"Sandro Botireli", Codex Hamilton 201 und La Comedia - Zur Ausstellung Der Botticelli-Coup im Kupferstichkabinett

Literatur – Zeichnung – Codex 

 

„Sandro Botireli“, Codex Hamilton und La Comedia 

Zur Ausstellung Der Botticelli-Coup im Kupferstichkabinett 

 

Der Erwerb der Handschriftensammlung des Duke of Hamilton im Jahr 1882 sorgte für eine in ihrer Heftigkeit kaum zuvor gekannte Diskussion in London um die Frage: „Who owns culture?“ Daran erinnerte heute Morgen Ernst Vegelin van Claerebergen als Leiter der Courtauld Gallery in London, wo ab 18. Februar 2016 die Ausstellung Botticelli and Treasures from the Hamilton Collection zu sehen sein wird. Vorerst sind die Schätze im Berliner Kupferstichkabinett im Kulturforum zu bestaunen. Handschriften gehören nicht unbedingt ins Sammelgebiet des Kupferstichkabinetts. Doch Ernst Lippmann hatte für den preußischen Staat bzw. Deutschland unter Beteiligung der, sozusagen, Privatschatulle von Kaiser Wilhelm I. die Handschriftensammlung in London direkt vom Duke erworben.

 

Bestandteil der Handschriftensammlung war und ist neben prächtig illuminierten, mittelalterlichen Romanen und Bibeln auch der Codex Hamilton 201 von „La Comedia di Dante Alighieri Manoscritto su pergamena delle Anno 1400 Al 1450 Con Disegni Originali Fatti Sandro Botireli OD Altro die quel Tempo della Seuola Fiorentina.“ Während der Autor der Comedia auf Pergament geschrieben bekannt ist, sind die disegni originali von eher unbekannter Herkunft. Sogleich wurde der Codex nach dem Erwerb in Berlin aufgelöst und auf konservatorisch fast schon abenteuerliche Weise, aber mit Glück und Geschick in Passepartouts zu Einzelbildern gerahmt. Denn ein einziges der 87 disegni originali enthält auf einem Täfelchen die Lettern „Sandro di Mariano“ und ist gleich nebenan in der Gemäldegalerie in der Ausstellung The Botticelli Renaissance zu sehen.

 

Die disegni originali sind in vielfacher Hinsicht ein großes Rätsel. Funktioniert einerseits das Blatt, in dem der Name „Sandro di Mariano“ auftaucht, als Indiz dafür, dass Sandro Botticelli die disegni mit häufigen Vorzeichnungen letztlich als Federzeichnung gezeichnet hat und damit als Schlüssel zu dessen Werk. So sind sie andererseits in ihrer Codex-Anordnung und -Praxis einer Gegenüberstellung von Handschrift als Text und Zeichnung als Bild außerordentlich schwer zu sehen, was nicht zuletzt daran liegt, dass die Handschrift auf der rauen Pergamentseite auf die glatte Seite der disegni ständig durchschimmert. Sie lassen sich kaum als ein Bild fassen oder sehen. Und sie funktionieren grammatologisch[1] entschieden anders als die Illustrationen der wenig später in Florenz gedruckten Bände der Comedia, die auf Botticelli zurückgehen sollen.

 

Erstens stellt sich also die Frage der Herkunft der disegni bzw. Pergamente? Zweitens ist die beidseitige Text-Bild-Praxis zu bedenken. Drittens muss die Bindung des „Codex 201“ aus der Sammlung Hamilton bedacht werden. Viertens soll hier auch die veränderte Bildpraxis durch das Passepartout für die Ausstellung berücksichtigt werden. Und fünftens sollen die Umstände des „Botticelli-Coups“ nicht unerwähnt bleiben. Und weil nach einer Formulierung Aby Warburgs, der Teufel im Detail steckt, sollen die Teufel als Detail in der Bildkomposition hier auch noch eine kurze Erwähnung finden. Denn die Teufel der Comedia unterscheiden sich nun ikonographisch deutlich von denen der Mystischen Geburt in der Ausstellung The Botticelli-Renaissance. Obwohl die Ausstellung im Kupferstichkabinett keine Botticelli-Ausstellung, vielmehr eine zur Botticelli Renaissance im 19. Jahrhundert sein soll und will, ist sie natürlich sehr wohl eine mit und über Sandro Botticelli.

