Tönender Ausdruck - Arnold Schönbergs "Textworte" in Erwartung, Jacobsleiter und Die glückliche Hand

Monodrama – Oratorium – Drama 

 

Tönender Ausdruck 

Arnold Schönbergs „Textworte“ in Erwartung, Jacobsleiter und Die glückliche Hand

 

 

Das Schönberg-Programm des Musikfestes 2015 ist aufgegangen. Mit dem Royal Danish Orchestra, dem Deutschen Symphonie Orchester und den Berliner Philharmonikern kamen drei weitere, selten gespielte Kompositionen mit unterschiedlichem Musik-Text-Verhältnis von Arnold Schönberg am 14., 17. und 18. zur Aufführung. Michael Boder, Ingo Metzmacher und Sir Simon Rattle brachten drei hochkarätige Aufführungen von Schönbergs dramatischen Musikerzählungen zu Gehör. Das von Winrich Hopp als künstlerischem Leiter des Musikfestes angedachte Schwerpunktprogramm zu Arnold Schönberg hat einen wenn nicht bahnbrechenden, so doch kraftvollen Anstoß zu einer Neubewertung gegeben.

 

Magdalena Anna Hofmann bot mit Erwartung ein packendes „Monodrama“ nach einem Text von Marie Pappenheim. Thomas E. Bauer brachte einen zupackend, antreibenden Erzengel Gabriel in dem Fragment gebliebenen „Oratorium“ Jacobsleiter mit dem Text von Schönberg selbst auf die Erde. Und Florian Boesch stand als „Der Mann“ im „Drama mit Musik“ Die glückliche Hand gegen 6 Frauen und 6 Männer des Rundfunkchors Berlin, die ihn sogar verlachten, auf dem Podium. Monodrama, Oratorium und Künstlerdrama spielt Arnold Schönberg als insbesondere literarische Genres durch. Sie allzu schnell einem Epochenbegriff des Expressionismus zuzuschlagen, so viel wurde durch diese und die mit anderen Komponisten hergestellte Programmkonstellation klar, verkennt die literarische und musikalische Kompositionsarbeit.

 

Eine steile These gleich voraus: Die Jacobsleiter knüpft mit dem Ton insbesondere an Stefan Georges poetologischen Gedichtzyklus Der siebente Kreis an. Das ist vermutlich bisher wenig beachtet worden und hat Konsequenzen für den literarischen Text von Arnold Schönberg wie für seine Komposition der Musik und Töne. In der Jacobsleiter denkt Schönberg das Gedicht Entrückung, das er im Streichquartett Nr. 2 verarbeitet hatte, konsequent weiter. Die Trennung von Literatur und Musik wird narratologisch in den hohen Tönen der Seele praktisch aufgehoben. Die Seele (Yeere Suh) singt sehr hohe Töne, so wie sich das Ich in Entrückung in Tönen auflöst. Sie hält über mehrere Takte hinweg das hohe F. Und sie wird in der Aufführung mit dem Deutschen Symphonie Orchester unter Leitung von Ingo Metzmacher hinten oben in der Philharmonie platziert. 

Ich löse mich in tönen · kreisend · webend · 

Ungründigen danks und unbenamten lobes 

Dem grossen atem wunschlos mich ergebend.


Foto: Piero Chiussi 

Werkchronologisch fällt das Monodrama Erwartung aus dem September 1909 zwischen den Abschluss des Streichquartetts Nr. 2, das ziemlich genau ein Jahr zuvor beendet worden war, Die glückliche Hand von 1910-1913 und Die Jacobsleiter ab 1917. Das Streichquartett kann in der Kompositionspraxis als der entscheidende Umschlag bedacht werden, insofern es gleich mehrere Konventionen durchbricht. „Das Werk führt in sich den Übergang von der tonalen zur atonalen Komposition vor. Einen gravierenden Bruch mit der Tradition bedeutet überdies, daß Schönberg durch die Beteiligung der Sopranstimme gegen eine Besetzungsnorm verstieß, die in keiner anderen Gattung mit einem so emphatischen ästhetischen Anspruch verbunden wurde“.[1] Kombiniert und komponiert wird hier praktisch auch, was traditionell bzw. nach der Geschichte nicht zusammengehört. Streichquartett und liedhafte „Sopranstimme“ mit den George-Gedichten setzen indessen um, was in Entrückung mit den „tönen“ formuliert worden war. Komponiert werden qua Lektüre der Gedichte als separiert gedachte Medien, um Ausdruck zu erzeugen.[2]


