Freitag, 21. August 2009, 18:26:40 Uhr, NZZ Online
Claudia Schwartz
Irgendwann etwa zur Halbzeit des Festivals konnte es passieren, dass man genug hatte. Dass man sich dachte, die Vorstellungen von dem, was Frédéric Maire in Locarno für wettbewerbsfähig oder einer Präsentation auf der Piazza Grande für würdig erachtet, und von dem, was man selbst beim jungen Autorenfilm für möglich hält oder sich für ein Open-Air-Kino von dieser Tragweite wünscht, gingen zu weit auseinander. So hätte man sich im Nachhinein manch stromlinienförmigen Wettbewerbsbeitrag, die halbstündige Werbesause für das neue Pokémon-Kinostück oder die holprige Tessiner Gruselgeschichte gerne geschenkt.
Und wäre es nicht ohnehin die letzte Ausgabe unter Maires Leitung gewesen, würde man nun sagen, den Festivalchef habe im vierten Jahr das Glück verlassen. So bleibt es bei der Feststellung, dass Maire zwar ein einnehmend professioneller, aber nie ein charismatischer Leiter war und es darüber hinaus wohl grundsätzlich keine gute Idee ist, einen künstlerischen Direktor, der sich einmal zum Gehen entschlossen hat, noch einen ganzen Festivaljahrgang bei der Stange zu halten.
Aber das ist nur die halbe Wahrheit, denn bei einem internationalen Filmfest wie demjenigen von Locarno, das am Samstagabend mit der Preisverleihung zu Ende ging, gibt es auch in weniger glanzvollen Zeiten ein Kinoglück dank einem reichen visuellen und kulturellen Fundus. So lehrte einen ein Klavierstimmer, dass es in der Kunst wie im Leben darum geht, den richtigen Ton zu finden (in der österreichisch-deutschen Koproduktion von Robert Cibis und Lilian Franck, «Pianomania» ). Man fand mit einer Sängerin auf den Spuren ihrer Herkunft ästhetische Schönheit in der mongolischen Steppe (in Byambasuren Davaas «The Two Horses of Ghengis Khan» ) und wohnte dem Triumph des Kinos über die Zeit bei (in «Giulias Verschwinden» von Christoph Schaub). Es gab einen seltenen, mit dem Handy gefilmten Einblick in die iranische Gegenwart in Sepideh Farsis «Tehran Without Permission» und eine harte Landung auf dem Boden der russischen Tatsachen in der Geschichte über enttäuschte Liebe, «Buben. Baraban» , von Alexei Mizgirev. Einmal schliesslich taumelte man nachts benommen von der Piazza nach Marc Rechas «Petit Indi» , einer katalanischen Ballade, in der die Natur dem Menschen den Spiegel vorhält.
Im Wettbewerb gab es in den letzten beiden Tagen dann doch noch Entdeckungen zu machen, wobei es nicht der Ironie entbehrt, dass auch die besten Beiträge in der Konkurrenz um den Goldenen Leoparden kaum mehr in der Lage waren, die morbide Grundstimmung aufzuhellen, weil sie selbst von der Krankheit zum Tod oder von Einsamkeit handelten, so wie etwa der Gewinner des Goldenen Leoparden, «She, A Chinese» der chinesischen Autorin und Regisseurin Guo Xiaolu. Es ist die klar strukturierte, sorgfältig komponierte Odyssee einer jungen Chinesin (gespielt von Mei-Huang Lu), welche die Hoffnung auf ein besseres Leben von der südchinesischen Provinz ins ferne England führt. Der Film findet sein Gleichgewicht zwischen Empathie und Distanznahme in diesem Porträt einer Frau, die von einer Beziehung in die nächste tappt, schwanger wird und am Ende alleine in die Zukunft geht.