 

Zur Ausstellung ist ein bilderreicher Katalog unter der Federführung von Dagmar Korbacher erschienen. Dies ist insofern erwähnenswert, weil erstens nur ein Berliner Blatt und der sogenannte „Höllentrichter“ der Comedia in der Biblioteca Apostolica Vaticana in Rom koloriert und „aufgrund ihrer besseren Reproduzierbarkeit und größeren wall power wesentlich bekannter sind“.[2] So nahm denn auch beim Rundgang „Inferno XVII, Vergil und Dante im achten Kreis der Hölle (Malebolge), 1. und 2. Bolgia: Bestrafung der Kuppler und Verführer, der Schmeichler und Huren“ die Eröffnungsfunktion ein.[3] Zweitens sind die disegni eher kleinformatig und derart vielgestaltig, dass sie allererst erheblich auf Katalogseitenformat vergrößert als Ausschnitt zur Sichtbarkeit gelangen. Die Frage der Sichtbarkeit der disegni wird so deutlich in eine Reproduktion verwickelt, die sie allererst zum Bild werden lassen. Für den Katalog ist das eine Bildpraxis, die tatsächlich allererst die geschwungene Linienführung, wie sie sich bei Botticelli-Gemälden im Haar oder Gewand zu sehen gibt, sichtbar werden lässt.

 

Auf die Lupe, die bereits für die vorausgegangene Besprechung hinsichtlich des Täfelchens mit dem Namen ins Spiel gebracht worden war, ist noch einmal zu zurückzukommen. Denn sie ist innig mit der Bildpraxis der disegni sowohl in ihrer Genese wie ihrer Perzeption verkoppelt. Sollen hier sehr kleine Zeichnungen ohne „wall power“ gelesen werden, wie die handschriftlichen Lettern des quasi darunter positionierten Textes? Die Pergamente mit dem umseitigen Text lassen nach „Dreyers vertikal aufgeschlagene(m) Faksimileband“ diese Anordnung zur Lesepraxis nicht nur zu, sondern „(v)ieles spricht dafür, dass in der Regel zuerst die Zeichnung, in einem zweiten Schritt erst der Text auf das Pergament kam“.[4] Für die Genese der mikroskopischen wie mikrologischen disegni wäre dann an eine aufwendige Lesepraxis von Dantes Text in einem ständigen Lesen und Wieder-Lesen oder Rereading zu bedenken.  

 

Gut geklärt ist mittlerweile die Herkunft des „Codex Hamilton 201“. Durch ihn gelangt der Dante-Zyklus auf Pergament allererst in den Handel und die Handschriftensammlung des Duke of Hamilton. Nach Georg Josef Dietz legt „eine neuerliche Autopsie … eine Entstehung Ende des 18. Jahrhunderts in Frankreich nahe“.[5] Wie die Pergamente zwischen 1503, dem Todesjahr Lorenzo die Pierfranco de‘ Medici, dem mutmaßlichen Auftraggeber, und 1780 überliefert wurden und in welche Praxis sie eingebunden, vielleicht nur in einem Archiv verschollen waren, bleibt über mehr als 250 Jahre im Dunkel. Zumal der Einband mit dem vagen Etikett insbesondere als ein Indiz dafür gelten darf, dass vor 1800 der Name Sandro Botticelli auf dem Kunstmarkt erstens eher kaum besser als vom Hörensagen bekannt und die „disegni originali“ kaum mehr als dem Umfeld der Florentiner Schule zuzuordnen waren. Anders zugespitzt: Sie waren auch einfach nicht gut zu sehen.

Der Wechsel vom buchartigen Codex zu durch Passepartouts gerahmte Bilder gleich kurz nach Erwerb ist kaum zu unterschätzen. Erstens hatte das auch ungenaue Etikett, die Pergamente zu allererst zu einer Ausgabe der Commedia von Dante Alighieri gemacht. Denn ganz offenbar geht es darum, die (nahezu) vollständige Ausgabe des Textes im Etikett als Titel anzukündigen. Mit anderen Worten: Die Literatur als Wissensgegenstand wird im 18. Jahrhundert privilegiert. Insgesamt generiert sich die Commedia aus 100 Gesängen in 14.233 Versen oder Linien. Der Codex enthielt 88. 10 Pergamente gelten als verschollen oder nicht existierend. Weitere Pergamente befinden sich in der Biblioteca Apostolica Vaticana. Die umgehend in Berlin angefertigten Passepartouts, durch die der Text quasi zugunsten des Bildes verdeckt sowie die disegni gerahmt und aufgewertet wurden, kommt einem Medienwechsel gleich. 

Es war insbesondere der Text im Auktionskatalog, der das Etikett umgeschrieben und den Codex nun als Gegenstand eines kunsthistorischen Wissens umformuliert hatte. Die kunsthistorische Einordnung hinsichtlich „power of drawing, fertility of design and tenderness of feeling“ generiert nun allererst den unvergleichlichen Wert des Codex. 