Foto: Piero Chiussi 

Die Arbeit am Monodrama Erwartung ist durch die überlieferten Manuskripte gut dokumentiert. Verfolgen lässt sich an den Manuskripten, dass die monodramatische Erzählung literarisch und musikalisch von Schönberg bearbeitet wurde, wie sich beispielsweise durch die Ergänzungs- und Kommentierungspraxis im „1. Korrekturabzug der Notenseiten sowie Seite mit spieltechnischen Anweisungen und der Besetzung des Orchesters des Erstdrucks (F), 1. Exemplar. Vorlage für die zweite Korrektur“  in roter Tinte auf angeklebten Zetteln verfolgen lässt. Die Komposition des Textes wie der Musik verzichtet auf jede „Art von Leitmotivik“.[3] Dabei wird das Fehlen einer Leitmotivik für das Monodrama insofern folgenreich, als es sich durch kein Zeichenkonzept mittels Wiederholung und Verschiebung entschlüsseln lässt. Obwohl der Text mit seinen einleitenden Szenenbeschreibungen und fast minutiösen Regieanweisungen für die Gestik des Körpers ein Drama aufführt, bleibt er unentschlüsselbar.

 

Erwartung steht als Monodrama durchaus im Kontext der großen Wahnsinnsarien der Opernliteratur, die mit Georg Friedrich Händels Opera seria Orlando einsetzen. Doch die Wahnsinnsarien zeichnen sich dadurch aus, dass der Wahnsinn als solcher zur Sprache gebracht, benannt und im Modus des Rondo, also der mehrfachen Wiederholung, konkret und vermeintlich falsch verortet wird: „Liebliche Augen, ihr müsst nicht weinen, nein!“ (Orlando) Eine derartige Verortung wird im Psychotext des Monodramas Erwartung nicht praktiziert, obwohl monologisierend ein schwer verifizierbares und lokalisierbares Du aufgerufen wird. In der Formulierung „Feig bist du … willst ihn nicht suchen?“ lässt sich nicht bestimmen, ob dieses „du“ sozusagen Innen oder Außen lokalisiert werden kann.  

 

Gleichzeitig gibt es im Libretto von Erwartung lexikalische und semantische Anknüpfungsmöglichkeiten an den 2. Akt des Tristan von Richard Wagner, in dem die Wahnsinnsarie bereits in ein Versprechen erotisch aufgeladener Transzendenz transformiert wird. Denn im Modus der Erwartung eines Treffens mit Tristan, die leitmotivisch durchkomponiert ist, erscheint Tristan für Isolde bereits, bevor er die Bühne betritt. Und im Liebestod findet die Vereinigung über die Leitmotivik mit einem Toten statt, was nur deshalb nicht als Halluzination wahrgenommen wird, weil die Zeichenlogik funktioniert: 

Mild und leise 

wie er lächelt, 

wie das Auge 

hold er öffnet --- 

seht ihr's Freunde? 

Seht ihr's nicht?


Foto: Piero Chiussi 

Diese Transformation des Wahnsinns in Transzendenz über die Leitmotivik bleibt bei Erwartung gänzlich aus. Mit der wiederholten Frage an die Freunde macht Isolde diese auch teilnehmend sehend, was sie sieht. Denn die Frage ergeht quasi als Befehl, durch den die Freunde sehen sollen, was sie sieht. ─ „Freunde! Seht! / Fühlt und seht ihr's nicht? / Hör ich nur / diese Weise …“ ─ Die sinnliche Wahrnehmung durch Hör-, Augen- und Tastsinn wird dagegen in Erwartung durch nichts weiter als durch „Dämmerung links im Osten“ abgebrochen, ohne dass sich der verräterische Geliebte anders denn als „Gegenstand“ gezeigt hätte. Arnold Schönberg interessiert bei der Arbeit an Erwartung weit mehr die Wagnersche Medienverkopplung und –praxis von Text und Musik als eine pathologische Darstellung psychischer Aktivität.

