Kunstwissen

Der Meister der Indifferenz

Mit seinem heterogenen Werk zwischen Geschichtsmalerei und konzeptuellen Farbtafeln dominiert Gerhard Richter seit Jahren den Kunstbetrieb. Er sorgt für Preisrekorde am Auktionsmarkt, seine Ausstellungen ziehen Hunderttausende an. Und immer noch spaltet er die Kritik. Am 9. Februar feierte er seinen 85. Geburtstag. Zwei langjährige Kenner geben Einblick in die Höhen und Tiefen seiner Methode

Von Eckhart Gillen und Eduard Beaucamp
09.02.2017

EIN GLÄUBIGER ZWEIFLER

von Eckhart Gillen

Seit 2004 ist Gerhard Richter ohne Unterbrechung die Nummer eins des Kunstkompasses. Entscheidend für dieses Ranking sind Ankäufe renommierter Museen, Ausstellungen und Nennungen in führenden Kunstzeitschriften. „Qualität, intellektueller Anspruch oder Ästhetik“, so Willi Bongard über die von ihm entwickelte Skala, werden nicht gewertet.
Die Frage nach der Qualität und Ästhetik rührt aber an den Kern von Gerhard Richters Selbstverständnis. Sie bestimmt seinen permanenten Kampf um Sinn, Bedeutung und Anerkennung seines Berufs als Maler unter den grundsätzlich unterschiedlichen Bedingungen der sozialistischen DDR und der kapitalistischen BRD. Denn Richter macht es sich nicht leicht. Zwei Monate nach seiner Übersiedlung von Dresden nach Düsseldorf im März 1961 schreibt er an den Künstlerfreund Wieland Förster in Ost-Berlin: „Ich will nicht mehr denken (…) ob es gerechtfertigt ist, dass ich male. Ich weiß jetzt, dass Malen mein Beruf ist.“ Der Westen hat ihm klargemacht, dass hier dieser Beruf des Malens seine Weise zu leben regeln wird – und nicht umgekehrt. Kein anderer Künstler hat vor dem Hintergrund seiner Erfahrung als anerkannter Wandbildmaler im sozialistischen Realismus, der mit 29 Jahren im Westen als Student noch einmal ganz von vorn anfangen musste, so genau und so beharrlich die Grundlagen der künstlerischen Produktion in den beiden Systemen reflektiert.

Vorwürfe, sein ständiger Wechsel zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit, High and Low, Pop und Klassik, Op-Art und düsterer Historienmalerei sei zynisch, seine Kunst total unverbindlich, ohne Inhalt und Substanz, gehen völlig vorbei am Kern seines Kunstkonzepts, das besagt: Ich habe kein Konzept, und das ist mein Konzept. Sein unbedingter Glaube an die Kunst und sein demonstrativ gemalter Unglaube an die Möglichkeit der Kunst heute wurden für Richter zum täglichen Credo quia absurdum: Ich glaube, weil es unvernünftig ist. Kein zweiter Künstler hat in seinen Schriften, Interviews und mit einem Studioporträt in Spielfilmlänge die Debatte um die Sinnhaftigkeit oder Absurdität der Malerei im Zeitalter der Neuen Medien und der Neoavantgarden so insistierend und so konsequent in aller Öffentlichkeit geführt. Wie kein anderer seiner Kollegen hat Richter sich dabei selbst in seiner Existenz als Künstler infrage gestellt. Seine Weltberühmtheit ist demnach nicht das Resultat von finsteren Machenschaften eines undurchschaubaren Kunstmarktes, sondern verdankt sich einer von ihm seit den frühen Sechzigerjahren konsequent geführten Auseinandersetzung – als öffentlich zelebriertes, permanentes Experiment im Atelier und in Ausstellungen weit mehr noch als durch all die Interviews und Texte.
Dass Richter im Gegensatz zu Kollegen wie Jörg Immendorff oder Anselm Kiefer, die ihre Konzept- und Aktionskunst zugunsten von narrativer Malerei und ästhetischer Überwältigungsstrategie aufgaben, Bilderstürmer und Bilderverehrer in einer Person geblieben ist, liegt in seiner Herkunft begründet. Der 2007 vollendete Auftrag des Kölner Domkapitels, das riesige, im Krieg zerstörte Südquerhausfenster der Kölner Kathedrale neu zu gestalten, sei hier als signifikantes Beispiel für die ständige Ambivalenz zwischen Unglauben und Glauben an den Primat der Kunst genannt. Die Auftraggeber wünschten sich von Richter eine figurative Lösung, die Darstellung von sechs modernen Märtyrern. Doch der bekennend nicht gläubige Künstler verweigerte diese Vorgabe und griff für seinen Entwurf auf eine Vorlage zurück, die seit mehr als 30 Jahren in seinem Fundus bereitstand, das letzte Bild einer umfangreichen Werkgruppe der Farbtafeln: „4096 Farben“ von 1974. Die Fensterfläche zwischen dem Maßwerk füllte er mit 11263 Farbquadraten in 72 verschiedenen Farbtönen aus; die Anordnung überließ er dem computergesteuerten Zufall.

