110 000 Lire (etwa 750 Mark).

In Cervinia, im Valtournanche am Fuß des Matterhorns, begann die Mode des italienischen Sommer-Skilaufs. Neben Tennis, Golf, Scheibenschießen und Tanz natürlich offeriert der Ferienort Cervinia gar nicht bescheiden „die bequemste und am besten eingerichtete Sommerschule für Skiläufer von ganz Europa“. Bergsteiger, die auch zur sommerlichen Jahreszeit mit ihren Brettln ins Gebirge ziehen, hat es freilich schon früher gegeben. Die alpine Chronik vermerkt beispielsweise, daß der Wiener Skipionier Wilhelm von Arlt mit seinen Freunden bereits in den Monaten Juni, Juli und August der Jahre 1896 und 1897 Skitouren in den Hohen Tauern unternahm. Aber Seilbahnen und Paßstraßen, die bis nahe an die Gletscherregion führen, haben inzwischen einen bequemen Zugang ins Reich des Sommer-Skilaufs geschaffen. Zu den Höhen, auf denen man am ewigen Winter teilhaben kann, wenn man durchaus will, gehören: Das schneesichere Norddach der 3400 Meter hohen Marmolata inmitten der Dolomiten (es ist per Auto zu erreichen), und der Sessellift, der im vergangenen Winter durch eine Lawine zerstört wurde, soll auch bald wieder in Betrieb sein; das Weißseegebiet in den Hohen Tauern (wo eine Seilbahn und ein Alpenvereins-Berghotel für 300 Gäste entstand) und das Matterhorndorf Zermatt das seit kurzem über die höchste Seilbahn der Schweiz (zum Stockhorn, 3534 Meter) verfügt. Gert Kreyssig