 

Wie viel Text lässt sich von Erwartung in der Aufführungspraxis verstehen? Der kryptische Text wird in der Aufführungspraxis mit der Musik nicht verständlicher. Eher treibt die Musik die Sängerin an und übertönt sie bisweilen. Michael Boder machte das mit Magdalena Anna Hofmann und dem Royal Danish Orchestra höchst artifiziell deutlich. Der so detailliert ausgearbeitete Text zielt nicht auf Verständlichkeit, vielmehr gerät er zu einer Abfolge von Tönen unterschiedlicher Intensität und Lautstärke. Beispielweise: „(Rufend, sehr leiste, ängstlich)“ oder „(Wartet. Lauter)“ oder „(Mit ausgestreckten Fingern hinweisend, flüsternd)“ auch „(Leiser)“. Obwohl eine ausgeklügelte Syntax entwickelt wird, will sich kein anderer Sinn einstellen, als dass er erwartet wird. Der kryptische Psychotext lässt völlig offen, was geschehen sein könnte. Damit positioniert er sich indessen scharf im Unterschied zum Wahnsinn zwischen kunstvoller Kastratenarie und Liebestod. Erwartung gehört nicht mehr dem „Tristan-Stil“ an, wie Schönberg es in einer Diskussion des Berliner Rundfunks vom 10. März 1931 noch für Verklärte Nacht hatte gelten lassen.

 

Die Offenheit und Vieldeutigkeit der Lexik ebenso wie die wiederholte Erwähnung des Mondes schlagen sowohl den Bogen zum Genre Wahnsinnsarie wie zum 1912 von Schönberg dezidiert für Sprechstimme komponierten Pierrot Lunaire nach Gedichten von Albert Giraud. Auch in dieser Hinsicht erweist sich der Epochenbegriff Expressionismus als ziemlich unscharf. Doch die Vieldeutigkeit, die die Wahrnehmung der „Frau“ ebenso gut als halluzinatorische bedenken lässt, hat in der Schönberg-Forschung nachhaltig dazu geführt, den Text als einen der Hysterie zu verorten. Noch 2007 hört und liest M. Weber ihn geradezu psychopathologisch:   

… Jäh schwankt die Stimmung zwischen Euphorie und Hysterie, dann rollen depressive Schübe heran, schließlich offenbart sich nackte Verzweiflung…[4]


Foto: Piero Chiussi 

Insofern es sich bei der Hysterie um eine medientechnische Inszenierung von Weiblichkeit handelt, wie man seit Georges Didi-Hubermans Studie Erfindung der Hysterie: die photographische Klinik von Jean-Martin Charcot[5] wissen sollte, lässt sich von Stimmungsschwankungen „zwischen Euphorie und Hysterie“ schlecht sprechen. Das Krankheitsbild der Hysterie erweist sich gerade als ein Problem der Semantik par excellence. Es werden nämlich zu allererst Zeichen in einer theatralen Inszenierung erzeugt, um Weiblichkeit bzw. das Weibliche als „Gegenstand“ des Wissens sichtbar zu machen. Erwartung als einen hysterischen Text oder Text einer Hysterikerin zu lesen, wie es in der Schönberg-Forschung gemacht worden ist, kann nur scharf als sexistisch widersprochen werden. Anders gesagt: Arnold Schönberg arbeitet und komponiert mit dem Monodrama Erwartung in einem semiologischen Feld, in dem es mit dem Ausbleiben des zeichenlogischen Leitmotivs um alles geht. ─ Da setzt die Atonalität ein!

 

Für die Aufführung der Jacobsleiter in der Philharmonie durch das Deutsche Symphonie Orchester wurde sozusagen der ganze Raum für die Fernmusiken bespielt. Ähnlich wie der „Sprechgesang“ gehören die „Fernmusiken“ zu jenen Modi der Schönbergschen Musikpraxis, die beispielsweise in Manuskripten genaue Beachtung bis hin zu Skizzen gefunden haben und dennoch einen breiten Raum der Interpretation und Einrichtung eröffnen. Mit Edda Moser, die 1994 ihre Karriere als Sängerin beendet hat, war die Rolle „Der Sterbende“ prominent und genderalternativ besetzt. Thomas E. Bauer sang den Gabriel. Das Oratorium als spezifische Kirchenmusikpraxis wird von Arnold Schönberg mit der Jacobsleiter auch in Bezug auf die historische Situation um 1922 bedacht. So denkt er schon 1912 daran ein Oratorium zu schreiben. 