Manuscript on Vellum by a Tuscan Scribe, written in the XVth century […] superbly ornamented with 88 exquisitely beautiful Designs by Sandro Boticelli, all except sicx the full size of the page (including a splendid Drawing of the Mouth of hell in colours, and full length portraits of Dante), […] Of all manuscripts which have ever occured for sale this may without exaggeration be described as the most important, from an artistic point of view. Botticelli’s designs, engraved for Dante of 1481, have always been esteemed among the the most precious monuments of Italian art, but they sink into insignificance when considered beside these marvelous works, which, for power of drawing, fertility of design and tenderness of feeling are unapproached oder unapproachable.[6]


Scan des Klappeinbandes ganzseitig, Ausstellungskatalog: Der Botticelli-Coup (Im Original: 23 x 28 cm)

 

Bemerkenswert an der Katalogerzählung ist nicht nur, dass der kolorierte oder ausgemalte „Mund der Hölle“, der sich heute in der Biblioteca Apostolica Vaticana befindet, als „splendid Drawing … in colours“ versprochen wird, vielmehr noch werden „full length portraits of Dante“ angekündigt. Dabei muss es sich um Portraits des Dichters handeln, die gut einhundert Jahre nach seinem Tod entstanden sind. Sie sind ebenso sehr Portraits wie das des antiken Dichters Vergil oder der Beatrice, die an Botticellis allegorische Venus und Primavera erinnert. Die Formulierung einer Sichtbarkeit des Dichters bzw. Autors Dante lässt hier prominent das Sichtbarkeitsparadigma aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in ein Wissen von der Literatur umspringen. Dante Alighieri wird durch die „power of drawing, fertility of design and tenderness of feeling“ nun sichtbar. Sprachliche Operationen verkoppeln in der Katalogerzählung in aller Kürze Bild und Text auf neuartige Weise.

 

Power, fertility, tenderness: Kraft, Fruchtbarkeit und Zartheit sind die Kategorien, die nunmehr das kunsthistorische Wissen von Sandro Botticelli in seiner Unerreichbarkeit beschreiben. Der kurze, fast mikrologische Text des Ausstellungskataloges, der formuliert, was zuvor kaum jemand jemals zu Gesicht bekommen hatte und der, weil der Katalog nicht ausgeliefert wurde, sehr wohl aber in die Hände von Lippmann geriet, hat kaum mehr Wert als ein Gerücht oder eine Mitteilung von Hörensagen in der Zeitung Times in London.[7] Indessen war er durchschlagend. Auffällig wird die emphatische Schlussformulierung dadurch, dass „drawing“ und „design“ mit Zeichnung und, sagen wir, Bildarrangement quasi zwei Materialien der Kunst neben dem „feeling“ formulieren. Das gegenüber der „senseability“ geradezu naturalisierte „feeling“ wird zum verpflichtenden Wissen von Botticelli.

Die „fertility of design“ muss als der hervorstechende Zug der „designi originali“ benannt werden. Die Fruchtbarkeit ist auf den 88 überlieferten Pergamenten eine, die sich erstens beim permanenten und wiederholten Zeichnen und Umzeichnen mit einem „Metallstift“ sowie der „Feder in Braun“ kaum anhalten lässt. Das Zeichnen befindet sich sozusagen in einem permanenten Prozess, durch den das Bild als ein Ganzes nachhaltig vereitelt wird. Gleichzeitig spricht die Fruchtbarkeit nicht so sehr Fortpflanzung, sondern eher eine Übertragung und Übersetzung an. Zweitens ließ und lässt sich bisher nicht ermitteln, mit welchem Pergament oder auch mit welchem Gesang Botticelli seine ausufernde Zeichenarbeit begann. Drittens enthält ein Pergament beispielsweise Dante und Vergil mehrfach, wodurch eine Sequenzierung der Erzählung im Bild entsteht. Dieser Zug, der an die visuellen Erzähltechniken graphischer Literatur erinnert, kann als die eigentliche und herausragende Design-Invention des Codex herausgestellt werden.