Mit «She, A Chinese» würdigte die Jury über die künstlerisch überzeugende Arbeit hinaus wohl auch die im Titel anklingende filmische Vision einer grenzüberschreitenden Identität, die gut den globalisierten Fokus dieses Jahrgangs repräsentiert. Auffallend viele Wettbewerbsbeiträge handelten nämlich von Grenzgängern, Migranten und Fluchtpunkten, was auch die Biografien ihrer von international wechselnden Lebensstationen geprägten Regisseure spiegelt.
Dies trifft auch auf den wohl schönsten Wettbewerbsfilm zu: In «Nothing Personal» der – in den Niederlanden lebenden – Polin Urszula Antoniak sucht eine Holländerin (Lotte Verbeeck) Ruhe vor der Zivilisation in der irischen Küstengegend. Hier trifft sie auf einen älteren Eigenbrötler (Stephen Rea), der ihr gegen Arbeit Kost und Logis anbietet – unter der Bedingung, dass man auf Distanz bleibt. Antoniak macht aus ihren beiden Beziehungsverweigerern keine Helden, sie gibt ihnen nicht einmal ein psychologisches Profil, sondern allenfalls eine Kontur. Wie sie aber die leise aufkommende Anziehungskraft in den Blick nimmt in dieser schlank erzählten und fotografisch bestechend umgesetzten Sicht auf die Welt, zeugte von seltener Ausdruckskraft.
Dem Anime «Summer Wars» von Hosoda Mamoru, der emotional berührend und in frischer Dynamik von Generationenwechsel und virtuellen Identitäten handelt, fiel im Wettbewerb schliesslich die Rolle der Wiedergutmachung zu, belegte er doch die vielschichtigen Seiten der japanischen Filmgattung. Diese hatte man zuvor auf der Piazza mit «Mobile Suit Gundam I» zur ästhetisch fragwürdigen Schiessbude verkommen lassen, obwohl in der Retrospektive mit Miyazakis Meisterwerk «Grave of the Fireflies» ein idealer Einstiegsfilm für ein breites Publikum zu finden gewesen wäre. Die Festivalbesucher bestraften diesen Irrläufer prompt mit einem Negativrekord von nur 2500 Zuschauern.
Womit auch gleich gesagt sei, was das dringendste Problem ist, welches in Locarno auf den neuen künstlerischen Leiter Olivier Père wartet. Denn während ein Festivalwettbewerb eben das spiegelt, was es an mehr oder weniger Inspiriertem zwischen Cannes und Venedig zu haben gibt, muss die Piazza wieder als glanzvolles Freiluftkino bespielt werden. Maires Amtszeit belegt, dass dies allein mit dem Imperativ der Welturaufführung nicht zu machen ist. Und was wäre eigentlich so schlimm daran, in Locarno etwa einen Cannes-Siegerfilm zu präsentieren? Man darf gespannt sein, welche Schlüsse der neue Leiter Olivier Père gezogen hat, der sich in den vergangenen zehn Tagen schon einmal diskret unters Publikum mischte. Jedenfalls stehen die Zeichen am grossen Schweizer Kulturanlass auf Aufbruch.
ces. Der Goldene Leopard des 62. Internationalen Filmfestivals Locarno geht an «She, A Chinese» der Chinesin Guo Xiaolu; der Film ist eine britisch-deutsch-französische Koproduktion. Der Spezialpreis der Jury, der Silberne Leopard, sowie auch der Preis für die beste Regie gehen an den russischen Beitrag «Buben. Baraban» von Alexei Mizgirev. Als beste Darstellerin wurde Lotte Verbeck für ihre Rolle in Urszula Antoniaks «Nothing Personal» geehrt; als bester Darsteller Antonis Kafetzopoulos für seine Rolle in der griechischen Komödie «Akadimia Platonos» . Der Preis der internationalen Filmkritiker ging an «Nothing Personal»; zudem erhielt dieser Film den Goldenen Leoparden für das beste Erstlingswerk. Die Ökumenische Jury erkor mit «Akadimia Platonos» von Filippos Tsitos ihren Favoriten. Den Publikumspreis erhielt der Schweizer Film «Giulias Verschwinden» von Christoph Schaub.