Nämlich: ich will seit langem ein Oratorium schreiben, das als Inhalt haben sollte: wie der Mensch von heute, der durch den Materialismus, Sozialismus, Anarchie durchgegangen ist, der Atheist war, aber sich doch ein Restchen alten Glaubens bewahrt hat (in Form von Aberglauben), wie dieser moderne Mensch mit Gott streitet (siehe auch ‚Jakob ringt‘ von Strindberg) und schließlich dazu gelangt, Gott zu finden und religiös zu werden. Beten zu lernen! (Brief vom 13. Dezember 1912)[6]

 

Zwischen 1912 und 1922 fand der Erste Weltkrieg statt, der die Frage des Menschen in der Welt und nach Gott noch einmal zugespitzt hatte. Nicht zuletzt ging dabei die K.-und-K.-Monarchie unter. So ist denn auch die Figur des Erzengels Gabriel eher zu einem Antreiber denn zu einem Erlöser geworden. Gabriel könnte auch ein Vorarbeiter in der Industrie sein, wo kaum die Zeit zum Beten gefunden werden konnte. Und Ingo Metzmacher ließ die kurzen Anfangsakkorde eher auch ins Jazzige denn ins Klassische oder Sakrale kippen. Habakuk Traber ist klar zu widersprechen, dass Die Jakobsleiter eines der „drei groß angelegten religiösen Werke“ Schönbergs sei.[7] Und obwohl Arnold Schönberg Richard Dehmel um ein Libretto gebeten hatte, steht Die Jacobsleiter der Dichtung Stefan Georges weitaus näher. In der einleitenden Chorsequenz wird in minimalistisch-formelhafter Weise ein Welttheater von „unerträgliche(m) Druck“ bis „Ohne zu fragen -“ entfaltet. Der Sprechgesang herrscht als Modus des Sprechens zwischen Gesang und Deklamation vor.

 

Gerade weil die brillanten Solisten von Thomas E. Bauer und Daniel Behle (Ein Berufener) bis Yeree Suh und Alexandra Steiner als 2. Seele sowie der ausgezeichnete Rundfunkchor Berlin unter seinem neuen Chefdirigenten Gijs Leenaars ständig im Sprechgesang artikulierten, wurde die Komposition mit den hohen Tönen bis zu den höchsten der Seele umso deutlicher herausgearbeitet. Zwischen Sprechen und Singen entstand eine wunderbare Spannung, die die Aufmerksamkeit durch Texteinblendungen, also Lesen, auf Schönbergs literarischen Text wenigstens verschob. Neben der knappen Formulierungen sind es vor allem die narrativen Prosapassagen, die sich stärker bedenken lassen. Wenn Gabriel an den Mönch (Gerhard Siegel) gerichtet sagt „Wie du doch schwankst und unsicher bist!“ schimmern in der Musik ein paar Walzertakte auf, die nicht als Leitmotiv funktionieren, aber an das untergegangene und mit Gottesanspruch legitimierte K.-und-K.-Reich erinnern können. 

… Manche, die noch Lust und Leid bewegt, stehen fester als du, den es nur mehr als Begriff anfällt: du prüfst dich allein! Nicht noch, sondern schon unbekannt ist dir derlei. Und du meinst noch, der Herr verlange dein Opfer? Weißt du nicht, dass du es selbst so willst?

 

Die Begriffe stehen hier bei Arnold Schönberg nicht nur als Kritik am Mönch zur Verfügung, sondern sie stehen als Modus des Wissens auf dem Spiel, was sich durchaus als eine Schönbergsche Sprachkritik formulieren lässt. Wenn Gabriel seine Rede mit dem Befehl „Geh; verkünde; und leide; sei Prophet und Märtyrer“ abschließt, dann lässt sich beim Deutschen Symphonie Orchester unter der Leitung von Ingo Metzmacher auch eine Portion Ironie mithören. Andererseits kippt die Rede des Sterbenden schließlich in einen tönenden Gesang ohne Worte. „Und er fliegt - - - -/Ich fliege - - - -/Der seligste Traum erfüllt sich: Fliegen! /Weiter! - - - - Weiter! - - - - /Zum Ziel - - - - / Oh - - - -“ An dieser Stelle zeigte sich die Besetzung des Sterbenden mit Edda Moser als klugen Zug. Denn sie sang die letzten Worten und das „Oh“ in einem hohen Ton, so dass die Transformation der Sprache in Töne vorgeführt wurde.