 

Die Erfindung der Sequenzierung durch Wiederholung und Abweichung in der Commedia als literarische Praxis und Bildproduktion ist auf erstaunliche Weise nahezu für die Illustration von Texten folgenlos geblieben. Bemerkenswerter Weise lässt sie sich so gut wie gar nicht in den Buchdruck und die Holzschnitte übertragen. Andersherum unterscheidet sich dieses bildgebende Verfahren von der Illumination der Bibeln und Romane im 14. und 15. Jahrhundert entschieden. Insofern nimmt gerade die „fertility of design“ eine besondere Funktion zwischen Buch, Literatur und Bild ein. Auf prägnante Weise reist oder fliegt Dante u. a. auf dem Rücken von Vergil in „Inferno XXXIV, 2“ durch „Das Zentrum der Hölle: Luzifer in ganzer Gerstalt (Der große Satan); Abschied vom Inferno“.[8]   

„Inferno XXXIV, 2“ nimmt in mehrfacher Hinsicht in, sagen wir, Botticellis Commedia eine Sonderfunktion ein. Erstens wird das Format der Pergamente verdoppelt, so dass aus dem Quer- ein Längsformat durch zwei aneinander montierte Pergamente von 63,2 x 46,3 cm entsteht. Zweitens wird die Text-Bild-Konstellation verändert. Zu sehen ist das Bild des Teufels nur, wenn der Text im unteren Teil sozusagen weggeklappt wird. Und drittens wird hier die Sequenzierung zu einer einmaligen Größe ausgedehnt. Oder mit Korbacher: „Die … Ausdehnung der Darstellung auf zwei zusammengeklebte Pergamentblätter erlaubt es dem Künstler nicht nur den Weg zu zeigen, den Dante und Vergil hier zurücklegen, sie ermöglicht es ihm auch, diesen Punkt in der Erzählung sogar im wörtlichen Sinne als Wendepunkt und als Übergang darzustellen…“[9]

 

Korbacher knüpft in ihrer Bildbeschreibung an die jüngere Forschungsliteratur an, die sich nicht zuletzt auf den Kommentar der Commedia des Dichters und Staatskanzlers von Florenz Christoforo Landino im 15. Jahrhundert bezieht. So geht auf Landinos Kommentar auch eine Formulierung zurück, nach der der Text der Commedia von Dante wegen der häufigen Verwendung von Worten aus „fremden“ Sprachen bereinigt werden müsse. Der Wunsch nach einer Sprachbereinigung oder Homogenisierung des literarischen Textes geht bei Landino damit einher, dass Dante Alighieri zum Florentiner Dichter erklärt wird. Die entschiedene und offenbar ausgeprägte Normalisierungstendenz der Sprache, der Literatur und ihres Dichters bei Landino generiert ihrerseits, und so viel wagt sich der Berichterstatter auch als der Romanistik eher unkundiger Literaturforscher zu sagen, eine verbindliche Lesart des literarischen Textes, die nach Korbacher bei Botticelli Bild wird.

 

Geht es mit Inferno XXXIV, 2 praxeologisch um einen Umschlag in der Ordnung von Text und Bild, weil die zusammen geklebten Pergamente aufgeschlagen werden müssen, so knüpft Korbacher vor allem an den „Wendepunkt (im wörtlichen Sinne)“ an: „Er ist nicht nur äußerlicher, sondern auch innerlicher Natur, eine Wendung von der vita bestiale (dem tierischen Leben) zur vita humana (dem menschlichen Leben), wie es im Kommentar Landinos heißt“. So schlägt sie denn auch vor, „Botticellis Zeichnung um 180 Grad“ zu drehen, weil dann der Umschlag als „Wendepunkt“ im Text ins Bild kommt. Dafür hätten die beiden Pergamente allerdings nicht zusammengeklebt werden müssen. Das ganze Bild des Teufels auf zwei Pergamenten, durchkreuzt, anders gesagt, jene Sequenzierung, die für die Erzählung konstitutiv wird. Andersherum durchkreuzt die Sequenzierung das Bild vom Teufel in „full length“.

 

Das Bild vom Teufel mit fledermausartigen Flügeln und einem Antlitz, das entweder hinter vier bzw. 3 sichtbaren tierisch gehörnten Masken verborgen bleibt, mit fünfzehigen Füßen, die in Krallen auswuchern, wird mit dem disegno und den disegni originali zugleich entworfen und verworfen. Muss das Bild an der Umschlagskante um 180 Grad gedreht werden, um der Erzählung zu folgen, so wird das Bild vom Teufel verkehrt. Das Bild vom Teufel wäre indessen keines, wenn er nur ein Tier wäre. Es muss hybrid an den Menschen erinnern, damit er allererst Teufel wird. Dafür steht der Teufel bei Botticelli insbesondere aufrecht wie der Mensch und hält seine krallenartigen Hände bei angewinkelten Oberarmen in Höhe des Mundes.

