Für die Serie Heimatreporter besuchen Redakteure von ZEIT und ZEIT ONLINE die Orte, an denen sie aufgewachsen sind. Die Serie ist Teil unseres neuen Ressorts #D18.

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Wenn uns damals, Ende der Neunzigerjahre, als Berlin noch voller Baukräne und Rave war, jemand in den coolen Läden in Kreuzberg gefragt hat, wo wir herkommen, haben wir immer schüchtern und auf Hochdeutsch "Frankfurt" gesagt, und gehofft, dass niemand nachfragt, aus welchem. Wir fuhren dann wieder nach Hause, sahen aus dem Zugfenster hinter Erkner die ersten Hakenkreuzgraffitis und beteten, dass keine Nazis einsteigen würden.

Wenn wir Jahre später, in unseren Großstadt-WGs ins Internet gingen, statt die Scheiß-Hausarbeit fertig zu schreiben, zuckten wir zusammen, wenn irgendwo von Frankfurt (Oder) die Rede war. Dann hatten sicher Nazis stundenlang einen Punk gefoltert, oder die Bürger hatten in einem Referendum eine Straßenbahnverbindung in die polnische Schwesterstadt Słubice mit 83 Prozent abgelehnt.

Uns Fortgezogene hätte es nicht überrascht, wenn uns in den vergangenen zwei Jahren auch aus Frankfurt Nachrichten von Aufmärschen gegen Flüchtlinge erreicht hätten. Wenn sich irgendein lokaler Fußballer oder Ex-Komiker zum Sprecher einer fremdenfeindlichen Bewegung gemacht hätte. Was man halt so kennt aus Cottbus und Nauen, aus Dresden und Freital. Frankfurt (Oder), 60.000 Einwohner, seit der Wende um ein Drittel an Leuten geschrumpft, gut halb so voll wie Cottbus, hochverschuldet, mit einer Kinderarmutsquote von fast 30 Prozent, wäre doch nach allen Maßstäben der perfekte Standort für ein nächstes preußisches Pegida gewesen.

Aber entweder ist die Normalität anders geworden, oder die Maßstäbe waren falsch. Jedenfalls hat sich die Stadt verändert, in der wir unsere Eltern zurückgelassen haben. Und jetzt ist das erst richtig zu sehen.

Frankfurt. Eine unsentimentale, frühere Bezirksstadt mit ein paar vom Krieg verschonten Kirchen und großer Magistrale, auf der man prima Paraden abhalten konnte. Eine Mischung aus zurückkehrender Natur und Neuaufbau. Die Straßenbahn bimmelt am prachtvollen alten Kino vorbei, das seit 20 Jahren verrottet wie ein alter Wolga im Straßengraben. Ein paar Schritte weiter unten strahlen die Unigebäude mit ihren graffitilosen Sandsteinfronten die Oder an. Was mit Frankfurt geschehen ist, wird man als allerletztes im Stadtbild sehen können. Noch kann man es vor allem hören.

Vor einigen Wochen zum Beispiel, mitten im Bürgermeisterwahlkampf. Große Debatte der fünf Kandidaten, 2.000 anwesende Zuhörerinnen und Zuhörer, live übertragen im Netz. Der AfD-Kandidat sagt: Er wünsche sich, dass es in Frankfurt nicht zu Cottbusser Verhältnissen komme. Deswegen sei er dafür, den Zuzug weiterer Flüchtlinge zu begrenzen. Woraufhin der amtierende Oberbürgermeister, der parteilose, konservativ-liberale Martin Wilke ihn anpatzt, dass es ja wohl keinerlei größere Probleme mit Ausländern gebe. Die Stadt profitiere von ihrer Internationalität. Donnernder Applaus aus dem Publikum, der lauteste und längste, den es an diesem Abend geben sollte. Kurz darauf verteidigt sich CDU-Kandidat Derling dafür, dass ein Derling-Plakat mit der Forderung "Kriminelle Flüchtlinge abschieben" in der Stadt aufgetaucht war. Der gemeinsame Kandidat von Linken und Grünen, der 33-jährige René Wilke, sagt, dass kriminelle Asylberechtigte bestraft gehörten, aber nicht abgeschoben.

Auf der Oderinsel Ziegenwerder, im Hintergrund Polen © Maria Sturm für ZEIT ONLINE

Wenige Tage später holte René Wilke 43 Prozent in der ersten Runde der Oberbürgermeisterwahl. Der amtierende Bürgermeister Martin Wilke wurde mit etwa 20 Prozent Zweiter. Die AfD erreichte um die 17 Prozent, die CDU 15. Und der SPD-Kandidat – ein Mann mit Schnurrbart, der wahrscheinlich Peer Steinbrück sehr mag – erhielt unfassbare fünf Prozent. In seiner Partei mutmaßte einer hinterher, der Grund für das Ergebnis seien wohl die gleichlautenden Nachnamen der Kandidaten und die damit verbundene mediale Aufmerksamkeit gewesen. So ist die neue Frankfurter Normalität: Es gibt in der Stichwahl, die am morgigen Sonntag stattfindet, keinen Kandidaten, der auch nur ansatzweise fremdenfeindlich ist. Die beiden Wilkes wollen die Stadt sogar noch mehr öffnen. Für Studenten, Investoren und, wenn es sein muss, für Flüchtlinge.

Was haben wir verpasst?

Man hätte es schon bei Alexander Gauland letztes Jahr mitkriegen können, als er bei der Bundestagswahl gegen den Merkelianer Martin Patzelt verlor: Frankfurt ist kein gutes Pflaster mehr für Nazis und Rechtspopulisten. Aber wann zum Teufel ist das passiert? Was haben wir verpasst? Sind wir nicht geflohen, weil wir dachten, aus dieser Stadt würde im Leben nichts mehr?

Mitte der Neunzigerjahre erschien in Frankfurt (Oder) ein neuer Stern am Nazihimmel. Er hieß Jörg Hähnel und war noch nicht sehr lange volljährig. Aber schlau war er. Er machte aus dem Haufen gröhlender Faschos eine Truppe mit einem Plan. Plötzlich pflanzten die Nazis deutsche Eichen im Neubauviertel. Hähnel und seine Leute traten mit Akustikgitarren im Altersheim auf, wo sie im gebügelten Hemd schunkelnden Rentnern das Schlesierlied vortrugen. Sogar im Öffentlich-Rechtlichen tauchte er auf, und sagte mit seinem Lausbubengesicht: "Wir müssen vor Ort versuchen, das Thema Nation wieder ins Volk zu bringen." Das war die Zeit, in der die Nazis Flyer herausbrachten, mit Namen, Adressen, Telefonnummern und Autokennzeichen von politischen Gegnern. "Kameraden, lasst Euch was einfallen", stand darüber. Es gab Verletzte. Um uns herum, in Eisenhüttenstadt, Fürstenwalde, die ersten Toten.