Erwartungsgemäß empfand der Hausherr, Joachim Kardinal Meisner, die Gegenstandslosigkeit als beliebig und bedeutungsleer. Sie passe besser in eine Synagoge oder eine Moschee. Für den Erzbischof, so schrieb er damals in der FAZ, „entartet“ die Kultur, sie „verliert ihre Mitte“, wenn sie „von der Gottesverehrung abgekoppelt wird“. Meisner griff damit Hans Sedlmayrs berühmtes, 1948 publiziertes Buch Verlust der Mitte auf. Die Thesen des katholischen Hochschullehrers und ehemaligen NSDAP-Parteigenossen vom Zerfallsprozess abendländischer Kunst und Architektur ins Disparate, Chaotische und Absurde gingen auf dessen Vorlesungen der Dreißiger- und frühen Vierzigerjahre zurück. Gemeint war der Verlust des Menschen als Ebenbild Gottes. Mit dem ex cathedra verkündeten Verdikt seines Glasfensterkonzeptes durch den Kardinal holte Richter die eigene Vergangenheit in der DDR wieder ein, wo der Künstler zur Darstellung des sozialistischen Menschenbildes verpflichtet worden war. Er distanzierte sich von dieser Zumutung und erklärte immer wieder, man müsse den „Verlust der ›Mitte‹ bejahen, wie den Verlust der Gesinnung und Haltung und Individualität. Eine Reaktionsmaschine sein, labil, indifferent, abhängig. Sich aufgeben für die Objektivität. Subjektivität habe ich immer verabscheut.“
Bei aller „protestantischen“ Askese fügt sich das computergenerierte Kirchenfenster des bekennenden Agnostikers jedoch nahtlos in die vielstimmige Komposition der Kunstwerke im Dom ein, die seit Jahrhunderten dem Kultus dienen. Das »Richter-Fenster« ist trotz der konsequenten Verweigerung religiöser Symbolik Teil der theologischen Gesamtkonzeption der mittelalterlichen Kathedrale geworden, deren diaphane Wände einen von der Außenwelt abgeschlossenen, imaginären Lichtraum schaffen, der den Gläubigen als Vorschein des himmlischen Jerusalem, als Jenseits im Diesseits erscheint. Auf diese sakrale Konstellation hat sich Richter mit vollem Bewusstsein eingelassen.
Diese Ambivalenz findet sich auch in seinen „Abstrakten Bildern“. Gemäß der alten Parole der Avantgarde, die Erneuerung durch Zerstörung verhieß, realisiert er seit 1980 abstrakte Kompositionen. Mit Rakeln zieht er immer wieder Farbpartien ab und schichtet neue auf. Unter weitgehender Ausschaltung der eigenen Subjektivität wird der teils zufallsgesteuerte, teils kontrollierte Prozess des Wegnehmens und Hinzufügens so lange getrieben, bis Richter feststellt: Jetzt ist es „gut“, „schön“ und „wahr“. Ihm ist dabei aber immer bewusst, dass alle diese Fragen – warum ein Gemälde gut ist, warum es ihm aber am anderen Tag unbefriedigend erscheint, warum es schön ist, warum es überhaupt Kunst ist – nicht zu beantworten sind. Klar ist nur, er will an der Malerei festhalten, die er zugleich in Zweifel zieht.

