Mehrfach bin ich in den letzten Wochen nach den Bohr-Briefen und ihrem Presse-Echo gefragt worden. Was ich stärker aus den Briefen herauszuspüren meine als andere Leser, ist, wie freundschaftlich der Ton auch noch im Zorn und in den Vorwürfen bleibt. Solche Briefe schreibt man nur an einen Freund, selbst wenn man sie nicht abschickt. Wer die Briefe genau liest, kann einen Eindruck von der Beziehung zwischen Bohr und Heisenberg erhalten. Es ist gut, dass nicht nur mein Vater, sondern auch Bohr seine Erinnerung an die Begegnung in Kopenhagen festgehalten hat. Zusammen ergeben die beiden Darstellungen ein eindrucksvolles Zeugnis von dem Moment der äußersten Belastung einer großen Freundschaft, aber sie geben keinen Hinweis auf einen Bruch. Noch 1957 war Bohr bei uns zu Hause in Göttingen, und ein oder zwei Jahre vorher haben wir Bohrs in Tidsvilde besucht. Ich erinnere mich an die harmonische, freundschaftliche Atmosphäre. Aber mit den Richtigstellungen kommt man in dieser Debatte kaum hinterher. Es ist deswegen vielleicht angemessen, auf ihre tieferen Hintergründe einzugehen.

Ich kann mir kaum vorstellen, dass die Veröffentlichung der Bohr-Briefe so viel Aufmerksamkeit erzeugt hätte und die Diskussion um die moralische Person Heisenberg so viele Jahre virulent geblieben wäre ohne dieses Skandalon, dass Heisenberg im Hitler-Deutschland eben nicht an der Atombombe gebaut hat.

Lässt man die Spekulationen über Heisenbergs Motive beiseite, ist die historische Sachlage einfach. Zwischen 1939 und 1941 wurden auf beiden Seiten Machbarkeitsstudien durchgeführt. Anschließend wurde in Deutschland beschlossen, keinen Versuch zu unternehmen, Atomwaffen herzustellen. Die Reaktorforschung, die diesem Beschluss folgte, wurde mit niedriger Priorität und Intensität betrieben. Mehr wäre eigentlich nicht zu sagen.

Umso erstaunlicher, dass es bis heute nicht möglich scheint, ohne Wenn und Aber und mit innerer Gelassenheit diese historischen Tatsachen zuzugestehen.

Zu groß scheint der Verdacht zu sein, Deutschland solle ein moralisches Verdienst angerechnet und damit implizit das Atombombenprogramm der Alliierten kritisiert werden. Aber wie, so wundert man sich, könnte es moralische Vorbehalte gegen das Atombombenprogramm der Alliierten geben? War nicht die Furcht vor Atomwaffen in der Hand Hitlers Rechtfertigung genug, das Projekt mit höchster Priorität auf den Weg zu bringen? War der Bau nicht Notwehr auf höchster Ebene? Wer sich fragt, warum Heisenberg für seine Haltung im "Dritten Reich" kritisiert wird, sollte sich eingehender mit der Entwicklung des Uranproblems in den USA beschäftigen. Es scheint mir kein Zufall, dass sich Bohrs Kritik an der von Jungk verbreiteten Äußerung Heisenbergs entzündete, er habe mit Bohr bereden wollen, ob man nicht vielleicht ein Moratorium der Physiker in der Arbeit am Uranproblem erreichen könne.

Sicher sind der rasche Start und die ungeheuren Dimensionen des alliierten Programms nur dadurch zu erklären, dass man meinte, in Nazideutschland würde schon an der Atombombe gebaut. Tausende von Physikern und Technikern aus aller Welt, die meisten von ihnen integre, verantwortlich denkende Menschen, stürzten sich in dieses Projekt und betrieben es mit äußerster Anstrengung und persönlichem Engagement. Weder durften noch mussten sie sich mit der Gewissensfrage aufhalten, ob Atomwaffen zu bauen überhaupt erlaubt war, solange sie sich im Wettlauf mit Deutschland glaubten, dem sie zuvorkommen mussten. Die in Jahren täglicher Arbeit praktizierte, fest verankerte Vorstellung von Heisenberg als demjenigen, der Hitler Atomwaffen baute, wurde zu einem festen Bestandteil ihrer Motivation.

Später war Deutschland besiegt, und man suchte vergeblich nach den vermuteten kerntechnischen Anlagen, die die gewaltigen eigenen Anstrengungen beflügelt hatten. Im Hitler-Deutschland war nicht an Atomwaffen gebaut worden. Der Wettlauf, die Grundlage für die so eindeutige Beantwortung der Gewissensfrage, hatte nur bei den Alliierten und in der Vorstellung der Beteiligten stattgefunden. Aber bei Kriegsende hatte sich vielen von ihnen das Feindbild Heisenberg schon zu tief eingegraben, als dass es noch hätte revidiert werden können. (Man wollte ihm nicht einmal mehr zugestehen, er könne unter anderem auch nach Kopenhagen gereist sein, um seinen väterlichen Freund vor den Übergriffen der Besatzungsmacht zu schützen, obwohl Bohr, wie man jetzt aus den Briefen erfährt, das selbst so verstanden hat.)