 

Die Überschneidung der menschlichen Haltung mit den tierischen Attributen ist nicht zuletzt hinsichtlich der Emblematik der Fledermaus bedenkenswert. Denn mit der Fledermaus kann es auch um das Wissen des Menschen und Wissen vom Menschen gehen. So findet sich im Turm des Herzogspalasts von Dijon aus dem 14. bis 15. Jahrhundert ein Fledermausemblem auf der Höhe der Bibliothek. Nicht nur bewohnen Fledermäuse bisweilen Türme, vielmehr noch waren die herzöglichen oder familialen Türme bzw. Geschlechtertürme von der Toskana ausgehend im 14. und 15. Jahrhundert Orte der Lebenspraxis für Schutz, Verteidigung, Wissenszentren und Macht, um die herum sozusagen die Paläste gebaut wurden. — Obwohl Dagmar Korbacher lediglich 30 Pergamente für die Ausstellung ausgewählt hat, lassen sie sich bestimmt stundenlang betrachten, um immer wieder neue Aspekte der disegni zu entdecken. Sie sind uneinholbar und unabschließbar.     

1882 war der Enkel des Käufers, der zuvor schon den legendären Weinkeller seiner Familie verkauft hatte, derart in eine finanzielle Schieflage geraten, dass er die Handschriftensammlung seiner Ahnen aus schottischem Hochadel bei Sotheby’s zur Auktion anbot. Der in London gut vernetzte Ernst Lippmann bekam davon Kenntnis. Der Auktionskatalog, der in der Ausstellung auch zu sehen ist, war schon gedruckt. Für das British Empire wichtige historische Inkunabeln sollten in England bzw. Schottland bleiben. Queen Victoria und ihre Tochter Victoria, die mit dem Kronprinzen Friedrich in Berlin bzw. Potsdam verheiratet war, nahmen an der teilweise öffentlich geführten Diskussion darüber teil, ob eine so prominente Handschriftensammlung England verlassen dürfe. Kurz und nur so viel: Die Auktion fand nicht statt, der Duke verkaufte für heute umgerechnet 10 Millionen Euro die Sammlung als Ganzes an den preußischen Staat. Gemessen an dem heutigen Wert der 87 Berliner Blätter der Comedia sowie nicht zuletzt der sogenannten Hamilton-Bibel aus Neapel im 14. Jahrhundert war das kein schlechter Deal, eher ein Coup.

Nun haben es allerdings Bibeln – „Handschrift auf Pergament“[10] – an sich und insbesondere die Bibel „geschrieben von Magister Johannes de Ravenna, illuminiert von Cristoforo Orimina“, dass sie nicht zum Blättern bestimmt waren. Sie waren und sind als Artefakte im Museum zum allerallergrößten Teil unsichtbar. Aus konservatorischen Gesichtspunkten können heute mit genau berechneten Stützen nur zwei bestimmte Seiten aufgeschlagen werden. Für die Ausstellung im Kupferstichkabinett und auch später in der Courtauld Gallery London wird es allerdings Tablets geben, auf denen man wenigstens in den digitalisierten Seiten blättern kann.

  

Torsten Flüh 


 

Der Botticelli-Coup 

Schätze der Sammlung Hamilton 

Kupferstichkabinett

16. Oktober 2015 bis 24. Januar 2016 

 

Der Botticelli-Coup 

Katalog 

EUR 29,80

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[1] Grundlegend dazu: Sigrid Weigel: Grammatologie der Bilder. Berlin: Suhrkamp. 2015.

[2] Dagmar Korbacher: Das Juwel der Sammlung Hamilton. In: Dagmar Korbacher (Hg. für das Kupferstichkabinett Staatliche Museen zu Berlin): Der Botticelli-Coup. Schätze der Sammlung Hamilton im Kupferstichkabinett. Berlin: Wienand 2015, S. 79.

[3] Dagmar Korbacher: 17 Inferno XVIII. In: dies., ebd., S. 86 und 87.

[4] Dies.: Das Juwel … [wie Anm. 2]

[5] Georg Josef Dietz: 47 Einband des Codex Hamilton 201. In: Ebd. S. 146.

[6] Zitiert nach: Dagmar Korbacher: Das Juwel … [wie Anm. 2] S. 80.

[7] Vgl. dazu auch: Frauke Steenbock: Die Sammlung Hamilton. In: ebd. S. 15.

[8] Dagmar Korbacher: 25 Inferno XXXIV, 2. In: ebd. S. 102-103.

[9] Ebd. 

[10] Beatrice Alai: 1 Bibel (sogenannte Hamilton-Bibel). In: Edb. S. 48.