Schönbergs Anweisungen, Erläuterungen und Formulierungen zur Transformation von Sprache in Töne, die Sprache Musik werden lassen, um des Weiteren an die literarische Moderne von Ezra Pound bis Gertrude Stein zu erinnern, gehören als Literatur in das Feld der Fragestellungen nach dem Subjekt. So ergeht von den hohen Frauenstimmen der an George anknüpfende Befehl: „Löse dich auf!“ Und Gabriel sagt prophetisch als Schluss zur Solo-Violine „Dann ist dein Ich gelöscht - - - -“, worauf das Große Symphonische Zwischenspiel folgt, weil was sich auflöst nicht mit Worten formuliert werden kann. In ebenso literarischer wie radikaler Weise formuliert Arnold Schönberg seine Musik nun ganz entgegen dem „Tristan-Stil“: „Gleichzeitig mit Grabriels breitem Gesang setzen aus der Ferne Frauenstimmen ein. Die Seele (…) sind ohne Textworte in langen Tönen und eine Gruppe Frauen- und Männerstimmen spricht dazu.“ Die Mehrschichtigkeit, weil Gleichzeitigkeit bringt im Oratorium, wo es programmatisch im Beten um ein Zeichen Gottes geht, die Ambivalenz und Mehrdeutigkeit zur Sprache: „Ist Zeichen der Schuld, weil der Gnade.“

Die radikale Löschung des Ich wird zur Schlussformulierung, während mit der Seele in den Modi des Oratoriums das Fortleben und Wiederauferstehen der Seele als Substanz des Ich versprochen wird. Fragment ist Die Jacobsleiter nicht zuletzt geblieben, weil entgegen den Regeln des Oratoriums das Ich mit der Seele gelöscht wird. Auf gänzlich andere Weise als bei Gustav Mahlers Lied von der Erde als Requiem für einen Atheisten, endet bei Arnold Schönberg das Oratorium als Gebet in Erwartung der Löschung mit einem Abbrechen der Musik. Wie sehr und ob Arnold Schönberg das Fragmentarische als literarische Form der Moderne selbst bedachte, lässt sich nicht sagen. Nach dem „Textbuch“ gibt es mehr Text. Doch die Formulierung: „Dann ist dein Ich ausgelöscht - - - -“ lässt sich auch schwer übertreffen oder paraphrasieren.

 

Mit Die glückliche Hand op. 18 kam mit den Berliner Philharmonikern unter der Leitung von Sir Simon Rattle ein zweites Werk zur Aufführung, für das Arnold Schönberg auch das Libretto geschrieben hat. Wie Erwartung wurde auch Die glückliche Hand erst mit erheblicher Verzögerung nach dem Ersten Weltkrieg 1924 aufgeführt. Wenn es so etwas wie eine Chronologie im Werk Schönbergs und seiner Rezeption gibt, dann geben die verspäteten Uraufführungen auch einen Wink darauf, dass er in seiner künstlerischen Praxis seiner Zeit mit seiner Zeitanalyse voraus war. Florian Boesch als Der Mann und die Mitglieder des Rundfunkchors Berlin waren wiederum bestens disponiert. Der noch prosaischer angelegte Text wurde diesmal nicht projiziert. Wie in Erwartung und der Jacobsleiter ist das „Drama mit Musik“ sehr genau ausgearbeitet. Eine besondere Aufmerksamkeit verlangt der Modus des Plötzlichen. 

… Plötzlich erklingt hinter der Szene laute gemein-lustige Musik, die in einem Jubel der Instrumente ausklingt. In den Schluss-Akkord der Bühnenmusik hinein schallt grelles, höhnisches Lachen einer Menschenmenge. Im selben Moment erhebt sich der Mann mit einem kraftvollen Ruck… 

 

Plötzlichkeit, „Ruck“ und Gleichzeitigkeit werden zu den narrativ und dramatisch strukturierenden Modi von Zeit. - „Im selben Augenblick …“ „Plötzlich hat der Mann …“ „Inzwischen …“ - Denn es geht darum, einen neuen Kunstbegriff mit einem „Schlag“ zu formulieren und zu inszenieren. Im Schlag und plötzlich entsteht das Kunstwerk, was sich nicht zuletzt ebenso als Gegenentwurf zur Genieästhetik wie zur Mythologie der Märchen einstellt. Schönberg verwendet für die Inszenierung des Kunstbegriffs aus einem Schlag – und gerade nicht aus einem Guss – viel Sorgfalt und Dramatik: 

… Die Bewegungen der Arbeiter dürfen nicht  bis zu jenem Punkt gelangen, dass sie sich wirklich auf ihn stürzen, sollen aber so weit gehen, dass man ihnen diese Absicht anmerkt. Ehe sie dazu kommen, hat er mit beiden Händen den Hammer ergriffen und zu einem gewaltigen Schlage mit leichtem Schwung ausgeholt. Wie der Hammer niederfällt, erstarren die Gesichter der Arbeiter vor Staunen: der Amboss ist in der Mitte geborsten, das Gold in den dadurch entstandenen Spalt gesunken. Der Mann bückt sich und hebt es mit der linken Hand auf. Hebt es langsam hoch empor. Es ist ein Diadem, reich mit Edelsteinen geschmückt.