Einerseits wünscht sich Richter, dass ein Gemälde dem Glauben an eine transzendente Welt „wenigstens sehr nahe“ komme. Andererseits weiß er, dass seit der Aufklärung diese religiöse Dimension der Malerei säkularisiert worden ist. Dennoch hält er daran fest, dass es einen gemeinsamen Glauben an die Kunst als „ ›religio‹, ›Rückbindung‹, ›Bindung‹ an das nicht Erkennbare, Übervernünftige, Über-Seiende“ gebe. Darin bestärkt ihn auch sein kunsthistorischer Begleiter Benjamin Buchloh im Film von Corinna Belz, wenn er mit der eigenen Person beglaubigt, wie er vor den „Abstrakten Bildern“ – trotz aller Dekonstruktion der malerischen Aura durch Zufall und Transparenz des künstlerischen Verfahrens – hinterrücks wieder von einer elegischen Stimmung und Andacht eingefangen worden sei. Die Bilder und ihre Wirkungen bleiben in ihrer Rezeption genauso ambivalent wie die Zweifel und Hoffnungen ihres Schöpfers.
Angefangen hat Richter bekanntlich mit seinen Bildern nach Fotografien. Damals in der DDR durfte allein die Partei als unbestrittene politische Avantgarde über die Richtigkeit von Form und Inhalt des sozialistischen Realismus befinden. Daher musste Richter, wollte er in der DDR als Maler Erfolg haben, sich dem unerforschlichen Willen dieser Partei unterwerfen, auf Kritik mit dem Ritual der Selbstkritik reagieren. Wenn Richter in seiner westdeutschen Gemäldeproduktion seit 1962 sich scheinbar willenlos den unbekannten Intentionen anonymer Fotografen auslieferte, dann empfand er das als entlastend. Das Foto als Readymade befreite ihn von der Qual, originell zu sein: „nichts erfinden, keine Idee, keine Komposition, keinen Gegenstand, keine Form – und alles erhalten: Komposition, Gegenstand, Form, Idee, Bild“.
Die Verwendung von Schwarz-Weiß und der Unschärfe als damals immer noch signifikante Erkennungsmerkmale der Fotografie benutzte Richter nicht mit der Absicht einer Verfremdung und Relativierung der Realität, sondern im Sinne von Wolf Vostells Prinzip „Verwischen um klar zu sehen“. Entgegen aller Medientheorie betrachtete Richter die Fotografie naiv und provokativ als „das einzige Bild, das absolut wahr berichtet, weil es ›objektiv‹ sieht; ihm wird vorrangig geglaubt, auch wenn es technisch mangelhaft ist“.

Doch Richters Aussagen, seine Fotovorlagen seien Zufallsfunde, willkürlich und bedeutungslos, erweisen sich bei näherer Betrachtung als Tarnung. Unter den mehr als 130 Gemälden nach Fotos befinden sich ein paar „Kuckuckseier“, die in die scheinbare Nonsenswelt der Trivialfotografie einen brisanten Inhalt transportieren: Richters Familie in der NS-Zeit, die Bilder verbinden persönliche Erinnerung mit Zeitgeschichte. Die Bilder von „Onkel Rudi“ und „Tante Marianne“ waren in den Sechzigern eine Demonstration dafür, dass Malerei möglich war – trotz Duchamp, dem Übervater der Avantgarde. „Ich wollte Retina-Kunst, malerisch, schön und wenn’s sein muss auch sentimental. So was war nicht ›in‹ damals, das war Kitsch.“
Als ein Ernüchterter, der dem Sozialismus entflohen war, wollte er nun eine Malerei ohne Programm, ohne Stil, ohne Anliegen verfolgen. Keine „Absichten, kein System, keine Richtung“ sollte erkennbar sein. Andererseits glaubt Richter, geprägt vom sozialistischen Humanismus der DDR, gleichzeitig unbeirrt daran, dass Kunst „immer im Wesentlichen mit Not, Verzweiflung und Ohnmacht zu tun“ habe. Diesen „Inhalt vernachlässigen wir oft, indem wir die formale, ästhetische Seite zu isoliert wichtig nehmen. Dann sehen wir in der Form nicht mehr den Inhalt, sondern die Form als das den Inhalt Fassende und Zusätzliche. Dabei hat der Inhalt keine Form, sondern ist Form.“ Ob dieser existenzielle Inhalt tatsächlich Richters Formenwelt grundiert, bleibt Glaubenssache. Wer sich auf seine Werke einlässt, entkommt nicht dem Zwiespalt.

Eckhart Gillen hat wichtige Ausstellungen zur deutsch-deutschen Kunst kuratiert. Seine Schriften zum Thema sind Standardwerke

 

DER MEISTER DER INDIFFERENZ

von Eduard Beaucamp

Gerhard Richters Wege sind nach den Schulbegriffen der klassischen Moderne nicht geradlinig verlaufen. Im Gegenteil: Die jähen Sprünge, Wechsel und Widersprüche sind seine Taktik, das abrupte Nacheinander, das gleichzeitige Nebeneinander und sogar Ineinander kontroverser Stilmodi sind seine Methode. Der Zickzackkurs hat die Urteile vielfach flattern lassen. Das quecksilbrige Werk zeigte anfangs Symptome einer Krise; es war vor allem ein Affront gegen den Glaubenskodex der Moderne. Nach der Übersiedlung in den Westen sah der junge Richter seinen Fall als „personifizierte Krise“. Er glaube an nichts und sei gegen fast alles: gegen Ideen und Ideologien, gegen die Wahrheit, den Sinn und die Utopien in der Kunst, gegen die Zukunft und den Fortschritt, gegen Erfindungen, Behauptungen, Anliegen und vor allem gegen jede Form von Ausdruck und Stil.
Doch Richter hat sich in der nihilistischen Zweiflerecke so stabil und feudal wie kein zweiter eingerichtet. Die Zweifel lähmten ihn nicht, sondern setzten eine ironische, bisweilen zynisch anmutende, jedenfalls ungebrochen-robuste Produktivität frei. Zur Bekräftigung, aber auch Überlistung seiner Zweifel spielte der Künstler immer neue Möglichkeiten und Modalitäten der Malerei aus, darunter solche, die sich gegenseitig radikal ausschließen. Kennzeichnend für den „postmodernen“ Status dieser Kunst ist, dass Richter nichts erfindet (die Erfindung steht auf seiner Verbotsliste), sondern die Vorlagen aus dem Fundus zeitgenössischer Ästhetik bezieht, sie neu bearbeitet, steigert und perfektioniert.
Der permanente Modus- und Rollenwechsel hat Richter nicht alt werden lassen. Bei jedem Szenenwechsel konnte er mithalten. Ohne sich jemals zu bekennen oder festzulegen, steuerte er seit den Sechzigerjahren in einem Slalom ohnegleichen Paraphrasen und Kommentare zur Pop-Art und zum Fotorealismus bei, dann zu einer neuen Landschafts- und Historienmalerei, gleichzeitig zum Neobiedermeier mit Kerzenbildern, Stillleben und Mädchenporträts, zur Monochromie und Concept-Art, schließlich zu einem wiederaufflammenden Expressionismus, den er zur leuchtenden Theatralik monumentaler Abstraktionen steigert. In der Dressur der Gegensätze, im Spiel mit den Alternativen triumphiert sein geniales Geschick. Der größte Triumph: Der Kunstbetrieb akzeptiert die Simulationen und Surrogate als Originale und honoriert sie mit Höchstpreisen. Heute ist der über achtzigjährige Maler, bei bescheidenem persönlichem Auftritt, allgegenwärtig und fast allmächtig: Er bricht Kunstmarktrekorde, bespielt die besten Museen und Sammlungen der Welt, dominiert das Foyer des Bundestags, spendet Gläubigen im Kölner Dom das sakrale Farblicht eines Fensters und hat im Dresdner Albertinum, seinem Heimatmuseum, die ostdeutsche Konkurrenz aus dem Feld geschlagen und sich mit säkularem Anspruch in zwei großen Sälen vis-à-vis von Caspar David Friedrich etabliert.