 

Gesungen und gesprochen wird in Die glückliche Hand eher wenig. Es geht um einen künstlerischen Produktionsprozess auf und aus einem Schlag. Und die falsche, die linke Hand nimmt Gold aus dem Spalt, das sozusagen unter der Hand zum Diadem als Kunstwerk wird. Der Mann kommentiert die Produktion des Diadems mit „(schlicht, ohne Ergriffenheit) So schafft man Schmuck!“ Der Schlag spaltet den „Amboss“ als traditionelles Produktionsmittel auch. Und er spaltet die „Arbeiter“ als Öffentlichkeit. Gleichzeitig gibt das einen Wink auf die Schlagartigkeit der (neuen) Töne in der Zwölftonmusik. Doch der durch den Schlag produzierte Schmuck wirft auch die Eigentumsfrage auf. Er lässt sich schließlich nicht fassen, nicht besitzen und auch nicht verstehen. Damit wird das Verhältnis von Subjekt und künstlerischer Produktion dem Monodrama ähnlich radikal in Frage gestellt. Die glückliche Hand kann sprichwörtlich auch als Fluch erfahren werden. 

… Ist kein Friede in dir? Noch immer nicht! – Suchst zu packen, was dir nur entschlüpfen kann, wenn du’s hälst.    

 

Die Kompositionen von Arnold Schönberg in unterschiedlichen Konstellationen mit Iannis Xenakis‘ Shaar und Gustav Mahlers Kindertotenliedern mit der wunderbaren Wiebke Lehmkuhl  (Deutsches Symphonie-Orchester), mit Per Nørgåds Iris und Carl Nielsens Symphonie Nr. 5 (The Royal Danish Orchestra) und last but not least Bernd Herrmanns „Narrative for String Orchestra“ für Hitchocks Psycho sowie Carl Nielsens Symphonie Nr. 4 (Berliner Philharmoniker) zu hören und zu erleben, eröffnete noch vielfältige andere Kontexte. Die Philharmoniker spielten Psycho des Schönberg-Schülers Herrmann so intensiv und spannungsvoll, dass die Aufführung leider nach ca. 10 von 18 Minuten völlig verhustet wurde. Bisweilen sollte man doch ein Messer mit in die Philharmonie nehmen. Bei der 4. Symphonie bestand schon allein deshalb nicht die Gefahr des Hustens, weil sie über weite Strecken voluminöser ist. Umso mehr waren Andreas Ottensamer an der Solo-Klarinette und Marion Reinhard vom Orchester der Mailänder Scala am Kontrafagott für die farbenreichen und leisen Töne zu bewundern. 

 

Torsten Flüh

 

Konzerte des Royal Danish Orchestra und der Berliner Philharmoniker im Radio:

 

FR 25. September  

20:03 Uhr, Deutschlandradio Kultur  

Royal Danish Orchestra  

Aufzeichnung vom 14. September 

 

SO 27. September 
20:05 Uhr, rbb Kulturradio 
Berliner Philharmoniker 
Aufzeichnung vom 12./13. September 

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[1] Siehe Streichquartett Nr. 2. A. Originalfassung. Arnold Schönberg Center.

[2] Anm.: Sir Simon Rattle hatte bereits 1995 mit dem City of Birmingham Orchestra Erwartung zusammen mit der Kammersymphonie Nr. 1 von Schönberg eingespielt.

[3] Martin Wilkening: Von der Wirkung der Klänge. In: Abendprogramm The Royal Danish Orchestra am 14. September 2015. Berliner Festspiele, Berlin 2015, S. 8.

[4] M. Weber: Jähe Seelenkurven. (Klassiker der Moderne (55)) In: Die Zeit, 29.03.2007 Nr. 14

[5] Georges Didi-Huberman: Erfindung der Hysterie: die photographische Klinik von Jean-Martin Charcot. Paderborn: Fink, 1997.

[7] Vgl. dazu: Habakuk Traber: Das Offenbar(t)e und das Verborgene. In: Abendprogramm Deutsches Symphonie Orchester 17. September 2015. Berliner Festspiele, Berlin 2015, S. 9.