Richters Zweifeln und Taktieren, das Befragen und Offenlassen, das Distanzieren und Verunklären in den Fotovermalungen hat ein paradoxes Fundament. Da die Wirklichkeit jede Gewissheit und jeden Sinn verweigert, hält er sich umso emphatischer an ihren „Schein“. 1989 schreibt er: „Der Schein ist mein Lebensthema“. Der Schein ist der Stoff, aus dem seine Malerei ist. Die Fotografie liefert ihm den perfekten Schein der Realität, der ihm mehr Konkretheit und Gewissheit bietet als die Realität selbst. Auch die verschiedenen Bildmodi, die Richter zitiert und die er wie Vorlagen behandelt, sind Verdichtungen des Scheins und damit das Material, aus dem er seine üppigen malerischen Surrogate entwickelt. Nie hat Richter die radikalsten Zweifel der Moderne, etwa Marcel Duchamps Kampagne gegen die „Physiologie der Malerei“, geteilt. Er sagt von sich selbst, er sei eher ein kreatürlicher als ein kreativer Maler.
Den größten Reichtum an „Schein“ aber lieferte ihm die Fotografie. Richter reiste nicht durch die Welt, sammelte Eindrücke und setzte sich der Realität aus, sondern legte ein Fotoarchiv an, seinen viel gerühmten „Atlas“. Das Publikum favorisierte lange Richters Fotovermalungen, die barocken Stadtpanoramen, die betörenden Landschaften, die inbrünstigen Kerzenbilder oder die smarten Mädchenporträts. Man hielt sich dabei an die realistischen Motive und verkannte die „Schein“-Produkte. Die Verwechslungen führten zu Missverständnissen. Die Interpreten wollten den Sinn, die Tendenz oder Moral, die ihnen der Meister der Indifferenz explizit vorenthielt, in den malerisch traktierten Motiven erkennen. So kam es, dass Fotoverwischungen nach Vorlagen aus Richters Familienalben wie „Onkel Rudi“ (das Foto eines SS-Mannes auf Heimaturlaub) oder „Tante Marianne“ – eine Grisaille mit dem Kinderbild von Richters Tante, eines späteren Opfers der Euthanasie, von deren Schicksal der Künstler aber noch nichts wusste, als er das Bild malte – zu politisch-moralischen Bekenntnisbildern und Widerstandsmanifesten hochgestemmt wurden. Der RAF-Zyklus löste Orgien von Debatten zum Thema Engagement oder Neutralität aus.

Bei heiklen, politisch oder moralisch zugespitzten Sujets hat Richter das Prinzip der Prinzipienlosigkeit und die Indifferenz nicht aufrechterhalten können. Kann man den schwer belasteten RAF-Komplex und den Untergang seiner Akteure teilnahmslos inszenieren und in den Raum stellen? Vollends verbot sich das Jonglieren zwischen Sein und Schein, Wirklichkeit und fotografischem Abbild angesichts der grausamsten Tatsachen des 20. Jahrhunderts, des Holocaust. Hier verbürgen Foto und Film eine unabweisbare Realität. Im Bildarchiv des „Atlas“ vermischte der Künstler noch die ungeheuerlichen Fotos mit Alltagsbanalitäten. Auch er verschanzte sich lange hinter der Nachkriegsausrede, dass diese Realität nicht darstellbar sei. Doch dann wollte er „vermalte“ KZ-Fotos auf die Bildstele im Eingangsbereich des Berliner Bundestags platzieren, scheute aber am Ende zurück und ersetzte sie durch drei banale Farbfelder mit den Bundesfarben. Und in 2015, siebzig Jahre nach dem Ende der Schrecken, legte er vier abstrakten Monumentalbildern Auschwitz-Fotos zugrunde. Unerkennbar sind sie unter düsterer Rakelmalerei begraben. Nicht einmal die Bildtitel verraten, was hier versenkt ist. Der Sinn liegt beim Betrachter: Hat man es mit Erinnerungen, Verdrängungen oder einem fast blasphemischen, demonstrativen Scheitern zu tun?   

Eduard Beaucamp leitete von 1966 bis 2002 das Kunstressort der FAZ. Immer noch ist er das Kunstgewissen der Nation

Service

Diese Beiträge erschienen in

WELTTKUNST 99 / (April) 2015

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